Vergessen Sie's

Was isst du da?", fragte eine schrille Stimme.

Adeline schrak zusammen, so als würden ihre Trommelfelle beinahe von dem unangenehmen Geräusch zerplatzen. Das Quietschen glich dem von Fingernägeln auf einer Schultafel und ließ ihre Finger erstarren. Sie hatte gerade einmal den dritten Bissen genommen, als ihr der Teller aus den Händen glitt.

"Du solltest doch eine Diät halten, Adeline", tadelte Tante Eleanor.

Tante Eleanor hatte sich so sehr bemüht, Adeline in das Kleid zu zwängen. Es würde nur ein paar Bissen brauchen, und das Korsett würde platzen und die Haken würden aufspringen! Welch eine Blamage wäre das?

In einem Ballsaal voller Frauen mit Sanduhrfigur und grazilen, aber eleganten Körpern fiel Adeline auf wie ein bunter Hund. In Tante Eleanors Augen hätte Adeline nichts essen sollen. Überhaupt nichts. Für die nächsten paar Wochen. Eine Frau sollte nicht mehr essen als ein Vogel.

"Mein Gott, schau dir deinen Bauch an, der steht ja fast so weit vor wie deine Lippen. Hab ich dir nicht gesagt, du sollst nicht so schmollen", fuhr Tante Eleanor fort.

Tante Eleanor legte eine Hand auf Adelines Schulter und eine andere hinter ihren Rücken, um die Wirbelsäule der jungen Frau zu strecken.

"Steh gerade", befahl Tante Eleanor. "Weil du dich so benimmst, hat kein Mann mit dir getanzt."

Adeline versteifte sich. "Tantchen, wovon redest du? Ich habe nur..."

"Viscountess Eleanor, sicherlich kann sich Adeline für einen Abend etwas entspannen? Sie hat bereits begonnen, den Kuchen zu essen. Es ist unhöflich, den Teller nicht leer zu machen," eilte Asher ihr zu Hilfe.

Asher hatte beobachtet, wie schnell Sonnenschein zu Sturm werden konnte. Besonders mit ihrem mürrischen Blick und hängenden Schultern.

"Ganz und gar nicht. Adeline hat für heute Nacht bereits genug gegessen", behauptete Tante Eleanor bestimmt. Es war ihre Pflicht, Adeline gut zu verheiraten. Aber wenn Eleanor nicht einmal so etwas Einfaches wie ihren Appetit kontrollieren konnte, wie wollte sie dann die aufsässige junge Frau im Griff behalten?

Adeline war immer noch verwirrt. "Tantchen, was meinst du damit, ich hätte nicht getanzt..."

"Adeline", unterbrach Asher. "Tante Eleanor hat recht", stimmte er langsam zu, fast überzeugt von derselben Ansicht.

Im nächsten Augenblick senkte sich ihr Gesicht, ihre Fröhlichkeit verschwand. "Aber..."

"Es scheint, als ginge der Ball dem Ende entgegen", seufzte Tante Eleanor genervt. "Schon wieder ein verschwendetes Kleid. Was bringt es, dich herauszuputzen, wenn niemand mit dir tanzt?"

Adeline war völlig überrumpelt. Was war hier eigentlich los?! Sie hatte mit jemandem getanzt! Und das ziemlich lange. Ihr Fuß schmerzte von dem Tanz. Er war langsam, aber grob mit ihr, zog an ihr und formte sie nach seinem Willen. Das hätte jeder sehen müssen.

"Schon gut!", keuchte Tante Eleanor. Sie winkte mit ihrer Hand, als würde sie ein Haustier wegscheuchen. "Bediensteter, bring sie zum Auto und sieh zu, dass sie nicht davonschleicht. Ich komme gleich."

Ashers Gesichtsausdruck verdunkelte sich bei dieser Anrede. Bediensteter. Um Adelines willen hielt er den Mund. Er drehte sich auf dem Absatz um und nickte in ihre Richtung.

"Komm, Prinzessin", zischte Asher.

Adeline bemerkte seine angespannten Schultern, die verhärteter als üblich waren. Seine Hände waren zu Fäusten geballt und zwei Nuancen heller als seine gebräunte Haut. Er war wütend, und ihr Herz klopfte vor Angst. Nicht seinetwegen.

"In Ordnung", flüsterte Adeline mit einer Stimme, die ein Echo eines Geistes zu sein schien. Er hörte sie nicht.

Adeline schritt davon, Asher unmittelbar an ihrer Seite. Die ganze Zeit über hielt sie den Kopf gesenkt und die Hände in die Taille gestützt. Sie wollte Tante Eleanor keinen weiteren Grund geben, sie zu rügen. Sie würde sicherlich für das Essen eine kräftige Ohrfeige erhalten.

Die Flure hallten wider vom Klang hochhackiger Schuhe und poliertem Leder. Im Hintergrund gab es ein leises Summen. Als Adeline vorbeiging, wurden die Flüstern lauter. Wenn auch nur für einige wenige mit scharfen Augen, die hinter die Fassade blicken konnten.

- - - - -

"Asher", murmelte Adeline zitternd seinen Namen. Auf ihrer Zunge klang er fast verboten, obwohl sie ihn als Kind oft gerufen hatte. Doch ihre Erinnerungen waren nun verzerrt, denn seitdem waren Jahre vergangen.

"Du hast mich mit diesem Mann tanzen sehen, nicht wahr?" fragte Adeline.

Adeline stand neben dem schnittigen schwarzen Auto, das sie zum Ball gefahren hatte. Es war ein großer Van, ähnlich denen, in denen hochkarätige Hybrid-Prominente fuhren.

Die beliebtesten Schauspieler und Schauspielerinnen waren Vampire. Es würde erklären, warum sie so umwerfend und wunderschön waren. Menschen kamen niemals an sie heran.

Hunderte von menschlichen Berühmtheiten waren nicht so viel wert wie ein einziges Haar auf dem Kopf der schillernden Vampire. Wer würde es wagen, sich der überlegenen Spezies entgegenzustellen?

"Ist dir kalt?", fragte Asher, dessen warme, verehrende Stimme von Sorge erfüllt war.

Der Mond schlich über sie hinweg und warf ein fahles Licht auf ihre cremeweiße Haut. Er sah die Gänsehaut, die sich über ihr Schlüsselbein, das Tal ihrer Brust und ihre dünnen Arme verteilte."Du bist zu zart, um mitten im Winter nur ein Kleid zu tragen", fügte Asher hinzu und streifte sein schwarzes Sakko ab.

"Asher—"

"Was hat sich die Viscountess Eleanor nur dabei gedacht, dir keinen Schal zu geben?" Asher schnaubte.

Asher legte ihr mit leichter Hand das Jackett über die zitternden Schultern und unterdrückte ein Lächeln. Sie sah darin aus wie ein Kind, das sich in die Kleidung seines Vaters versteckt. Es war entzückend.

Ashers Blick haftete an ihr. Normalerweise konnte er sie sowieso nicht aus den Augen lassen, aber sie in seinem Jackett zu sehen, war etwas ganz Besonderes. Sorgfältig knöpfte er das Sakko zu, damit sie ordentlich bedeckt war.

Adeline versteifte sich und blickte auf sein Jackett herab. Sie öffnete den Mund, um etwas zu sagen, doch er wollte keine weiteren Worte hören.

"Ich bitte um Entschuldigung, dass ich dich vorhin 'Prinzessin' genannt habe", sagte Asher ernster und aufrichtiger. "Ich war ein wenig verärgert, obwohl mir das nicht zusteht."

"Warum warst du verärgert?" fragte Adeline. Da er ihre vorherige Frage nicht beantworten wollte, lenkte sie das Gespräch auf wichtigere Themen – sein Wohlbefinden.

Seine Trauer schmerzte auch sie. Seine Traurigkeit war ihre Melancholie.

"Ich war nicht auf dich böse."

Adeline hatte das nicht behauptet.

"Ich war wütend auf mich selbst", erklärte er.

Adeline wollte den Eindruck nicht loswerden, er sei immer noch verstimmt ihr gegenüber. Warum sonst sollte er ihre dringende Frage ignorieren? Dennoch hatte er ihr seine Jacke angeboten. Heißt das, seine Frustration hatte nachgelassen?

Seine gewöhnlich freundlichen Gesichtszüge waren von Unzufriedenheit gezeichnet. Er atmete bedacht aus und zupfte an der Schulter seines Jacketts, das er so angepasst hatte, dass es ihren Hals bedeckte.

Bei so vielen abscheulichen blutsaugenden Kreaturen in der Nähe, hätte Asher lieber nicht, dass sie sie wie frisches Fleisch anstarrten. Zahlreiche Vampire schritten an ihnen vorbei, jeder warf ihr einen aufdringlichen Blick zu. Einige verspotteten sie, andere blinzelten nur.

"Vergiss es", knirschte Asher zwischen den Zähnen.

Adeline runzelte die Stirn. Hatte er einen inneren Konflikt und ihn verloren? Asher war normalerweise nicht so kurz angebunden. Was war geschehen? Sonst war er geduldiger und herzlicher als jetzt.

Seine vollen Lippen waren zu einer Miene des Missmuts verzogen, seine schokoladenbraunen Augen so dunkel wie bittere Schokolade. Sie hätte ihn gerne zu weiteren Antworten gedrängt, wusste jedoch, dass er sie erneut abweisen würde.

Ihre Beziehung war eigenartig. Sie war nicht wie zwischen Leibwächter und Herr, sie konnte ihre Beziehung nicht beschreiben – auch wenn er klargestellt hatte, dass sie nur Freunde waren.

"In Ordnung", sagte Adeline kleinlaut. Sie wollte die Grenzen nicht überschreiten und seine Laune weiter verderben. Zudem war es ja nicht so, als wäre er unhöflich gewesen.

Asher war einfach schlechter Laune. Das war alles.

Ohne Vorwarnung streckte Asher seine Hand aus.

Adeline zuckte zusammen, schloss die Augen und wartete auf einen Schlag, der nie kam. Ihr Herz pochte gegen ihre Rippen, das Blut rauschte in ihren Ohren. Sie holte zitternd Luft.

Asher hatte nicht vor, sie zu schlagen. Das hatte er nie und wird er nie tun.

"Es tut mir leid, habe ich dich erschreckt?" flüsterte Asher. "Ich wollte nur den Kragen des Anzugs richten, damit dein Hals richtig bedeckt ist."

Adeline nickte unsicher und faltete ihre Finger ineinander, um sie vor dem Zittern zu bewahren. Als Asher den Kragen seines Jacketts zurechtrückte, erblickte sie Tante Eleanor.

Unbewusst umklammerte Adeline ihren Bauch.

Sie sah, wie Tante Eleanor einige Worte mit einem Herrn vor den riesigen Toren des Schlossportals wechselte. Säulen stützten einen Marmorbogen, über dem das Wappen des Adelshauses Highmore prangte.

"Was ist los?" fragte Asher. Was hatte ihre Aufmerksamkeit so gebannt?

Plötzlich lief ihm ein kalter Schauer über den Rücken. Er drehte den Kopf und suchte nach der Quelle des Übels. Er spürte es, einen tiefen, verwurzelten Hass und Blutdurst.

Wer war es? Und warum hatte er es auf die naive kleine Adeline abgesehen?