Filfthy

Asher betrachtete seine Umgebung. Sie standen nahe an den großen, eindrucksvollen Toren des Schlosses. Hohe, goldene Laternen erleuchteten den Weg für verirrte Wanderer in der sternengesprenkelten Nacht.

Ein Weg aus weißem Stein führte direkt zum Haupteingang des Schlosses vorbei an einem majestätischen Marmorbrunnen und einem noch imposanteren Garten. In der Luft lag der Duft von blumiger Süße und Vanilleessenz, wie ihn die Vampire gern verwenden.

Ohne zu zögern machten sich alle auf den Weg zu ihren Autos. Sie stiegen mit der Anmut und Selbstsicherheit erfahrener Wesen ein, Menschen wie Vampire gleichermaßen.

Asher hatte die Mehrheit der Gäste sorgfältig geprüft. Sie waren alle von hohem Ansehen, die meisten von ihnen Vampire, die zu dem obersten ein Prozent gehörten.

"Steigen Sie ins Auto", befahl Asher.

Seine Stimme duldete keinen Widerspruch.

Adeline blinzelte verwirrt. Für den Bruchteil einer Sekunde wirkte Asher, als wäre er zum Töten bereit. Um ihn nicht herauszufordern, stieg sie in das hohe Fahrzeug. Es war warm im Wagen, der Fahrer hatte schon die Heizung eingeschaltet. Verglichen mit der Eiseskälte draußen, war es hier drinnen weitaus sicherer.

"Wirst du mir Gesellschaft leisten?" fragte Adeline leise. Musste er etwas nachforschen? Wieso?

Menschen und Vampire hatten einen Pakt geschlossen. Keine der beiden Spezies würde die andere angreifen oder verletzen. Die Millionen Toten des Artefaktenkrieges vor zwei Jahrhunderten legten davon Zeugnis ab. Aber in letzter Zeit gab es viele mysteriöse Todesfälle in der Stadt... alles junge Frauen.

"Ich werde die Vizegräfin Eleanor holen und dafür sorgen, dass ihr beide sicher nach Hause kommt", erklärte Asher. Er drehte sich bestimmt zu ihr. "Bleiben Sie hier drinnen und verlassen Sie den Transporter nicht."

Adeline nickte. Sie hatte ohnehin nicht vor, es zu tun. Sie war nicht durch törichten Mut angetrieben, jemanden zu retten, obwohl sie die Fähigkeiten dazu besaß. Wenn sie nur nicht so schwach wäre... Dann würde sie vielleicht nicht bei dem Gedanken zittern, jemandem Schaden zufügen zu können.

Das machte die ihr gestellte Aufgabe so unmöglich. Adeline senkte den Kopf. Ihr Onkel würde wütend sein. Es gab nur eine einzige Forderung: Töte den Vampirkönig. Wie auch immer, sie musste es durchführen.

Eine Selbstmordmission.

Das war genau das, was ihr Onkel von ihr – einem Mädchen, das Gewalt verabscheute – verlangte. Er sprach damit ihr Todesurteil aus. Der Grund dafür war offensichtlich.

"Ein Leben für ein Leben", flüsterte Adeline zu sich selbst.

Es war das Leben des Königs für ihres. Ihr Onkel hatte versprochen, sie von ihrer Verwandtschaft zu befreien. Sobald sie ihre Freiheit wiedererlangte, würde er den Kontakt zu ihr abbrechen. Er würde alles in seiner Macht Stehende tun, damit niemand ihren Aufenthaltsort herausfinden würde.

"Was soll ich jetzt bloß tun?" seufzte Adeline. Sie ließ den Kopf auf den Ledersitz sinken und schloss die Augen fest.

"Seine Majestät ist nicht einmal zu seiner eigenen Feier erschienen." Frustriert fuhr Adeline sich durchs Haar. Die Dinge liefen nie so, wie sie es sich wünschte.Von überall auf der Welt hätte es ausgerechnet diesen Mann aus der Bar treffen müssen. Es war eine Fehleinschätzung von ihr. Damals war sie betrunken mit einem geliebten Freund unterwegs gewesen, und ehe jemand es merkte, war Adeline in die Nacht hinausgezogen.

Ihre Tugend blieb unangetastet. Dafür sorgte sie selbst.

"Tante Eleanor würde die Welt in die Luft jagen, wenn sie wüsste, was passiert ist", sinnierte Adeline laut.

Sie seufzte schwer. Ihre Schultern wirkten schwer, so wie ihr schlechtes Gewissen. Wer war dieser Mann genau? Sie hatte eine Nacht auf einem warmen Bett mit ihm verbracht, und er hatte sie gehalten, als wäre sie seine Liebste. Dennoch hatten sich ihre Körper nicht vereint und er hatte sie auch nicht geküsst.

"Ich sollte mich fernhalten, wenn ich ihn das nächste Mal sehe", urteilte Adeline. Er war gefährlich. Sie konnte sich nicht einmal an seinen Namen erinnern. Nichts von ihm blieb ihr in Erinnerung, außer seinem unvergesslichen Gesicht.

Der mysteriöse Fremde besaß Gesichtszüge, die selbst die bevorzugten Engel des Himmels beschämen würden. Alleine das Funkeln seiner rubinroten Augen genügte, um sie ins Schwärmen zu bringen. Sein absichtlich sinnliches Lächeln verhieß sündhafte Dinge. Es war schwer, ein solches Gesicht zu vergessen. Vor allem, wenn die Menschen wiederholt hinschauen würden, nur um seine eindrucksvolle Erscheinung zu bestaunen.

"Meine Güte, seine Majestät ist ganz schön unhöflich, aber was erwartet man schon von solch widerwärtigen Kreaturen", beschwerte sich Tante Eleanor. Ihre Stimme wurde um eine Oktave höher, so wie ihre Augenbrauen. Ihre ledrigen Lippen pressten sich zu einer festen Entschlossenheit zusammen.

"Er taucht weder im Ballsaal auf, noch hält er eine Eröffnungsansprache. Was für eine Enttäuschung", murrte Tante Eleanor. Sie hob ihr Kleid an und kletterte mit Ashers Hilfe in den Wagen.

"Ich hätte den Gerüchten Glauben schenken sollen. Es heißt, das sei üblich", fügte Tante Eleanor missmutig hinzu. Ihre Bewegungen waren abrupt, ihre Schultern angespannt. Sie war mehr als nur verärgert.

Heute hatte Tante Eleanor ein kleines Vermögen ausgegeben, um Adeline dieses schöne smaragdgrüne Kleid zu kaufen. Die Farbe passte zu Adelines Augen - ein abscheuliches Neidgrün. All das Geld der Welt würde Adeline keinen passenden Verehrer bescheren. Sie war einfach zu schüchtern und zu unbeholfen.

"Und du", fuhr Tante Eleanor ihre Nichte scharf an. "Wo warst du die halbe Nacht über? Ich drehe mich um und plötzlich bist du verschwunden!"

Da war es wieder. Dieses merkwürdige Gespräch. Adeline war verwirrt. "Ich war auf dem Balkon, dann habe ich ..."

"Die Sicherheit ist gewährleistet", unterbrach Asher sie. Er warf Adeline einen mahnenden Blick zu und forderte sie auf, still zu bleiben. Ihr verzweifelter Gesichtsausdruck wurde ignoriert.

"Wir können zum Anwesen zurück", fügte Asher hinzu.

Asher riss die schwarze Schiebetür kräftig auf. Automatisch schob sie sich an ihren Platz. Asher setzte sich auf den Beifahrersitz, nachdem er seine beschlagnahmten Waffen zurückgeholt hatte. Gewehre, Messer und allerlei andere Gegenstände waren im Schloss verboten und wurden eingesammelt und nach Familiennamen sortiert.

Durch den Rückspiegel erblickte er Adelines flehendes Spiegelbild. Sie war ein von Neugier strotzendes Kind. Nichts davon wollte er preisgeben. Er hatte herausgefunden, was zuvor geschehen war. Und nichts davon war erfreulich.

Niemand auf der Welt hätte Adeline verdient. Ganz bestimmt kein schmutziger Vampir.