Skandal

Lucinda zeigte mit zitterndem Finger auf beide, ihre andere Hand bedeckte ihren Mund. Ihre Stimme war alles andere als gedämpft. Innerhalb weniger Sekunden waren fast alle, die auf dem Anwesen wohnten, herbeigeilt, ihre Augen weit vor Entsetzen aufgerissen, als sie auf die Stelle starrten, auf die Lucinda zeigte.

"Mein Cousin mag dich zwar zur Konkubine degradiert haben, aber du bist immer noch mit ihm verheiratet! Kennst du keine Scham?!" fuhr Lucinda fort.

"Das... ist nicht, wonach es aussieht", rang Ralph um Worte und stützte sich auf seinen Ellbogen. Selbst in der kalten Winternacht hatte sich bereits ein dünner Schweißfilm auf seiner Stirn gebildet, der im Licht der Kerzen und des Mondes glänzte.

Soleia stand schnell auf und richtete ihren Ärmel. Als sie eben gefallen war, hatte sich ein Teil des Stoffes verhakt und war gerissen, so dass er herunterhing. Die Fäden hielten das Stück kaum noch zusammen - nur ein wenig mehr und ihr ganzer Ärmel könnte sich ablösen.

"Ich bin nicht blind, Herr Byrone!" zischte Lucinda und stampfte mit dem Fuß auf. Hinter ihr war auch Elisa aufgetaucht, ihr Gesicht dunkel wie Kohle.

Sie trat wortlos vor und bevor jemand reagieren konnte, schlug sie Soleia ins Gesicht. Deren Kopf ruckte zur Seite, als sie sich an die Wange fasste, ihre Lippen vor Schock geöffnet. Als kränkliche alte Frau hatte Elisa definitiv nicht die Kraft von Orion, aber ihr Schlag traf genau dort, wo der alte blaue Fleck war, und ließ den Schmerz in Soleias Wange erneut aufflackern.

"Hure!" schrie Elisa und hob ihre Hand, um Soleia erneut zu schlagen. "Oh Himmel! Welches Verbrechen hat mein Sohn begangen, um eine Frau wie dich zu heiraten!"

Diesmal war Soleia jedoch vorbereitet. Sie packte Elisas Arm, bevor sie ein zweites Mal zuschlagen konnte, und die alte Frau keuchte auf.

"Lass mich los!" rief Elisa. "Wie kannst du es wagen?!"

"Wie kannst du es wagen!" konterte Soleia. Sie stieß Elisa von sich weg, und die alte Frau stolperte rückwärts in Lucindas wartende Arme. "Wer hat dir das Recht gegeben, mich zu schlagen? Und hast du nicht gehört? Das ist nicht, wonach es aussieht. Herr Byrone ist krank."

Elisa Elshers Gesicht hatte sich in ein leuchtendes Rot verwandelt. Sie griff sich an die Brust und zeigte wortlos auf Soleia, ihre Augen weit aufgerissen, aber die Augenbrauen zusammengezogen.

"Du... Du..." stotterte sie, aber Soleia beachtete sie nicht.

Sie kniete sich neben Ralph und half ihm auf die Füße. "Geht es Ihnen gut?" fragte sie.

Er nickte, nahm aber ihren ausgestreckten Arm nicht an. Stattdessen biss Ralph nur so fest auf seine Lippe, dass er Blut zog.

Soleia zog sich klugerweise zurück. Es schien, als würde ihre bloße Anwesenheit ihm Schmerzen bereiten. Aber wenn sie Ralph nicht in eine Schneewehe stieß, würde er sich höchstwahrscheinlich mitten im Korridor zu nichts verbrennen.

"Wenn ihr alle fertig mit Starren seid, holt Orion, damit er hilft!" rief Soleia und stemmte die Hände in die Hüften.

"Du wagst es, uns herumzukommandieren?" ereiferte sich Elisa. "Warum sollten wir ihn rufen? Damit mein Sohn mit eigenen Augen sehen kann, wie seine Frau ihn betrügt?!"

Wenn es echt wäre, wäre es Auge um Auge gewesen, wenn man bedenkt, dass genau das war, was er mit Elowyn getan hatte, aber Soleia sagte das nicht laut. Stattdessen schnaubte sie, ihr Pony flog, als sie schwer ausatmete.

Ohne sich um die entsetzten Schreie von Lucinda und Elisa zu kümmern, ging Soleia auf die Knie und zerrte Ralph praktisch hoch. Letzterer stieß ein unterdrücktes Stöhnen aus, als ihre Haut sich berührte, bevor er noch fester auf seine Lippe biss.

"Herr Byrone, bewegen Sie bitte Ihre Füße", sagte Soleia mit zusammengebissenen Zähnen, als sie den armen Ritter halb von der Veranda schleifte, ihre Arme schmerzten von der Anstrengung. Sir Ralph stieß ein gequältes Stöhnen aus, und Soleia entschuldigte sich in Gedanken, als sie ihn nach vorne stieß und ihn unzeremoniell mit dem Gesicht voran in den pudrigen Schnee fallen ließ.

In dem Moment, als Ralph den Schnee berührte, schien er in dessen kalte Umarmung zu schmelzen. Seine Augen waren friedlich geschlossen und ein Seufzer entwich seinen Lippen, sein Körper lag schlaff in der Kälte.

Gleichzeitig hallten drei neue Paare von Fußschritten durch die Gänge, und Soleia drehte sich gerade rechtzeitig um, um Auge in Auge mit Orion und Elowyn zu stehen. Lily folgte etwas hinter ihnen, scheinbar von allen anderen unbemerkt. Sie hielt ihre und Soleias Habseligkeiten in den Händen, ihre Augen huschten besorgt hin und her.

"Was soll dieser Aufruhr?" verlangte Orion zu wissen und trat vor. Seine Stirn runzelte sich noch tiefer, als er Ralph bemerkte, der wie tot im Schnee lag. "Was ist mit ihm passiert?"

"Mein lieber Sohn!" rief Elisa und fiel in seine Arme. Orion fing seine Mutter auf und ließ sie in seiner Umarmung wehklagen. "Sieh dir das an! Diese abscheuliche Hexe begeht Ehebruch direkt unter deiner Nase! Sie waren kurz davor, in den Gängen deines Hauses zu vögeln, wenn Lucinda und ich nicht rechtzeitig gekommen wären!"

"Herr Byrone wurde ein Aphrodisiakum verabreicht-" versuchte Soleia zu sagen, wurde aber unterbrochen.

"Von dir, zweifellos!" kreischte Lucinda. "Bist du so verzweifelt nach einem Mann, dass du mit dem Freund deines Mannes schläfst?"

Jedes Wort, das Lucinda sprach, ließ Orions Gesicht nur noch finsterer und finsterer werden.

"Das ist nicht wahr", erwiderte Soleia sofort und wünschte sich nichts sehnlicher, als zu dieser unsinnigen Frau hinüberzugehen und ihr ihre gerechte Strafe zu erteilen. "Ich fand ihn hier draußen auf der Veranda liegend vor, wie er versuchte, seine eigene Körpertemperatur zu senken. Anstatt zu streiten, als wären wir auf dem Marktplatz, sollten wir den Hausarzt rufen!"

"Du-!" Lucinda wollte nach vorne stürmen, wurde aber von Elisa zurückgehalten. Dem Blick ihrer Tante folgend, hielt sie den Mund, die Mundwinkel verzogen sich zu einem boshaften Grinsen, als sie erkannte, worauf Elisa anspielte.

Orion war vorgetreten und hatte Elowyns Seite verlassen. Er hielt erst an, als er fast Zehe an Zehe mit Soleia stand.

Soleia musste zugeben, Orion Elsher war ein einschüchternder Mann, selbst wenn er nur in einem einfachen Nachthemd gekleidet war. Er war so viel größer als sie, seine Schultern breit, sein Körper von straffen Muskeln durchzogen, und ein grimmiger Blick in seinen Augen, wann immer er sie ansah.

Dennoch weigerte sie sich wegzusehen und entschied sich stattdessen, seinen Blick zu erwidern. Sie war diesmal vorbereitet. Ihre Finger griffen unauffällig in ihre Tasche und umklammerten fest den kleinen Stab, den sie bei sich trug.

Es war eine ihrer neueren Erfindungen. Wenn er es wagen sollte, sie wieder zu schlagen, könnte sie ihn mit einem scharfen Schock lähmen, der von einem kleinen Topas abgegeben wurde. Sie hatte es noch nicht richtig an einem lebenden Subjekt getestet, aber Orion Elsher könnte ein gutes Versuchskaninchen sein, wenn er weiterhin auf ihren Nerven herumtanzte.

Orion hob seine Hand, und Soleia umklammerte den Stab fester, vorsichtig darauf bedacht, den Kristall selbst nicht zu berühren. Instinktiv streckte sie ihre andere Hand aus und legte sie auf seine Brust, um etwas Abstand zwischen ihnen zu halten, als er versuchte, noch näher zu treten. Der Stoff war dünn, und sie spürte die Wärme seiner Haut unter ihren Handflächen. Sein Herz schien unter ihren Händen zu schlagen.

Soleia bereitete sich auf den Aufprall vor.

Zur Überraschung aller kam der Schlag jedoch nicht. Stattdessen ließ er seinen Arm wieder an seine Seite fallen.

"Geh zur Seite."