Eure Majestät

Adeline verstand nicht, was mit "Goldene Rose" gemeint war. Es klang in ihren Ohren seltsam vertraut, doch ihre Erinnerung wurde von der Zeit vernebelt. Sie neigte ihren Kopf und wartete darauf, dass die alte Frau mehr erzählte.

Die lederartigen Lippen der Großmutter formten ein zartes, besorgtes Lächeln. Ihr Blick wurde sanfter und ihre alte Haut legte sich über das helle Grau ihrer Pupillen wie ein Nebelschleier. Sie faltete ihre Hände vor sich und offenbarte abgewetzte Goldarmbänder. Einige waren sogar mit bunten Perlen besetzt und verliehen ihrer plötzlichen Erscheinung eine mystische Note.

"Wie die Mutter, so die Tochter. Ihr beide habt ein Schicksal gewählt, das gegen die Wünsche des Himmels verstößt."

Adeline blinzelte. "Du kanntest meine Mutter, nicht wahr? Was—"

"Siehst du, deine Mutter stand einst genau in diesen Hallen und jagte der Dunkelheit nach, während sie vergaß, dass sie ein Kind des Lichts war."

Adelines Stirn runzelte sich. Die alte Frau sprach in rätselhaften Andeutungen. Ein Kind des Lichts? Sie wollte noch etwas sagen, doch die Großmutter legte einen verwelkten Finger auf ihre Lippen.

"Je mehr du sprichst, umso mehr hören dich die Sünder."

Adeline war verwirrt. Sünder...? Aber die einzigen Personen, die sie auf diesem Gang gesehen hatte, waren Tante Eleanor und der Herr in Schwarz-Weiß. Auf wen bezog sich die alte Frau?

"Wenn du in der Vergangenheit verweilen möchtest, kannst du auch rückwärts gehen."

Doch Adeline war bisher immer vorwärts gegangen...

"Dort", deutete die alte Frau über Adelines Schulter.

Adeline drehte sich um. Tatsächlich zeigte sich ein Lichtschimmer am Ende des dunklen Korridors. Die Doppeltüren schienen einen kleinen Spalt geöffnet zu sein. Als sie sich jedoch umwandte, um der Großmutter zu danken, war diese verschwunden.

Ein Schauer lief Adelines Rücken hinunter. Sie kannte diesen Ort und seine eigenartigen Bewohner nicht.

"T-Danke", brachte sie endlich stotternd hervor.

Sie drehte sich um und eilte dem Licht am Ende des Gangs entgegen. Ihre Hände stießen die Türen sanft auf, und ihre Augen weiteten sich überrascht.

Der Ballsaal war leer.

Wo waren alle hin?

Adeline trat von der Dunkelheit ins Licht. Sie schaute sich im enormen Ballsaal um, dessen teure Vorhänge und gewaltige Decken ein beeindruckendes Bild abgaben. Als sie nach oben blickte, erblickte sie die wunderschönen Darstellungen von Engeln und Göttern, eingehüllt in weiche, wallende Wolken, blasspastellfarbene Gewänder mit weißen, goldenen Verzierungen - der ganze Ort war wie ein Gemälde.

Doch als sie blinzelte, entfalteten die Engel schwarze Schwingen und kleine Hörner blitzten in ihrem goldenen Haar auf. Plötzlich schienen die Götter und Göttinnen im Krieg, ihre anmutigen Lächeln in Hohn verzerrt.

"Was…"

Mit einem weiteren Blinzeln kehrte alles zur Normalität zurück.

Adeline war verängstigt. Sie hatte gerade einen unheimlichen Gang durchschritten und kehrte in einen leeren Ballsaal zurück. Was war hier nur geschehen?

Aus dem Augenwinkel bemerkte sie Diener, die hastig in den Ballsaal strömten. Ihre Schritte waren leicht und leise, sie bewegten sich mit großer Geschicklichkeit und Effizienz und trugen Besen, Wischmopps, Eimer, Staubwedel und Staubsauger.

"Äh, entschuldigen Sie bitte...", Adeline stockte, als sie sich einem von ihnen näherte. Männer wie Frauen trugen Hosen - es war praktischer.

"Oh je", entfuhr es einem der männlichen Diener.

Der männliche Diener war erschüttert von dem Anblick der Gästin. Ihm war gesagt worden, dass alle Gäste das Schloss vor einer Stunde verlassen hatten. Er hatte nicht erwartet, eine solch schöne Frau vorzufinden.

Ihr schüchternes Aussehen und ihre grünglitzernden Augen waren von einer solchen Eleganz, dass er mehrmals blinzeln musste, um sich zu sammeln. Sie war also ein Mensch.

"Wie kann ich der geehrten Gästin behilflich sein?", fragte er höflich.

"Sind schon alle fort...?"

"Ja, geehrte Gästin. Alle sind vor etwas mehr als einer Stunde nach Hause gegangen."Adeline war verwirrt. Ihr Magen krampfte sich unbehaglich zusammen bei der Antwort. Es konnte nicht sein, dass sie so lange in den Fluren gewesen war. Höchstens zehn oder fünfzehn Minuten waren vergangen. Aber eine ganze Stunde? Das überstieg ihre kühnsten Vorstellungen.

"Soll ich Sie nach draußen begleiten, geehrte Gästin? Vielleicht wartet Ihre Begleitung bereits auf Sie."

Adeline nickte sofort. Doch zuerst warf sie einen heimlichen Blick auf den Diener. Auf seiner Brusttasche war das gestickte Bild einer dornenbewehrten Krone zu sehen. Das Symbol der Luxton-Familie.

Er war ein vertrauter Diener des Schlosses.

Sie entspannte die hochgezogenen Schultern ein wenig. "Ja, bitte", sagte sie sanft.

Der Diener verneigte sich zustimmend. Jeder der in den Ballsaal eingeladen wurde, war eine Person von Reichtum oder Macht. Andernfalls konnten sie nur davon träumen, eingeladen zu werden. Die hier Versammelten waren elitärer, als man sich vorstellen konnte, gerade die schillernden Töchter mit feinen Gesichtszügen. Immerhin wurde hier nach einer geeigneten Frau für eine Heirat mit Seiner Majestät, dem König, Ausschau gehalten.

Der Diener wagte es nicht, jemanden zu missachten. Selbst wenn sie nur ein Mensch war.

"Kommen Sie, geehrte Gästin—"

"Das wird nicht nötig sein, Marlow."

Der Diener richtete sich auf, überrascht von der ruhigen und gesammelten Stimme. Die Temperatur um sie herum fiel unter den Gefrierpunkt. Wenn möglich, bildeten sich trotz des warmen Herbstes Eiszapfen an den Decken des Ballsaals.

"Majestät!" Marlow grüßte eilig. Er verneigte sich noch tiefer, so weit sein Oberkörper es zuließ. Er begann in seinen Schuhen zu zittern. Es gab erschreckende, teuflische Gerüchte um den tyrannischen König.

Niemand wagte es, ihn zu kränken, denn niemand lebte danach, um davon zu erzählen. Mord war eine Straftat, die Gefängnis verdiente, aber wer würde es wagen, einen der mächtigsten Reinblütigen der Welt zu stellen?

Die eisigen Augen Seiner Majestät überflogen die Szenerie. Sein Blick verengte sich auf Adeline. Was tat sie hier? Er hatte gedacht, sie sei in die Nacht entschwunden. Er ließ Personen am Ausgang des Saales postieren, um sie aufzugreifen. Aber sie erschienen mit leeren Händen und behaupteten, eine Frau mit auffälligen gelben Haaren und strahlend grünen Augen wäre nirgends zu sehen.

"Marlow, geh zu deinen Kollegen", sagte Seine Majestät kühl. Seine Stimme war kurz angebunden und ließ keinen Raum für Diskussionen - nicht, dass jemand es gewagt hätte.

Marlow brauchte die Anweisung nicht zweimal. Er nickte eilig und lief davon, wie ein verängstigtes Tier, das aus einer schrecklichen Falle entkommen war. Er sammelte eilig die Mopps auf und setzte seine Arbeit fort.

"Elias—Majestät", korrigierte sie sich schnell.

Adeline hielt die Seiten ihres Kleides fest. Sie war zu beunruhigt von seinem Anblick, um sich um Falten zu kümmern. Tante Eleanor würde ihr später eine Standpauke halten. Aber sie brauchte eine Ablenkung von seinem imposanten Titel.

Er warf ihr einen gefühllosen Blick zu. Ohne Vorwarnung drehte er sich um und ging davon.

Adeline stand da wie ein verlorener Schatz. Sie blickte mürrisch auf den Boden und fragte sich, ob er sie hier zurücklassen würde. Sie müsste sich durch dieses riesige Schloss kämpfen, um den Ausgang zu finden. Aber wenn ihr Gedächtnis sie nicht täuschte, würde sie ihn ohne allzu große Schwierigkeiten finden.

"Stehen Sie nicht einfach da wie ein verlassenes Haustier."

Adeline hob den Kopf, leicht erfreut über seine Worte.

"Beeilen Sie sich, mein verwirrter Bürger."

Adelines Schultern sanken enttäuscht. Bürger...? Es war ein passender Ausdruck, doch sie war nicht daran gewöhnt. So furchtbar unoriginell auch sein Spitzname für sie war, sie mochte ihn weitaus lieber als das kalte "Bürger".

Als Elias sah, wie sie da stand wie eine Närrin, seufzte er leise. Er blieb direkt vor ihr stehen. Sie wich nicht mal einen Schritt zurück.

"Kommen Sie", forderte er sie auf.

Adeline unterdrückte das unangemessene Bild, das in ihrem Kopf aufblitzte. Er reichte ihr eine große, schwielige Hand entgegen. Sie betrachtete sie und erinnerte sich daran, wie sie sich auf ihrer weichen Haut angefühlt hatte. Mit zögerlicher Langsamkeit legte sie ihre Hand in seine Handflächen. Sofort umschlangen seine Finger ihre kleinen.

Seine Hand war kalt. Es war, als hätte sie die erste Schneeflocke berührt. Aus irgendeinem Grund machte ihr das nichts aus. Ihre Finger waren warm von ihren festen Fäusten. Feuer und Eis. Zusammen hielten sie ein Gleichgewicht.

"Das ist brav", neckte er sie.

Er zog sie sanft vorwärts und gemeinsam schritten sie auf den Ausgang des Ballsaales zu. Eine Stille legte sich über sie. Aus irgendwelchen Gründen störte sie die Stille nicht.