Kapitel 13: Vergessene Mauern

Der Morgennebel hing noch schwer in der Luft, als Aemon und Mara sich langsam dem Rand des Waldes näherten. Der Wald hinter ihnen war dicht und undurchdringlich, aber vor ihnen öffnete sich der Raum zu einer weiten, beinahe leblosen Ebene. Die Bäume hier wichen zurück, als hätten sie sich dem Ansturm der Zivilisation ergeben. Und in der Tat, die Spuren der alten Welt waren noch immer sichtbar.

„Da vorne", flüsterte Mara und deutete mit einem Finger auf das, was wie eine verfallene, längst vergessene Struktur wirkte. Es war schwer zu sagen, was genau es war – eine alte Militärbasis, vielleicht ein Forschungsstützpunkt? Der Wind blies durch zerbrochene Fenster, und der weite Zaun, der das Areal früher wohl umschlossen hatte, war stellenweise zerbrochen und von wildem Gestrüpp überwuchert.

„Es muss hier gewesen sein", sagte Aemon und trat vorsichtig auf den verwilderten Boden. „Lass uns nachsehen."

Langsam näherten sie sich der verfallenen Anlage. Überall lagen Reste von ehemaligen Zäunen und Betonmauern, die durch die Jahre und die Natur zerstört worden waren. Die Luft roch abgestanden, ein unangenehmes Gefühl stieg in Aemons Magen auf. Etwas war hier nicht in Ordnung. Es war zu still.

Mara hatte die Augen zusammengekniffen, als sie durch die Spalten der zerbrochenen Wände spähte. „Es sieht aus, als hätten sie hier… geforscht. Vieles von dem, was sie verwendet haben, ist hier, aber unvollständig. Irgendetwas muss schiefgelaufen sein."

„Sieh dir das an", sagte Aemon und zog sie in einen der nahegelegenen Räume. Auf dem Boden lagen verstreut Papiere, alte Akten, und einige Bücher. Die meisten waren von Schmutz bedeckt und von der Zeit entwertet, doch eines stach besonders hervor. Ein dickes, abgenutztes Buch, dessen Seiten vergilbt und brüchig waren.

Mara hob es vorsichtig auf. „Sieht aus wie ein Forschungsjournal. Vielleicht gibt es darin Hinweise."

Aemon nickte. „Lass uns einen Blick darauf werfen."

Während sie durch die Seiten blätterten, wurde das Ausmaß der Experimente immer klarer. Es war ein detailliertes Buch, das die Veränderungen der getesteten Personen dokumentierte – eine Liste von Probanden, ihre Ursprünge, und wie sie sich mit der Zeit verändert hatten. Jeder Eintrag enthielt eine Beschreibung ihrer körperlichen Veränderungen, Verhaltensweisen und, wenn sie überlebten, die Mutationsstärke.

Aemon blätterte weiter und blieb schließlich bei einem Eintrag stehen. Ein Bild zeigte eine deformierte Gestalt mit unmenschlichen Gelenken und einen Gepaltenen Kopf. Der Name war durchgestrichen, doch darunter stand eine Zahl: Mutationsstärke 4

„Das war das Monster, das ich getötet habe", murmelte Aemon und zeigte auf das Bild. „

Die Seite besteht aus vier wesentlichen Bestandteilen:

Erstens: Die Nummer mit dem Ursprünglichen Namen.

Zweitens: Ein gezeichnetes Bild des mutierten Inividiums.

Drittens: Verhalten, Aussehen, Geisteszustand, Vortschritt der Mutation.

Und schließlich die Mutationsstärke in dickem Schwarz gedruckt und unterstrichen.

In diesem Fall zeigte die Seite:

Nummer 22- Name Geschwärzt

Das Objekt verwandelt seine Knochen in eine Art bewegliche Knorpel. Es ensteht ein Riss vom ersten Halswirbel bis zum Unterkiefer. Man erkennt dass sich Schwarze Masse durch die Schädeldecke aus dem Spalt drückt. Das Objekt weißt einen katastrophalen Hirnschaden auf.

Mutation noch nicht abgeschlossen.

Mutationstärke 4

Mara ließ das Buch sinken und sah Aemon mit ernsten Augen an. „Das bedeutet, dass wir noch auf weitaus gefährlichere Kreaturen stoßen werden. Je höher die Zahl, desto schlimmer…"

„Ja", sagte Aemon und knirschte mit den Zähnen. „Aber wir haben jetzt eine Ahnung, mit was wir es zu tun haben. Wir müssen uns immer auf der Hut halten."

Sie blätterten weiter und fanden eine Reihe von Einträgen, bei denen die Mutationsstärke immer weiter anstieg. Manche Probanden waren kaum wiederzuerkennen, die körperlichen Veränderungen so extrem, dass man kaum noch von „Menschen" sprechen konnte. Die Aufzeichnungen sprachen von Aggressionen, unerklärlichem Hunger und einer schnellen Zunahme an Stärke und Wildheit, je höher die Mutation.

Doch als sie weiter blätterten, stießen sie auf eine neue, beunruhigende Notiz.

„Wichtige Daten fehlen", sagte Mara leise. „Sehen Sie? Ganze Seiten fehlen. Es ist, als ob jemand sie entfernt hat, absichtlich."

Aemon runzelte die Stirn. „Das könnte eine der letzten Anzeichen dafür sein, dass jemand hier versucht hat, alles zu vertuschen. Und einige sind zu gefährlich geworden, um sie weiter zu überwachen."

„Und was, wenn wir jetzt auf diese Kreaturen stoßen?", fragte Mara mit einem Hauch Besorgnis in ihrer Stimme.

„Dann kämpfen wir", sagte Aemon, seine Stimme fest. „Oder wir weichen aus, je nachdem. Aber wir müssen vorwärts. Wir müssen wissen, was hier passiert ist und wie wir aus dieser Hölle herauskommen."

Das Buch war eine Quelle der Informationen, aber gleichzeitig auch eine Mahnung. Es war klar, dass die Forschung des Doktors weit über das hinausgegangen war, was sie sich hätten vorstellen können. Monster aus Menschen, Mutationen, die die Naturgesetze ins Wanken brachten – und es gab noch immer so viele Antworten, die sie nicht hatten.

Als sie das Buch schließlich beiseitelegten, hörten sie plötzlich Geräusche von draußen. Eine Bewegung im Gebüsch. Aemon griff nach seiner Waffe und signalisierte Mara, still zu sein.

„Wir sind nicht allein", murmelte er.

Mara nickte stumm. Ihre Finger zitterten leicht, sie zieht das Messer aus der Scheide und nimmt eine Kampfposition an. Doch sie wussten beide, dass dies erst der Anfang war. Die Wahrheit über den Wahnsinn, der hier herrschte, würde nicht einfach zu finden sein.

Die Dunkelheit schlich sich immer weiter an.