Golden Rose

Adeline wartete noch einige Minuten, bevor sie schließlich den Balkon verließ. So würde niemand den Verdacht hegen, dass sie und Elias zusammengehörten. Sie war sich nicht sicher, ob er wie ein gewöhnlicher Mann lief oder regelrecht durch den Raum schwebte. Wie auch immer es war, alle wussten Bescheid.

Das konnte sie an den durchdringenden Blicken erkennen, die von Burgunderrot bis Orangebraun reichten. Vampire. Sie waren sich alle vollkommen bewusst, mit wem sie gesprochen hatte. Und vielen schien das nicht zu passen.

"Adeline", tadelte Asher, als er sie erblickte. "Wo warst du?"

Misstrauisch musterte Adeline ihre Umgebung. Im Hintergrund spielte Musik, Menschen tanzten auf der Tanzfläche und lebhafte Gespräche erfüllten die Luft. Aber es schien, als seien alle Blicke auf sie gerichtet - bis auf die der wenigen anwesenden Menschen, die die aktuellen Umstände nicht kannten.

"An der frischen Luft", gab Adeline zu.

Adelines Magen knurrte, und sie spürte, dass ihre Geduld am Ende war. Wenn sie hungrig war, konnte sie sehr unangenehm werden, was leider oft auf dem Anwesen der Mardens vorkam.

Ein leichtes Stirnrunzeln erschien auf Ashers Gesicht. Seine Finger waren vor Anspannung kreidebleich um den Teller gewickelt. "Lügst du mich an, Adeline?"

"Habe ich dich jemals belogen?", erwiderte sie bestimmt.

Asher blieb die Antwort schuldig. Es war selten, dass sie so mit ihm sprach. Fast sofort entspannte sich ihr Gesicht.

"Tut mir leid, Asher, ich bin einfach nur hungrig", seufzte Adeline.

Asher runzelte jetzt tiefer die Stirn. Sie sollte wissen, dass es nicht klug war, Leute anzuschnauzen, wenn sie gereizt war. Ohne ein Wort reichte er ihr den Zitronenkuchen. Sie griff dankbar danach, hielt dann aber inne.

"Und die Gabel?", fragte sie.

Asher blinzelte und bemerkte, dass er etwas Wichtiges vergessen hatte.

"Entschuldige", sagte er.

Er zog die Hand zurück. "Der Zitronenkuchen ist wahrscheinlich nicht mehr so gut, wie er frisch wäre. Ich hole dir einen neuen Teller und eine Gabel."

Adeline nickte langsam.

"Benimm dich, Adeline", mahnte er leise. "Verschwinde nicht wieder, das würde Tante Eleanor nicht gefallen."

Asher klopfte ihr auf die Schulter. Plötzlich wünschte er sich, sie hätte etwas Konservativeres angezogen. Ihr Kleid war ein wenig zu tief ausgeschnitten und gab einen Blick auf den oberen Teil ihrer Brüste frei. Ihr Hals war für jedermann sichtbar unbedeckt.

"Ich bin gleich zurück", murmelte er.

"In Ordnung."

Ohne ein weiteres Wort ging Asher davon, doch er behielt sie im Auge.

Adeline ließ ihren Blick durch den Ballsaal schweifen und suchte nach dem vertrauten Gesicht von Tante Eleanor. Da bemerkte sie die Frau, die mit demselben Herrn wie am vorherigen Abend sprach. Zuerst standen sie bei den Säulen des Schlosses, jetzt näherten sie sich dem Ausgang des Ballsaals.

Wohin wollten sie?

"Da geht etwas vor sich...", dachte Adeline beunruhigt und hoffte, er sei nicht ein Verehrer.

Neugier nagte an ihr. Sie hatte ein schlechtes Gefühl dabei. Doch Tante Eleanor würde Adeline nie etwas zuleide tun. Dazu hatte Tante Eleanor bereits genügend Gelegenheiten gehabt, vor allem, als Adeline noch ein zehnjähriges Waisenkind war.

"Ich frage mich, wo...", überlegte Adeline und riskierte einen Blick zu Asher. Er hatte ihr den Rücken zugewandt, während er ihr ein weiteres Stück der Zitronen-Baiser-Torte aufschnitt.

Adeline schlich sich in die Richtung, in die Tante Eleanor und der Mann gegangen waren. Etwas in ihrem Bauchgefühl sagte ihr, dass es ein Gespräch war, das sie unbedingt mithören musste. So wagte sie sich mutig durch die Menge der Vampire, die sie mit neugierigen Augen beobachteten.

Vorsichtig öffnete Adeline die Türen zum Ballsaal. Es war eine von dreien und kleiner als die anderen. Die größte Tür war der Haupteingang, strahlend erleuchtet von glitzernden Kronleuchtern und wunderschönen Lichtern an den Wänden.

Die Doppeltüren, durch die Adeline trat, standen dazu im Kontrast. Der Flur war düster beleuchtet, mit vereinzelten Leuchten an den Wänden. Waren das etwa Fackeln dort?

Aber wozu?

Adeline stellte fest, dass alles an diesem Ort uralt wirkte. Die Fackeln würden bald erlöschen und der Gang in Dunkelheit gehüllt sein. Dies war kein Ort für einfache Menschen wie sie.

"Vielleicht sollte ich umkehren..."

Adeline drehte sich um, um zu gehen, doch die Türen waren verschlossen. Entsetzt zog sie an den Klinken, vergeblich.

Ihr Atem stockte. Sie versuchte es mit mehr Kraft, doch ohne Erfolg. Sie klopfte laut an die Türen.

"Hallo?", rief sie, in der Hoffnung, dass jemand auf der anderen Seite sie hören konnte.

Stille.

Kein einziger Schritt war zu hören. Es war, als existierte die Welt des Festes dahinter gar nicht.

Adeline war entsetzt. Sie stützte ihren Kopf zitternd gegen die Tür und schloss die Augen. "Ich werde mich nie wieder davonstehlen..."

Ihr Griff um die Türklinken verstärkte sich. Sie hatte keine Wahl, als umzukehren.

Wohin führte dieser Gang?Es sollte in der Nähe des Ballsaals nichts Gefährliches lauern. Oder doch?

"Ich kann nur nach vorne gehen...", überlegte Adeline. Sie drehte sich um und betrachtete die Umgebung.

Es war ein einzelner Gang, der in die Dunkelheit führte. Die Lichter der Fackeln wurden immer schwächer. Es musste strategisch so geplant sein. Wenn der ganze Korridor in Dunkelheit gehüllt war, saß jemand, der sich hier aufhielt, in der Falle. Vielleicht war dieser Ort gar nicht dazu gedacht, erkundet zu werden.

"Was würde Tante Eleanor hier tun?", flüsterte Adeline zu sich selbst. Und wer war dieser Herr? Ein Vampir etwa? Aber das war unmöglich...

Tante Eleanor verabscheute Vampire.

Da es keinen anderen Weg gab als vorwärts, machte Adeline einen zögerlichen Schritt nach hinten. Ihr Herz schlug laut gegen ihren Brustkorb, und sie hörte unangenehme Geräusche pochenden Bluts in ihren Ohren. Es erschreckte sie, dass dies das einzige Geräusch war, das sie hören konnte - ihr eigener Herzschlag.

"Nun, dann mal los..."

Langsam ging Adeline den Gang entlang, besorgt darüber, was dort auf sie warten könnte.

Je weiter sie ging, desto mehr fühlte es sich wie eine Ewigkeit an. Es gab hier keine einzige Tür. Zu ihrer Linken waren riesige Fenster, aber als sie näher kam, gab es nichts zu sehen.

Es waren einfach die gleichen Gärten, die auch den Ballsaal umgaben. Sie konnte die Fenster nicht öffnen und damit keinem Wachmann signalisieren, der wahrscheinlich unten postiert war.

"Warum wird dieser Ort für die Öffentlichkeit geöffnet und dann abgeschlossen?", brummte Adeline vor sich hin. Sicher hatte jemand gesehen, wie sie durch die Türen ging. Hatte sie bereits einen Feind gemacht? Dass die Türen in dem Moment verschlossen wurden, als sie hindurchging, war zu verdächtig.

Adeline überlegte, ob sie Elias von ihrem Problem berichten sollte. Aber warum sollte das ihm etwas ausmachen? Sie seufzte leise. Er sah in ihr doch nichts weiter als ein Spielzeug, mit dem er sich amüsieren konnte.

"Er hat mir Freiheit versprochen...", kaute Adeline auf ihrer Unterlippe herum. Im Austausch für ein Leben im Palast. Was sollte das alles bedeuten?

Er wollte keinen neuen Palast. Eine Mätresse wollte er auch nicht. Was hatte er dann mit ihr vor?

Adeline betete, dass sie nicht zu einer Blutdienerin gemacht werden sollte. Man sagte, sie würden ständig gefüttert, um genug Blut in ihrem System zu haben. So sehr Adeline auch hungerte, sie konnte nur so viel vertragen.

In Gedanken versunken, bemerkte Adeline nicht die vermummte Gestalt vor sich. Zumindest, bis sie ihren Blick hob und erschrocken stehen blieb.

"Hallo...", sagte Adeline vorsichtig.

Sie machte kleine, langsame Schritte rückwärts. Die Fremde war kleiner als sie. Es war nicht Tante Eleanor und auch nicht der Herr, den sie verlassen hatte.

"Hallo, mein Kind", begrüßte eine weise Stimme sie.

Adeline blinzelte. Die Gestalt zog ihre Kapuze zurück und enthüllte ein von Falten und Altersflecken gezeichnetes Gesicht. Eine alte Frau stand vor ihr.

"Es scheint, das Schicksal hat uns einmal mehr zusammengeführt, Addison."

Adeline neigte den Kopf. Addison? Wie ihre Mutter Addison?

"Ach, je", krächzte die Frau. "Ich scheine alt geworden zu sein."

Die alte Frau berührte ihre Augen. Eines davon war geschlossen, doch über dem geschlossenen Auge war keine Narbe zu erkennen.

"Du bist nicht Addison", verbesserte sie sich leise, ihre Stimme wurde freundlicher. "Für den Bruchteil einer Sekunde dachte ich..."

Adeline war fasziniert. "Sie kannten meine Mutter? Ihr Name war auch Addison. Genauer gesagt, Kronprinzessin Addison von Kastrem."

Die Lippen der alten Frau teilten sich. Sie wirkten ausgedörrt, wie abgenutztes Leder.

"Ja, ich kannte deine Mutter, kleines Kind."

Adeline öffnete den Mund, um etwas zu erwidern, doch die Frau machte ihr schnell eine Geste zu schweigen.

"Die Götter da oben spielen erneut mit dem Schicksal eines unschuldigen Lebens", murmelte sie leise. Sie wandte ihr einzig gutes Auge auf Adeline.

"Die Liebe deines Lebens ist nicht dazu bestimmt, dir zu gehören, kleine Rose", fügte die alte Frau hinzu. Sie schüttelte langsam den Kopf, als ob sie von den Werken der Welt enttäuscht wäre.

"Könnten Sie das bitte näher erläutern?", bat Adeline sanft. Sie ignorierte den Kosenamen. Da diese Frau ihre Mutter kannte, musste sie auch wissen, dass Adelines Nachname Rose war.

"Du entsprichst zwar allen Beschreibungen seiner Geliebten, aber du bist nicht sie", murmelte die Frau.

Adeline blinzelte einmal. Zweimal. Geliebte? Von wem war die Rede?

"Oh, mein Gott", hauchte die Frau leise. "Ich habe zu viel gesagt."

"Nein! Bitte fahren Sie fort", drängte Adeline und trat näher, begierig darauf, mehr von diesem Gespräch zu hören.

"Mein Liebes", murmelte die alte Frau. "Verstehst du denn nicht?"

Adeline schüttelte den Kopf.

"Du bist nicht die Goldene Rose, nach der er sucht."