Tag und Nacht

Schloss Luxton.

"Eure Majestät", begann Easton. "Das Mädchen, mit dem Ihr getanzt habt, könnte die – mmf!" Eastons Bruder Weston legte ihm schlagartig die Hand über den Mund.

"Was hast du gerade gesagt?", sinnierte der König. Ein ungewöhnliches Lächeln umspielte seine vollen Lippen. Seine Miene war von unglaublicher Ruhe. Es lag in seiner Natur, die Fassung zu bewahren. Die Welt könnte im Chaos versinken, und er würde seine Emotionen unter Kontrolle halten.

"Nichts", unterbrach Weston seinen jüngeren Bruder scharf. "Ich glaube, Easton hat auf dem Ball etwas Seltsames getrunken", fügte er schnell hinzu.

Easton starrte ihn an... wie oft schon an diesem Abend? Zum zehnten? Zum elften? Zum zwanzigsten Mal?!

Easton befreite seine Mund von Westons Hand. "Ich bin völlig nüchtern, Du bist es, der völlig betrunken ist", zischte er seinem Zwillingsbruder zu.

Um Himmels willen, deshalb nannten ihn die Leute den besser Aussehenden. Easton war nie aus der Fassung zu bringen und zog nie eine finstere Miene. Ganz im Gegensatz zu Weston, dem Spaßverderber, der entweder mürrisch blickte oder finster glotzte. Es gab da kein Mittelmaß.

"Ich meinte, was ich sagte, Eure Majestät", wiederholte Easton.

Easton öffnete den Mund, um weiter zu sprechen, doch eine Hand wurde ihm erneut auf den Mund gedrückt. Er wäre fast an Ort und Stelle erbrochen.

"Er ist geistig umnachtet, Eure Majestät", knirschte Weston. "Lasst mich ihn zum Arzt bringen und ihm ein Medikament verordnen."

Der König ließ ein leises Lachen hören. Dumm und dümmer stritten sich vor seinen Augen. Nun, so dumm konnte ein Genie dieser Nation eben auch sein. Genauer gesagt, Weston. Gott wusste, dass Easton während aller seiner Prüfungen auf mysteriöse Weise eingeschlafen war, bevor er sein Potenzial hätte unter Beweis stellen können.

"Ich meine ja nur, das Mädchen, mit dem du getanzt hast – mmph!" Easton schrie in die Hand seines älteren Bruders hinein.

Kaum hatte Easton sich aus dem unerträglichen Griff befreit, wurde er auch schon wieder hineingezogen.

"Wirst du jetzt endlich Ruhe geben?", zischte er. Er hätte blitzschnell auf die andere Seite des Raumes verschwinden können, aber diese unnatürliche Schnelligkeit nützte nichts gegen Weston. Nicht jeder Vampir besaß dieses Privileg.

Die Macht und Stärke eines Vampirs schwanden, je stärker ihr Blut durch Unreinheiten verunreinigt war. Es gab nicht mehr viele Reinblüter auf der Welt, die noch die Magie ihrer Vorfahren in sich trugen. Aber wie tief diese Linie auch immer zurückreichen mochte, Reinblüter starben nicht eines natürlichen Todes.

"Ich werde es sagen", fauchte Weston seinem Bruder zu. So konnte er zumindest den absurden Gedankengang seines Bruders erklären.

Manchmal wünschte Weston, seine Mutter hätte bei ihm Halt gemacht. Warum nur hatte die Natur ihren Lauf genommen und ihr einen zweiten Sohn geschenkt?

Der König trank gelassen seinen Wein aus einem Kristallglas. Obwohl er nicht lichtempfindlich war, zog er es vor, das Licht auszuschalten. Bei den großen Fenstern im Raum und dem blassen Schimmer des Mondlichts in der Dunkelheit brauchte er es ohnehin nicht.

Der König genoss die Einsamkeit. Sie war tröstlich. Die Schatten waren sein Reich und gehörten ihm. Er beherrschte die Dunkelheit mit großer Leichtigkeit, während andere Reinblüter sich abstrampelten, um Schatten zu bewegen. Vielleicht war das der Grund, warum man ihm den lästigen Titel des Königs verliehen hatte.

Als die Vampire vor einem Jahrhundert den Krieg gewannen, stand er an der Spitze. Er trat aus reiner Langeweile dem Militär bei. Unerwarteterweise kletterte er die Ränge empor, führte die grausame Schlacht an und wurde mit einem prestigeträchtigen Thron belohnt.

"Der Stadt-Trottel neben mir", stieß Weston hervor, "glaubt, das Mädchen, mit dem du getanzt hast, sei die Goldene Rose aus der Prophezeiung."

Der König nippte an seinem Wein. Die Süße des uralten Getränks tanzte auf seiner Zunge und er leckte sich über die Eckzähne. Es war nicht annähernd so süß wie sein kleines Reh. Was für ein bezauberndes Wesen sie doch war.

"Obwohl er jede junge Frau mit auffälligen blonden Haaren und grünen Augen für die Goldene Rose hält", erinnerte Weston. "Wie damals, als er dachte, die neue Schlossdienerin wäre das Mädchen aus der Prophezeiung."

"Das lag daran, dass ihr Name buchstäblich Rosie war und sie zur Beschreibung passte!" rief Easton empört aus.

Weston seufzte tief. Manchmal glaubte sogar er, dass Easton seinen Posten nur durch Vetternwirtschaft bekommen hatte. Wie konnte der Berater Seiner Majestät nur so... so... unzweifelhaft dumm sein?"Die Prophezeiung ist eine schiere Lüge", sagte Weston zur Schau. "Jedes Jahrzehnt murrt der Wächter das Gleiche. Die Goldene Rose soll bei Vollmond im zehnten Monat des Jahres erscheinen. Wir versuchen es nun schon seit fünf Jahrzehnten, und sie ist immer noch nicht aufgetaucht."

Weston presste die Lippen zusammen. "Der Ball ist Verschwendung von Geld und Zeit."

Easton murmelte. "Seiner Majestät fehlt es doch nicht an Geld, um bis in alle Ewigkeit Bälle auszurichten."

Weston warf seinem Bruder einen finsteren Blick zu. Seine burgunderroten Augen leuchteten boshaft. Wenn er die Zeit zurückdrehen und diesen jungen Hund loswerden könnte, er würde es tun. Aber es war schon anderthalb Jahrhunderte her, dass dieser Narr geboren wurde. Es hätte keinen Nutzen, seinen geliebten Bruder loszuwerden, egal wie töricht er auch sein mochte.

"So sehr ich es auch genieße, Dumm und Dümmer vor mir streiten zu sehen, ich werde mich jetzt mit jemand anderem vergnügen", sagte der König schließlich, seine Stimme tief und sanft, wie der Schnaps, den er bevorzugte. Seine Anwesenheit war so berauschend wie Alkohol. Er war sich seiner eigenen Anziehungskraft wohl bewusst.

"Eure Majestät", betonte Weston. "Bitte teilen Sie uns zumindest mit, wohin Sie gehen. Ihr benötigt vielleicht nicht meinen Schutz, aber es ist meine heilige Pflicht, Euch zu beschützen."

Seine Majestät erhob sich vom goldenen Thron mit dem roten Samtbezug. Lässig glitten seine Hände über die Ränder des Schreibtisches. Er betastete das dünne Gold, das auf der ebenen Oberfläche lag.

"Es ist genau so, wie du sagtest", sprach der König gleichgültig. "Mir wird es gut gehen."

Weston öffnete den Mund, um zu protestieren, doch dann klappte er ihn wieder zu. Er hatte einmal geblinzelt, und der König war verschwunden. Ein Fenster stand sperrangelweit offen. Der Wind heulte und zerrte mit seinen Klauen an den Musselinvorhängen, die machtlos dagegen flatterten.

"Weg wie der Wind", stellte Easton fest.

"Wir können versuchen, ihm hinterherzujagen", schlug Weston vor.

"Du weißt, dass das unmöglich ist. Wir mögen zwar Reinblütige sein, aber Seine Majestät ist uns in allem überlegen", entgegnete Easton.

Easton wünschte, es wäre eine Lüge. Doch es stimmte. Seine Majestät war ein Mann, der einen Vortrag über physikalische Theorien halten, eine Wunde nähen, ein Tier zähmen konnte - und das alles in der Hälfte der Zeit eines wirklichen Experten.

Im ganzen Land gab es nur drei Reinblütige, die sich mit dem Luxton-Monarchen messen konnten. Alle anderen waren nur blasse Vergleiche.

"Und denk nicht mal daran, möglichen Spuren nachzugehen. Er hinterlässt nie eine Spur", fügte Easton hastig hinzu.

Weston seufzte erneut. Bei diesem Tempo würden ihm bald die Haare zu Berge stehen. Trotz seines vollen, tiefschwarzen Haars und der Unfähigkeit zu altern, würde er natürlich nicht grau werden. Er machte sich zu viel Stress. Ohne ersichtlichen Grund, und das wäre ganz seine Schuld.

"Nun, wir müssen gehen und die Vorbereitungen für morgen fertigstellen", erklärte Easton. Endlich wirkte er verantwortungsbewusst. Es war nur Spaß in Anwesenheit Seiner Majestät zu scherzen.

"Ach, die Spielereien überlasse ich gerne deinem Ermessen", entgegnete Weston.

Weston winkte ab und machte sich auf den Weg zur Tür. Dekorationen und andere derartige Aufgaben waren nicht sein Fachgebiet. Es war Eastons Steckenpferd, denn er besaß die Geduld eines Heiligen. Es fiel schwer zu glauben, dass sie denselben Mutterleib geteilt hatten.

Wenn sie sich nicht so ähneln würden, könnte man meinen, sie seien einfach enge Freunde. Obwohl sie weniger als zehn Minuten auseinander geboren wurden, hatten Weston und Easton keine identischen Persönlichkeiten. Der eine hatte den Charme eines strengen Lehrers, der andere das Charisma eines verspielten Schulkameraden.

"Genau wie Seine Majestät sagte", murmelte Weston, "unterschiedlich wie Tag und Nacht."

Weston wünschte, er wüsste, wo der König Tag und Nacht war. Den heimtückischen Mann zu finden, war wie der Versuch, im Winter blühende Blumen zu finden. Es war eine Aufgabe, die er nicht mehr in Angriff zu nehmen versuchte.

In dieser besonderen Nacht würde er lernen, sein Handeln zu bereuen.