Er kennt die Antwort

Viscount Sebastian gluckste leise, ein Hauch von Belustigung in seinem Atem. Adelines Dummheit hatte ihm schon lange keine solche Unterhaltung mehr bereitet. Sie war genau wie ihre Mutter: ein hübsches Gesicht ohne Gehirn. Wie konnte eine Närrin wie sie einen Fehler in einem rechtsgültigen Vertrag entdecken?

"S-sofern Sie noch etwas Geduld aufbringen können", versicherte ihm Adeline, "werde ich Ihre Bitte bald erfüllen."

Viscount Sebastian lachte laut. Sein höhnisches Echo ließ Adeline zusammenzucken.

Ihre Augen schlossen sich, getrieben von Angst.

Seine Lippen verzogen sich zu einem Knurren. Ihre ängstliche Reaktion entsprach exakt jener aus vergangenen Tagen, bevor ihre Eltern je auf sie aufmerksam wurden. Es war schon merkwürdig, wie es das Schicksal mit ihnen meinte.

"Was für ein mutiges Mädchen du geworden bist", spie Viscount Sebastian verächtlich aus.

Die Mardens waren immer den Roses ausgeliefert gewesen. Adelines Vater war Kronprinz Kaline von Kastrem. Sie waren Prinzen und Prinzessinnen nur dem Namen nach.

Ein Schloss gab es in Kastrem nicht. Außer dem des Königs durfte kein anderes errichtet werden. Doch die Kronprinzen und -prinzessinnen wohnten in riesigen Anwesen, die ebensogut Schlösser sein könnten.

Das ausgedehnte Land von Kastrem war wertvoll, bevölkert von großen Minen, aus denen seit Jahrzehnten kostbare Edelsteine gefördert wurden. Die Minen waren Quelle des Reichtums der Familie Rose.

Kronprinz Kaline war unerhört reich. Sein Vermögen sollte Adeline zukommen, sobald sie einundzwanzig wurde. Ein ungewöhnliches Alter, normalerweise erbten Kinder mit achtzehn.

Als wüsste Prinz Kaline, dass sein Ende kam und dass es Auseinandersetzungen um Adelines Vermögen geben würde. Warum sonst diese drei Jahre Verzögerung? Worauf wartete er?

"Schön", sagte Viscount Sebastian ungeduldig. Zwei Tage konnte er noch warten. Der Ball dauerte drei Tage, der erste war bereits verstrichen. Bald würde Adelines Vermögen ihm gehören.

Ein selbstzufriedenes Lächeln umspielte seine Lippen, als er sah, wie sie das Papier sorgsam auf seinen Schreibtisch zurücklegte. Eine Frau ihres Standes und Blutes, die sich demütig verneigte wie eine Dienerin. Dieser Anblick entzückte ihn.

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"Adeline?" rief Asher durch den Flur.

Asher hatte überall nach ihr gesucht. Vom ersten bis zum fünften Stock des Anwesens gab es nicht das kleinste Eckchen, das er ausgelassen hatte.

"Hat er dich wieder in sein Arbeitszimmer gerufen?", fragte Asher scharf, als er sie erreichte. Er wusste, dass Viscount Sebastian Frauen schlecht behandelte. Dieser Ort hier war ihr wahrscheinlichster Aufenthaltsort.

Adeline war sichtlich erschüttert, die Augen weit aufgerissen. Sie taumelte, fing sich aber im letzten Moment.

Anblick ihres Zustands ließ Ashers Blut kochen. Hatte dieser verdammte Viscount ihr erneut Leid zugefügt? Was glaubte dieser Mann, wer er war, so etwas tun zu dürfen? Adeline war doch eine Prinzessin!

"Asher", flüsterte sie, "ich muss es tun."

Ashers Zorn wich einer vorübergehenden Verwirrung. Er begriff nicht, was sie murmelte.

"Wovon sprichst du?", fragte er in hartem Tonfall und zuckte dann zusammen, da er selbst seine Strenge spürte.

"Er hat zugestimmt", murmelte sie.

Adeline näherte sich Asher, ein Wirrwarr der Emotionen. Stand etwa zum ersten Mal das Glück auf ihrer Seite? Hatte der kaltblütige Viscount tatsächlich eingewilligt? Oder machte er ihr nur falsche Hoffnungen, um sie später zu enttäuschen?

Sie konnte es nicht begreifen. Der Gedanke quälte sie mehr, als sie es wahrhaben wollte.

"Asher, du wirst doch immer bei mir sein, nicht wahr?", fragte sie.

Warum war das überhaupt eine Frage, fragte sich Asher verwundert. Seit sie fünf und er zehn war, war er an ihrer Seite. Kein Tag verging, an dem er die weinende Prinzessin nicht begleitete. Bei der kleinsten Kleinigkeit flossen Tränen und sie klammerte sich an ihn.

Adeline hatte nun seit einem Jahrzehnt nicht mehr geweint. Nicht einmal bei ihrer Eltern Beerdigung. Auf dem Grab ihrer Eltern war sie gezwungen, erwachsen zu werden, ihre Augen waren ausgetrocknet wie ihr Herz.

Seit sie zehn Jahre alt war, hatte Adeline gelernt, keinem einzigen Erwachsenen zu trauen. Sie waren alle böse, insbesondere die, die ihr am nächsten standen, die am hellsten lächelten, die ihr liebevoll über den Kopf streichelten.

"Natürlich werde ich das, Adeline", versprach Asher. "Wohin sollte ich auch gehen?"

Adeline schluckte. "A-auch wenn ich jemanden töten müsste?"Asher blinzelte. "Ist das überhaupt möglich?"

Er war amüsiert über ihre erstaunlichen Worte. Der Tod war keine einfache Angelegenheit und Mord war absolut nicht hinnehmbar. Vor allem nicht in ihrer Zeit, in der der Tod vor Geschworenen und vor Gericht verhandelt wurde. Was hatte sie sich nur dabei gedacht?

War Adeline in der Lage, ein Messer mit ihrem zierlichen Handgelenk zu heben? Besaß sie wirklich den Mut zu töten? Sie hatte doch früher sogar beim Töten einer Fliege geweint.

"Es wirkt fast so, als hättest du Alkohol getrunken, als ich den Kuchen geholt habe", scherzte Asher. "Du musst betrunken sein, Adeline. Komm, ich bringe dich zurück in dein Zimmer."

Adelines Schultern fielen enttäuscht herab. Glaubte denn niemand an sie? Sogar ihr nächster Freund hielt sie für zu schwach, um jemandem etwas anzutun. Das traf vielleicht zur Hälfte zu. Aber dennoch. Konnte er nicht auch etwas Vertrauen in sie setzen? So wie sie ihm vertraute?

"Asher", sagte Adeline zögerlich, während sie ihm zurück in ihr Zimmer folgte.

"Ja?"

"Warum hat Tante Eleanor behauptet, sie hätte mich mit niemandem tanzen sehen? Dabei habe ich wirklich—"

"Adeline", mahnte er und drehte sich zu ihr um.

Adeline blieb abrupt stehen, gerade so, dass sie nicht mit ihm zusammenstieß. Zum Glück war sie schnell genug. Sie wollte sich nicht an seinem muskulösen Rücken den Kopf stoßen. Das würde weh tun.

"Der Mann, mit dem du getanzt hast, ist ein Vampir", offenbarte er. "Vielleicht hält Madam Eleanor ihn für keinen adäquaten Heiratskandidaten und möchte so tun, als wäre dieses Ereignis nie geschehen."

Adeline nickte. War das der Grund für Tante Eleanors entsetzten Blick, als sie mit dem Fremden getanzt hatte? Ihr Bauchgefühl sagte ihr etwas anderes.

"Aber Tante Eleanor meinte, sie hoffe, dass ich die Aufmerksamkeit Seiner Majestät erregen könnte", sagte sie. Es gab eine Lücke in Ashers Geschichte, die keinen Sinn machte.

"So sehr Tante Eleanor Vampire auch verabscheut, sie würde nicht so etwas Absurdes sagen", führte Adeline weiter aus.

Tante Eleanor war einfach eine strenge Kritikerin. Sie bemängelte stets, was auch immer Adeline tat, wie alle anderen auch.

Adeline würde gerne glauben, dass es aus Liebe geschah. Menschen, die einander sorgten, mussten irgendwie ihre Sorge zeigen. Tante Eleanors Absichten waren vielleicht gut, aber ihre Taten waren es nicht.

"Ich wünschte, ich könnte Gedanken lesen, Adeline", sagte er geduldig, als würde er einem kleinen Kind ein einfaches Konzept erklären. "Aber ich bin kein Ungeziefer—"

"Vampir", korrigierte sie. "Beleidige sie nicht..."

Asher unterdrückte ein Lachen. Sie waren Monster. Sogar Dämonen. Warum war sie so zuvorkommend gegenüber der Rasse, die Menschen unterdrückte? War ihr nicht bewusst, in welcher Lage sie sich befand?

"Ungeziefer, Vampir, alles dasselbe", beharrte er. "Das Wichtige ist, ich kann nicht erraten, was Madam Eleanor denkt. Ich kann nur Vermutungen anstellen. Du musst sie schon selbst fragen."

Adeline runzelte die Stirn. "Aber Vampire können keine Gedanken lesen. Das machen sie nur in fiktiven Romanen."

"Du weißt, was ich meine", murmelte Asher. "Wenn du es wissen willst, musst du Tante Eleanor fragen."

Das war das Problem. Adeline konnte Tante Eleanor nicht fragen. Die ältere Dame würde nur darüber dozieren, einen Freier zu finden. Eine Belehrung jagte die nächste. Mal ging es um das Essen, mal um Adelines Haltung. Dies und das. Es war manchmal überwältigend und verletzte sie zutiefst.

In den Augen von Tante Eleanor war alles, was Adeline tat, falsch.

Adeline hatte zwar ein dickes Fell, aber es wurde dünn, wenn die Verwandten sie beschimpften. Ihre Meinung war ihr nicht egal. Letztlich trafen sie ihre Kommentare immer.

"Dann eben nicht", erwiderte Adeline kleinlaut.

Sie würde das Thema lieber fallen lassen, als Tante Eleanor darauf anzusprechen. Zudem knurrte ihr Magen und Adeline wurde von Minute zu Minute mürrischer. Sie verhungerte, konnte aber nicht essen.

Adeline schlüpfte wortlos an ihm vorbei und steuerte zielstrebig auf ihr Zimmer zu. Sie ärgerte sich darüber, dass er sie wie ein kleines Kind behandelte.

'Er kennt die Antwort', dachte sie bei sich. 'Ich bin mir sicher, dass er das tut. Warum sonst würde er heute Abend versuchen, das Thema zu wechseln?' fragte sie sich.

Das war seltsam.

Und niemals in ihren wildesten Träumen hätte Adeline mit der Wahrheit rechnen können.