Die dunkelsten Herzen

Adelines Magen knurrte. Sie saß an einem großen Tisch in der Mitte des herrlichen Speisesaals, in den durch zahlreiche Fenster das Sonnenlicht auf den perlweißen Boden fiel, der goldene Sprenkel in seiner Politur aufwies. Der Tisch erstreckte sich über die halbe Länge des Raumes und war übersät mit einer Vielzahl an Gerichten in den verschiedensten Farben, Düften und aus diversen Kulturkreisen.

Es gab Waffeln, Pfannkuchen, Reisbrei, Milchtee und vieles mehr.

Vor Adeline stand ein Teller mit Salat und Suppe. Das Essen war in greifbarer Nähe. Sie betrachtete den Salat aus mit braunem Zucker glasierten roten Rüben, frisch geerntetem Mais, Spinat, Grünkohl und weiteren Zutaten, die in einem köstlichen Balsamico-Dressing schwammen.

"Schmeckt dir das Essen nicht?"

Adeline hob den Blick. Zwischen seinen langen, schmalen Fingern hielt er ein Weinglas aus Kristall, gefüllt mit einer verdächtig dunkelroten Flüssigkeit. Sie hoffte inständig, dass es nur Rotwein war.

"Das Essen sieht toll aus", sagte sie.

Sein Blick verengte sich, seine Augen leuchteten in einem hellen Karminrot auf und verrieten, dass er sie genau beobachtete.

Adelines Hände zitterten. Es war in Ordnung. Niemand würde etwas sagen. Sie nahm die Salatgabel und das Messer und bemerkte, wie seine Augenbraue neugierig in die Höhe zog. Sie griff nach mehr Dressing, goss es über den Salat und beobachtete, wie die Blätter durchtränkt wurden.

"Oder hättest du vielleicht lieber etwas anderes?" überlegte er.

Adeline blickte auf. Sie spürte, dass seine Worte mehr als eine Bedeutung hatten.

"Das ist in Ordnung ..." begann Adeline den Salat zu mischen, und seine Menge begann zu schrumpfen, da der Frühlingsmix der Blätter im Dressing welkte.

Sie hob die Gabel zum Mund, doch dann hielt sie inne. "Wirst du nicht auch etwas essen?"

"Natürlich."

Elias hob leise den Löffel an seine Lippen, gab vor zu schlürfen, beobachtete sie jedoch die gesamte Zeit. Sie legte die Gabel nieder und schob das Essen auf die andere Seite ihres Tellers.

Dann hob sie erneut eine Gabel voll Salat an.

Gerade als sie ihre Lippen berühren sollte, sprach sie wieder. "Übrigens, wann werde ich nach Marden Estate zurückkehren?"

Elias verzichtete darauf, die Tatsache zu erwähnen, dass Marden Estate eigentlich den Namen der Familie Rose trug. War ihr das nicht bewusst? Viscount Sebastian Marden hatte das Haus von Kaline geliehen, der so großzügig war, ihnen das Wohnen darin so lange zu gestatten, wie sie es wünschten.

"Es gibt keinen Grund für dich, dorthin zurückzukehren", entgegnete Elias langsam. Er wischte sich den Mund ab und nahm einen Schluck von seinem Wein. "Ich habe ihnen einen Brief geschickt."

Adeline nickte langsam. Sie spielte mit ihrem Essen, schob es auf dem Teller hin und her, presste den Salat zusammen. Als er anfing, sie anzustarren, hob sie wieder die Gabel.

"Einen Brief? Was für einen Brief?"

"Um sie darüber zu informieren, dass du meine Frau werden sollst."

Ihr Besteck klirrte laut, als es auf den Tisch fiel und vom Teller glitt, gerade in dem Moment, als ihr Kopf entsetzt hochschoss.

"War das nicht unsere Abmachung?" sinnierte Elias, setzte das Weinglas ab und beugte sich vorwärts, stützte sein Kinn auf seinen angewinkelten Arm."—dass du zur Königin des Wraith-Imperiums ernannt werden sollst?"

Adeline öffnete und schloss ihren Mund. Stumm bedankte sie sich bei den herbeieilenden Butlern, die ihr Besteck austauschten.

"Ist es wirklich so einfach?" flüsterte sie.

Unsicher stach Adeline erneut in den Salat.

"Einen Brief zu versenden? Ja."

Adeline führte die Gabel in Richtung Mund, hielt jedoch inne. "Du weißt, was ich meine."

Elias lachte leise. Die Zwillinge würden außer sich sein, wenn sie von der Verlobung erführen. Er freute sich schon richtig auf ihr Gezänk.

"Es ist ein viel komplizierterer Prozess. Ich werde vor dem Rat und dem gesamten Königreich verkünden müssen, dass du meine Verlobte bist."

Langsam nickte Adeline. Sie legte die Gabel nieder und begann erneut, ihr Essen hin und her zu schieben.

"V-Verlobte?" erfasste sie plötzlich.

Elias nickte. "Ich gebe dir ein Jahr Zeit, um dich als würdig zu erweisen, dich zu verändern."

Adeline war nicht überrascht. Sein Angebot war bereits sehr großzügig. Sie hoffte nur, dass alles reibungslos verlaufen würde und ihr genügend Zeit zum Fliehen bliebe. Aber wohin könnte sie gehen ...?

Vielleicht könnte sich Adeline irgendwo niederlassen, fern der Stadt und mitten im Nirgendwo, mit einem liebenswerten Ehemann oder so etwas. Sie könnten zurückgezogen leben, eine Farm aufbauen, Kinder großziehen, ohne dass sie sich sorgen müsste, von ihren Verwandten entdeckt zu werden. Ja ... das war eine Zukunft, von der sie träumte.

Das hatte sie auch Asher erzählt, der bereitwillig zugestimmt hatte, mit ihr zu leben, wenn sie ihn darum bat.

Damals hatte sie über seine Begeisterung gelacht und es als Scherz abgetan.

"Wirst du nicht essen?" drängte er.

Adeline schluckte. Sie stach erneut in den Salat auf der rechten Seite und bemerkte, dass die Menge abgenommen hatte, obwohl sie ihn nie zu ihren Lippen geführt hatte. Sie hob die Gabel zu ihrem Mund.

"O-oh, ich hätte es beinahe vergessen", flüsterte Adeline leise und legte das Besteck zurück auf den Teller.

"Ich habe einen treuen Leibwächter auf dem Marden-Anwesen ... Wäre es Ihnen möglich, ihn einzuladen -"

"Asher Finnly, richtig?"

Adeline nickte eifrig. "J-ja, er ist auch ein Kindheitsfreund und ..."

"Dein Stottern hat heute zugenommen, meine kleine Adeline. Warum bist du so nervös?"

Adeline zuckte zusammen. Sie spielte nervös mit dem Essen herum, wie sie es gewöhnlich tat. Erleichtert stellte sie fest, dass die Portion auf der rechten Seite deutlich weniger geworden war, während die linke Seite noch voll war. Das war es, was sie an Salaten so schätzte. Sie welkten schnell und ihr Volumen verringerte sich, je mehr Soße man hinzufügte."Ich mag es einfach nicht, wenn mir beim Essen zugesehen wird."

"Hmmm, ist das so?" Elias nippte an seinem Wein und beobachtete ihr Gesicht über den Rand seines Glases. Der Wein schmeckte bitter und süß auf seiner Zunge, eher bitter als süß. Das war seltsam. Normalerweise mochte er diese Marke.

Adeline nickte. Sie verschob den Rest des Salats auf die rechte Seite ihres Tellers. Bald war er leer.

"In diesem Palast gibt es genug Soldaten", sagte Elias langsam. "Du wirst Finnly nicht brauchen."

Adelines Gabel kam zum Stillstand. Sie hob den Kopf und legte die Gabel auf den Teller.

"Dann werde ich hier nicht wohnen."

"Du kannst jederzeit gehen", erwiderte er sofort.

Elias lächelte. Sie starrte ihn an. Oh je, kamen da etwa ihre verborgenen Krallen zum Vorschein? Sie war so gut darin, schwach zu wirken. Was war los? Ein Jahrzehnt der Disziplin und sie vergaß es bereits? Er vermutete, dass es ihr Temperament war, das sie überkam. Das war ihre Schwäche.

"In Ordnung."

Elias' Lächeln wurde breiter.

Die Stühle quietschten laut, als sie sich erhob. Adeline stand ohne Zögern auf und drehte sich auf dem Absatz um.

Ein Gewitter zog über Elias' Gesicht. Die Temperatur sank und die Luft wurde dichter. In diesem Moment war er furchtbar aufgelegt. Wenn möglich, wehte trotz des hellen, sonnigen Herbstes ein arktischer Wind durch den Raum.

Adeline öffnete die Türen, doch sie knallten mit einem lauten Schlag zu!

"Elias!", rief sie erbost und drehte sich verärgert um.

Doch er war nicht zum Spielen aufgelegt. Sein Gesichtsausdruck war düster, bis auf das unheimlich ruhige Lächeln in seinem Gesicht.

"Was ist los?", fragte er kalt. "Es scheint, als sei der Wind heute besonders stark."

Adeline atmete zittrig aus. Sie blickte zum Boden und bemerkte, dass die Vorhänge Schatten warfen. Es war merkwürdig, dass sich die Schatten in der Nähe der Tür befanden. War das eine weitere seiner Fähigkeiten als Reinblüter? Die Dunkelheit zu manipulieren?

"Spiel nicht das Kind."

"Ich bin kein Kind."

Elias führte das Weinglas erneut an seine Lippen und nahm gleichgültig einen Schluck. Sie beobachtete ihn genau. Stumm stellte er das leere Glas zurück auf den Tisch. Je mehr er trank, desto mehr schwand seine Geduld.

"Benimm dich nicht wie ein Kind, Adeline. Du bist eine erwachsene Frau."

Eine Dienerin trat höflich vor, um sein Glas nachzufüllen. Er hob die Hand und wies sie ab. Sie senkte den Kopf und trat respektvoll zurück.

"Ich bin nicht diejenige, die Türen zuschlägt", sagte Adeline trocken.

Elias neigte unschuldig den Kopf. "Oh je, ich habe wirklich keinen blassen Schimmer, worauf du anspielst."

Adelines Augen funkelten. Sie straffte die Schultern und wandte sich erneut der Tür zu. Sie griff nach den Türklinken, als wollte sie sie aufziehen, tat es jedoch nicht. Tatsächlich wirbelten Schatten unter ihren Füßen, als würden sie nur darauf warten, dass sie sich bewegt.

"Du bist gemein", sagte Adeline langsam. "Das mag ich nicht, Elias."

Die Schatten verschwanden. Sie hatte geblinzelt und er war weg.

Ohne ein Wort zu sagen, öffnete Adeline die Türen mühelos und diesmal fielen sie nicht zufällig zu. Allerdings konnte sie nicht gehen, da zwei beeindruckende Männer ihr den Weg versperrten.

"Elias!", sagte sie scharf und drehte sich verärgert um. War das sein Werk? Waren die Männer seine Wachen?

"Wir sind nicht wegen Ihnen hier, Prinzessin", sagte eine distanzierte Stimme nüchtern.

Adeline schoss nach oben. Sie war überrascht, wie attraktiv sie waren – warum sahen alle im Palast so gut aus? Lag es vielleicht am Wasser? Sie nahm sich vor, mehr davon zu trinken.

"Wenn Sie zur Seite treten würden, hübsche Dame", sagte einer von ihnen fröhlich. "Wir würden gerne mit unserem verehrten Anführer sprechen."

Adeline trat wortlos zur Seite. Sie bemerkte, wie der andere Mann sie anstarrte, als ob sie ihm Geld schuldig wäre. Seine Augen waren finster, als könnte er bereit sein, die Welt in Asche zu legen.

"Ach, schenken Sie meinem Zwillingsbruder keine Beachtung, er hat nur schlechte Laune", sagte der fröhliche Mann. Er reichte eine Hand aus, wurde aber von seinem Bruder zur Seite geschubst.

Er tat so, als sei nichts passiert. "Ich heiße Easton, hübsche Dame. Wie ist Ihr Name?"

Adeline warf einen misstrauischen Blick von dem Mann, der gerade seinen Bruder beiseitegeschoben hatte, zu dem fröhlichen Jungen vor ihr.

"Adeline", sagte sie schließlich.

Eastons Augen leuchteten vor Erkennung. Seine Lippen formten ein großes Lächeln, als er die Hand ausstreckte.

"Es freut mich sehr, Sie kennenzulernen, Adeline."

Adeline sah auf seine Hand herunter. Wenn es eine Sache gab, die ihre Eltern ihr beigebracht hatten, dann war es der erste Eindruck. Also biss sie auf die Zunge und schüttelte unterdrückend fest seinen Kopf, wobei sie bemerkte, wie seine Augen in Überraschung etwas weiter aufgingen.

Sie sammelte jeden Hauch von Mut, um nicht zu stottern.

"Es freut mich auch, Sie kennenzulernen, Easton."

Eastons Lippen spitzten sich. Eine Sekunde später breitete sich ein breites Grinsen auf seinem Gesicht aus. Er griff fester zu.

"Sie ehren mich, Prinzessin."

Adeline blinzelte. Er war so freundlich... doch das freundlichste Lächeln verbarg oft die dunkelsten Herzen.

Es dauerte nicht lange, und Adeline würde diese Begegnung bereuen.