Der Raum war totenstill.
Nummer 107 saß auf dem Boden, seine leeren Augen halb geschlossen. Die Ketten, die ihn gehalten hatten, lagen in rostigen Stücken neben ihm. Sein Körper war entspannt, aber seine bloße Präsenz ließ Aemons Herz rasen.
Er hatte mich erkannt.
Diese Worte brannten in Aemons Kopf. Sein Blick klebte an dem Wesen, das eben noch gesprochen hatte. „Du … bist … wie ich."
Mara rieb sich die Stirn, während sie unruhig in ihrem Buch der Opfer blätterte. Ihre Finger zitterten leicht.
„Das macht keinen Sinn", murmelte sie.
„Was?", fragte Reeve scharf, die Armbrust noch immer auf Nummer 107 gerichtet.
Mara zeigte auf den Eintrag.
Nummer 107 – Name: Geschwärzt
Ein Mann, ehemals menschlich. Reagiert nur auf elektrische Impulse und bleibt in Lethargie, wenn kein äußerer Reiz gegeben wird.
Verhalten, Aussehen, Geisteszustand:
– Zeigt keine bewussten Gedanken oder Erinnerungen
– Keine Sprachfähigkeit dokumentiert
– Kein aggressives Verhalten, aber unberechenbar
– Mutation noch nicht abgeschlossen
Mutationsstärke: 2
Aemon starrte auf die Notizen. „Dann wieso hat er mit mir geredet?"
Mara schluckte. „Ich weiß es nicht. Hier steht, dass er nicht sprechen kann – dass er keine echten Gedanken mehr hat."
Nummer 107 bewegte sich nicht.
Reeve trat einen Schritt näher. „Vielleicht hat er nur alte Muster im Kopf? Irgendein Rest seines früheren Selbst?"
Mara wirkte nicht überzeugt. „Es klang nicht wie ein zufälliges Echo. Er hat auf dich reagiert, Aemon."
Aemon spürte Maras Blick auf sich, als würde sie etwas in ihm suchen.
Er wusste, was sie dachte.
Warum hat dieses Ding dich erkannt?
Und er wusste, dass es darauf keine einfache Antwort gab.
—
„Wir sollten ihn hier lassen", sagte Reeve schließlich. „Das ist zu gefährlich."
Mara schüttelte den Kopf. „Wir haben gerade herausgefunden, dass er vielleicht mehr ist als nur ein instinktgetriebenes Ding. Das ist eine Gelegenheit."
Aemon runzelte die Stirn. „Eine Gelegenheit wofür?"
Mara klappte das Buch der Opfer zu. „Antworten."
Sie sah Nummer 107 nachdenklich an.
„Wir haben bisher nur gegen diese Kreaturen gekämpft, aber nie verstanden, was mit ihnen passiert ist. Wenn wir lernen, warum einige sich anders verhalten, können wir vielleicht herausfinden, was die Experimente genau mit ihnen gemacht haben."
Reeve knurrte. „Und wenn er aufwacht und versucht, uns umzubringen?"
Mara zeigte auf den Eintrag. „Er braucht einen Auslöser. Ohne Strom oder äußeren Reiz wird er wieder in Lethargie fallen. Solange wir ihn nicht aktivieren, sollte er keine Bedrohung sein."
Aemon sah zwischen den beiden hin und her.
Einen Mutanten mitnehmen?
Alles in ihm schrie, dass das eine schlechte Idee war. Aber …
Er sah zu Nummer 107.
Das Ding hatte mit ihm gesprochen.
Und er musste wissen, warum.
„Verdammt", murmelte Aemon. „Okay. Wir nehmen ihn mit."
Reeve fluchte. „Scheiße, ich wusste es."
Mara nickte zufrieden. „Wir fesseln ihn mit Stahlseilen. Ich will sicherstellen, dass er sich nicht bewegen kann, falls er aufwacht."
Aemon packte die alten Ketten und begann, Nummer 107 zu sichern. Der Mutant zuckte nicht, seine Atmung blieb gleichmäßig.
Aber während Aemon seine Hände um die Fesseln schlang, bemerkte er etwas.
Nummer 107 hatte eine Narbe an der Hand.
Eine tiefe, saubere Schnittnarbe – alt, verblasst.
Aber … Aemon kannte diese Art von Narbe.
Er hatte selbst eine.
Seine Brust zog sich zusammen.
„Los jetzt", sagte Mara.
Aemon zwang sich, den Gedanken wegzuschieben. Später.
—
Die Flucht aus dem Keller war leise.
Draußen war die Stadt in Finsternis getaucht. Sie bewegten sich zwischen den Ruinen, Aemon und Reeve schleppten Nummer 107 zwischen sich, während Mara das Buch der Opfer fest in der Hand hielt.
„Wir brauchen einen neuen Unterschlupf", flüsterte Reeve.
Mara deutete auf ein altes Bürogebäude in der Ferne. „Dort."
Sie rannten in geduckter Haltung über die leeren Straßen, vorbei an ausgebrannten Autos und skelettierten Gebäuden. Der Wind trug das Echo eines entfernten Schreis mit sich.
Sie waren nicht allein.
—
Das Bürogebäude war leer.
Kaputte Schreibtische lagen verstreut, Fenster waren zersplittert, und die Wände waren mit verblassten Blutspuren bedeckt.
„Hier waren Leute", murmelte Aemon.
Mara überprüfte eine der alten Türen. „Ist lange her. Kein frisches Blut."
Reeve ließ Nummer 107 auf den Boden sinken. „Ich hoffe, du hast einen Plan für den Kerl."
Mara kramte eine alte Metallstange hervor. „Ich werde testen, ob kleine elektrische Impulse wirklich ausreichen, um ihn zu steuern."
Aemon beobachtete sie. „Bist du sicher, dass das eine gute Idee ist?"
Mara zögerte. Dann nickte sie.
„Ja. Wenn wir das verstehen, können wir vielleicht kontrollieren, wann er wach wird."
Sie setzte die Stange an Nummer 107s Arm an und erzeugte einen winzigen Funken.
Das Wesen zuckte – aber es bewegte sich nicht.
Mara machte sich Notizen. „Minimaler Impuls reicht nicht aus. Vielleicht eine stärkere Ladung?"
Reeve sah unbehaglich aus. „Oder wir lassen ihn einfach in Ruhe."
Mara ignorierte ihn und testete eine stärkere Ladung.
Nummer 107s Augen zuckten.
Aemon spürte, wie sich die Luft veränderte.
Langsam … sehr langsam … öffnete Nummer 107 die Augen.
Doch dieses Mal sprach er nicht.
Er lachte.
Ein tiefes, keuchendes Lachen, das sich in Aemons Kopf fraß.
Dann – seine Lippen formten Worte.
„Er … kommt."
Aemon erstarrte. „Was?"
Nummer 107 hob langsam den Kopf.
„Er … kommt … für dich."
Aemon spürte, wie sich Kälte in seinem Magen ausbreitete.
Wer?
Mara war bleich geworden. „Wovon redet er?"
Nummer 107 kicherte, als wäre es ein grausamer Scherz.
Dann sackte er wieder in Lethargie.
Stille.
Aemon spürte Maras Blick auf sich.
„Aemon … was, wenn er dich wirklich kennt?"
Er konnte nicht antworten.
Denn tief in seinem Inneren wusste er, dass er es herausfinden musste.
Egal, wie sehr er die Wahrheit fürchtete.