Seien Sie nicht fies

Adelines Augen schnellten auf. Sie setzte sich im Bett auf, ihre Stirn von einem kalten Schweiß benetzt.

Was für ein seltsamer Traum.

Es war das erste Mal, dass sie Elias in ihren Träumen gesehen hatte. Er schien ihr ebenfalls vertraut.

Adeline erinnerte sich daran, wie misstrauisch sie gegenüber Fremden war. Das war sie immer noch. Sie lächelte selten Verwandte an, geschweige denn Fremde. Wenn die kleine Adeline Elias darum gebeten hatte, sie hochzuheben und sogar zu füttern, dann musste das heißen, dass sie ihm vollends vertraute. Aber wie konnte das sein?

Adeline konnte sich nicht daran erinnern, Elias jemals begegnet zu sein, bis zu jener Nacht. Mit den Jahren vergaß sie allmählich ihre Kindheitserinnerungen.

"Das ist zu bizarr," sagte sie sich selbst.

Es blieb Adeline nichts weiter übrig, als Asher zu fragen. Er würde etwas wissen. Er hatte sie schon lange begleitet.

Fest entschlossen, Adeline schlüpfte aus dem Bett. Sie kümmerte sich nicht um die Uhrzeit, bevor sie die Vorhänge zurückzog. Das Sonnenlicht flutete herein und hüllte sie in Wärme. Zu ihrer Freude war es Morgen! Jetzt konnte sie dieses Schloss verlassen!

Adeline wurde augenblicklich munter. Erwartungsvoll probierte sie eine der verschiedenen Türen in ihrem Zimmer aus. Bald entdeckte sie einen der beiden Kleiderschränke. Zu ihrer Verblüffung waren die Schränke voller Kleidung. Kleider, Shirts, Hosen, Schmuck, riesige Spiegel – alles, was ein Mädchen sich wünschen könnte.

"Zumindest kennt er meine Größe nicht," flüsterte Adeline zu sich selbst, als sie die verschiedenen Kleidungsgrößen bemerkte.

Sie konnte sich nicht vorstellen, wie er das wissen sollte. Adeline griff nach dem, was sich am einfachsten anziehen ließ. In diesem Fall war es ein schlüpfbare Chiffonkleid, das weder Reißverschlüsse noch etwas Ähnliches benötigte.

Adeline schlüpfte hinein und strich mit der Hand über den plissierten Rock. Das Kleid war weiß wie der Morgenhimmel, machte sie jedoch blass wie ein Gespenst.

Klopfen. Klopfen.

Adeline blinzelte. Sie hatte gerade das Zimmer verlassen, als es leise an ihrer Tür klopfte. In der Annahme, dass es die Dienstmädchen waren, lief sie schnell zur Tür und öffnete.

"G-guten Morgen!" begrüßte sie enthusiastisch.

Adelines gute Stimmung schwand.

"Jemand scheint aber gut drauf zu sein," kommentierte er.

Elias stand über ihr, die Hände in den Taschen. Er war wieder ganz in Schwarz gekleidet, mit einem seidigen Hemd, dessen Ärmel bis zu den Ellbogen hochgekrempelt waren und die starken Muskeln seiner Arme zeigten. Das Hemd war oben ein Stück geöffnet und gab den Blick auf seinen kräftigen Hals frei.

"Was ist los?" neckte er. "Hab ich dir den Morgen schon verdorben?"

Elias hatte bemerkt, wie schnell sie die Stirn runzelte. Wo war das fröhliche Lächeln geblieben? Amüsiert über ihre Eskapaden kniff er ihr spielerisch in die Wange.

"Schön, dass die Braut schon in Weiß bereit ist," sagte er, um sie noch mehr zu reizen.

Adeline reagierte nicht. Mittlerweile schien sie sich an seine Spielchen gewöhnt zu haben. Doch ihre Miene verdüsterte sich ein wenig.

"D-das ist nicht lustig."

"Hm, schwer zufriedenzustellen."

Elias blieb im Türrahmen stehen, eine Hand umfasste den Rahmen, die andere streichelte ihre glatte Wange. Er war überrascht, dass sie seine Hand nicht fortstieß.

"Ich habe von dir geträumt," gestand sie.

"Einen feuchten Traum?"

"Elias," seufzte sie.

Elias grinste. "Was ist los?"

Adeline hatte ein Déjà-vu-Gefühl. Sie hielt sich an der Seite ihres Kleides fest und blieb ruhig für ihn stehen. Sein Ausdruck war sanft, aber neckisch. War das der Grund, warum er so freundlich zu ihr war? Weil er sie seit ihrer Kindheit kannte? Aber warum konnte sie sich nicht an ihn erinnern?

"Es war ein seltsamer Traum," ergänzte sie.

Elias hob eine Augenbraue. "Schade. Ich hatte auf was Heißeres gehofft."

"Elias!"

Er lachte laut. Das Geräusch hallte von den Wänden wider und traf sie direkt ins Herz. Ihr Magen kribbelte bei dem tiefen, samtigen Klang. Seine Attraktivität blende sie regelrecht.

"Gib es zu, meine kleine Adeline. Wer möchte nicht von einem schönen Traum mit mir träumen?" neckte er. "Das ist die einzige Gelegenheit, wie eine Frau jemals in meinen Armen sein kann."

Adeline presste ihre Lippen zusammen. Sie hätte beinahe ausgespuckt, wie oft sie schon in seinen Armen gelegen hatte. Es schien ihn auch nicht zu stören. Was für ein schamloser Despot er war!

"Willst du mich nicht hereinlassen?"

Adeline blinzelte überrascht. Seit wann war es bei ihm üblich, jetzt um Erlaubnis zu bitten? Sie hielt sich immer noch am Türgriff fest, wie ein verängstigtes kleines Tier. Misstrauisch blickte sie sich in ihrem Zimmer um.Aber es gibt nirgendwo einen Sitzplatz."

"Also gibt es das Bett gar nicht?"

Er spottete, als sie nickte. Wie knauserig von ihr. Er ließ seine Hand sinken.

"Na gut, komm mit."

Adeline nickte aufgeregt und verließ den Raum, wobei ihre Füße auf dem unglaublich weichen Teppichboden aufquollen. Plötzlich hielt sie inne. Sie trug keine Schuhe.

"Was ist los?"

Elias drehte sich um und sah, dass sie weg war. Seine Augenbrauen schnellten alarmierend hoch. Er hastete zur Tür und sah gerade noch, wie sie in den nächsten Raum hastete. Ohne es zu merken, entfuhr ihm ein kleiner Seufzer der Erleichterung.

"Verdammt", murmelte er leise.

Elias fuhr sich durchs Haar. Er musste müde sein, da er die Nacht über kaum geschlafen hatte. Für einen Bruchteil einer Sekunde hatte er sich zu sehr um sie gesorgt. Das hätte er nicht tun dürfen. Es war ein Fehler.

"Ich hatte keine Schuhe", erklärte sie ihm, als sie mit einem Paar flacher Schuhe in der Hand wieder ins Zimmer trat.

Elias nickte wortlos. Er lehnte sich an den Türrahmen, mit verschränkten Armen, während er zusah, wie sie die Schuhe anzog. Er beschloss, einen bequemen Sessel ins Zimmer stellen zu lassen.

Die Farbe ihrer bequemen Flats fiel ihm sofort auf: Tiffany-Blau. Er wandte den Blick ab und widerstand dem Drang, sie erneut zu necken. Etwas Altes, etwas Blaues... eine Hochzeitstradition der Vergangenheit.

"Wohin gehen wir?"

Elias blinzelte einmal, er war in Gedanken versunken gewesen und hatte nicht bemerkt, dass sie nun vor ihm stand. Adeline blickte ihn unschuldig mit ihren großen, grünlichen Augen an. Sofort wurde er in ihre Welt aus Grün gesogen und hätte dort gerne verweilt.

"Zum Esszimmer", sagte er mit leiser Stimme.

Freude überflutete ihre Augen und machte die Farbe noch intensiver. Plötzlich wirkte sie aufgebracht und offenbarte ein Meer aus Smaragd.

"O-oh, aber ich habe keinen Hunger..."

Elias verengte die Augen. Gelogen. Noch vor einer Sekunde war sie begeistert, jetzt essen zu können. Jetzt änderte sie ihre Meinung? Das würde er nicht zulassen. Unter seinem Dach würde kein Essen verschwendet.

"Nimm wenigstens einen Bissen, Liebling."

"N-nein..."

"Adeline", tadelte er.

Adeline gab widerwillig nach. Sie könnte einfach dort sitzen und mit dem Essen spielen. Er würde es wahrscheinlich gar nicht bemerken, sollte sie wieder ihren üblichen "Trick" anwenden. Leise nickte sie.

Sie hörte ihn einen kleinen Seufzer ausstoßen. Er legte eine Hand auf ihren Kopf. Sie hob den Kopf, nur um sein schiefes Lächeln zu sehen. Auf diese Weise wirkte er viel freundlicher. Sie wollte sehen, welche Gesichtsausdrücke er sonst noch zeigen könnte...

Dieser Gedanke überraschte sie. Sie schob ihn beiseite. Wer wollte nicht die verschiedenen Facetten eines neuen Freundes kennenlernen?

"Braves Mädchen", sagte er.

"B-behandle mich nicht wie ein Haustier."

"Beutetiere sind oft Haustiere", stellte er fest.

Adeline verstand nicht, was er damit meinte. Ein Beutetier? Sie?

"Lassen wir das Zögern", sagte Elias trocken. Er drehte sich auf den Absätzen um und ging davon, ohne auf sie zu warten.

Sie war erstaunlich hartnäckig. Adeline holte ihn mit einem kleinen Satz ihrer Füße auf. Bald lief sie neben ihm, die Beinchen eilig bewegend. Er unterdrückte ein Kichern und beschleunigte das Tempo. Bald war sie an ihre Grenzen gekommen, genau wie er es genoss.

"S-sei nicht so gemein", sagte sie schließlich.

"Wovon redest du?"

Elias wurde langsamer. Sie war ein wenig außer Atem, nur weil sie etwas schneller gegangen war. Stur hielt sie den Mund geschlossen und weigerte sich, etwas Weiteres zu sagen. Das war ihm recht.

Sein Plan funktionierte.

Er wollte, dass sie mehr sprach, dass sie ihre Bedenken äußerte und verstand, dass es völlig in Ordnung war, sich zu beschweren.

Mit einem gleichgültigen Schulterzucken sagte Elias nichts weiter. Bald waren ihre Schritte im Gleichklang und eine angenehme Stille legte sich um sie. Zu seinem Erstaunen war er durchaus mit ihrem Schweigen einverstanden.

Was für eine seltsame Erkenntnis.