Kapitel 22 – Unkontrollierbare Kräfte

Die Tür splitterte unter dem wuchtigen Einschlag.

Aemon riss seine Waffe hoch, während Reeve mit gezogener Armbrust in Kampfhaltung ging. Mara stolperte zurück, das Buch der Opfer fest umklammert.

Ein massiger Schatten fiel in den Raum – Nummer 66.

Sein Körper war eine groteske Mischung aus Mensch und Bestie. Die Haut war aschgrau, die Arme viel zu lang, und sein Kopf hing unnatürlich nach hinten. Doch das Schlimmste war der pulsierende schwarze Wucher auf seinem Rücken, der in unregelmäßigen Abständen bebte – als ob er atmete.

Aemon spürte, wie sich eine kalte Hand um sein Herz legte. Das Ding war nicht wie die anderen.

„Mara!", zischte er.

Sie riss das Buch der Opfer auf und blätterte hektisch.

Nummer 66 – Die Resonanten.

Verhalten, Aussehen, Geisteszustand:

– Mutation hochgradig instabil

– Reagiert auf niedrige Frequenzen, kann selbst Schallwellen aussenden

– Setzt Schreie als Waffe ein

– Aggressiv, extrem anpassungsfähig

Mutationsstärke: 6

„Sein Schrei kann uns töten!", rief Mara panisch.

Da öffnete Nummer 66 den Mund – und die Luft vibrierte.

Der Schrei war kein Geräusch.

Es war ein Angriff.

Die Wände bebten, Metall splitterte. Ein unsichtbarer Druck traf Aemon mit voller Wucht, schleuderte ihn gegen die Wand.

Mara fiel schreiend zu Boden, das Buch glitt aus ihrer Hand.

Reeve stolperte, seine Ohren bluteten. „FUCK!"

Aemon versuchte aufzustehen, doch seine Muskeln gehorchten nicht. Alles drehte sich.

Nummer 107 erwachte.

Das Wesen in den Ketten begann zu zucken, seine toten Augen weiteten sich. Der Schrei von Nummer 66 hatte ihn aus seiner Lethargie gerissen.

Mara kroch auf allen Vieren zu ihrem Rucksack, suchte hektisch nach einer Lösung.

„MARA!", brüllte Aemon.

Nummer 107 riss an seinen Ketten. Metall kreischte.

„Er wacht auf!", keuchte Reeve.

Aemon zwang seinen Körper zu bewegen, zog sein Messer und sprang auf.

Er musste Nummer 66 stoppen.

Er preschte nach vorne, rammte die Klinge direkt in die Brust der Kreatur.

Der Schrei stoppte abrupt.

Doch Nummer 66 wich nicht zurück.

Seine Augen verdunkelten sich, sein Körper zuckte – und dann schlug er zu.

Aemons Rippen knirschten unter der Wucht des Treffers. Schmerz explodierte in seiner Brust, als er gegen die Wand krachte.

Nummer 66 stand immer noch.

Er heilte.

„Mara, sag mir, dass du etwas hast!", brüllte Reeve.

Sie riss den Kopf hoch. „Er ist instabil!"

Aemon schnappte nach Luft. „Was?!"

„Er ist noch nicht fertig mutiert!", schrie sie. „Er braucht seine eigenen Schallwellen, um sich zu stabilisieren! Wenn wir ihn daran hindern, bricht sein Körper zusammen!"

Reeve verstand es zuerst. Er zielte auf den Hals des Mutanten.

Er schoss.

Der Bolzen bohrte sich in Nummer 66s Kehlkopf.

Ein dumpfes Gurgeln – dann begann der Mutant zu zerfallen.

Seine Haut riss auf, schwarze Masse tropfte aus seinen Augen. Er griff nach seinem eigenen Hals, versuchte zu schreien – doch keine Frequenz kam mehr heraus.

Aemon sah, wie sich das Ding verzweifelt krümmte. Ohne seinen eigenen Schrei konnte es seine Form nicht halten.

Dann – es brach zusammen.

Der Raum wurde still.

Nur das keuchende Atmen von Aemon, Mara und Reeve hallte durch den Keller.

Mara presste eine Hand auf ihr Herz. „Wir haben es …"

Die Ketten rissen.

Nummer 107 war frei.

Aemon riss den Kopf herum.

Nummer 107 stand vor ihnen, seine Bewegungen zuckend, die Haut pulsierte unnatürlich. Seine toten Augen fixierten Mara.

Dann bewegte er sich – und sprach.

„Nicht … gut … genug …"

Aemon erstarrte.

Dieses Ding konnte denken.

Mara wich zurück. „Das ist nicht möglich."

Nummer 107 bewegte seine Finger, betrachtete seine eigenen Hände – als ob er sich selbst zum ersten Mal sah.

Reeve spannte seine Armbrust. „Wenn er spricht, kann er auch sterben."

Nummer 107 lächelte.

„Ich … bin … nicht … wie sie …"

Aemon hatte genug. Er hob seine Waffe – doch Nummer 107 lachte.

Es war kein normales Lachen.

Es war ein verzerrtes Echo, das sich in Aemons Kopf bohrte.

„Falsch …", murmelte das Ding. „Du … bist … wie ich."

Aemon spürte, wie sein ganzer Körper sich verkrampfte.

Die Worte krochen in seinen Schädel.

„Du bist wie ich."

Sein Dämon lachte in ihm.

„Er sieht es", flüsterte die Stimme in seinem Kopf.

Aemon verlor für einen Moment die Kontrolle über seinen Körper.

Nummer 107 machte einen Schritt nach vorne – dann hielt er inne.

Er zitterte.

Dann fiel er zurück in Lethargie.

Aemon keuchte. Seine Hände waren eiskalt.

Mara starrte auf das Wesen, dann auf Aemon.

„Was hat er gemeint?", flüsterte sie.

Aemon konnte nicht antworten.

Denn tief in seinem Inneren wusste er es bereits.

Nummer 107 hatte ihn erkannt.

Und das bedeutete, dass es eine Verbindung zwischen ihnen gab.

Etwas, das Aemon nicht verstand.

Etwas, das er nicht verstehen wollte.