Szene 1: Das geheime Versteck
Ryeons Atem ging schwer, als die junge Frau ihn durch die engen Gassen von Terviel zog. Die Geräusche des Marktplatzes verklangen hinter ihnen, ersetzt durch das dumpfe Echo ihrer eiligen Schritte auf dem Kopfsteinpflaster.
„Wo bringst du mich hin?" keuchte er.
„An einen sicheren Ort", antwortete sie ohne umzusehen.
Ryeon spürte, wie sich die Fäden um ihn herum bewegten – nicht nur die goldenen, die das Schicksal der Menschen bestimmten, sondern auch dunklere, schwerere Linien, die in den Schatten lauerten. Etwas war hier… etwas, das sich außerhalb seiner bisherigen Wahrnehmung befand.
Nach einer Weile erreichten sie eine unscheinbare Tür in einer verwinkelten Seitengasse. Die Frau klopfte dreimal, pausierte und klopfte dann zweimal schneller. Nach einem Moment öffnete sich die Tür mit einem leisen Knarren.
Drinnen war es dunkel. Nur das schwache Licht einiger Laternen beleuchtete den Raum, der nach altem Pergament, Wachs und etwas Metallischem roch. Als sich Ryeons Augen an die Düsternis gewöhnten, erkannte er hohe Regale voller Bücher und Schriftrollen, alte Karten und seltsame Symbole, die in die Holzbalken der Wände geritzt waren.
In der Mitte des Raumes stand ein langer Tisch, auf dem eine unfertige Stickerei lag – eine Webarbeit aus feinen goldenen und silbernen Fäden.
„Was ist das hier…?" flüsterte er.
Die Frau ließ ihn los und trat einen Schritt zurück. „Das ist einer der letzten Orte, an dem die Wahrheit über die Fäden noch bewahrt wird."
„Die Wahrheit?" Ryeons Blick wanderte von der Stickerei zu ihr.
„Alles, was du über die Fäden zu wissen glaubst, ist nur ein Teil der Geschichte", sagte sie. „Die Weber kontrollieren nicht nur das Schicksal. Sie manipulieren es."
Szene 2: Die verborgene Geschichte
Ryeon nahm langsam Platz, während die Frau sich ihm gegenüber niederließ.
„Du hast sie verändert, oder?" fragte sie, während sie eine Tasse dampfenden Tee einschenkte.
„Die Fäden? Ja… aber nicht absichtlich", gab Ryeon zu.
Die Frau nickte. „Ich bin nicht überrascht. Es gibt nur wenige, die das können. Und die Weber jagen sie alle."
Ryeon schluckte. „Wer bist du?"
Die Frau musterte ihn einen Moment, dann zog sie die Kapuze zurück.
„Mein Name ist Liora. Und ich war einmal eine Weberin."
Stille legte sich über den Raum.
„Eine Weberin?" Wiederholte Ryeon ungläubig.
Liora nickte. „Ich wurde in der Gilde der Weber ausgebildet. Man brachte mir bei, die Fäden zu lesen, sie zu verstehen… und sie zu lenken. Doch eines Tages entdeckte ich etwas, das ich nicht hätte wissen dürfen."
Ihre eisblauen Augen verengten sich. „Die Weber tun mehr, als das Schicksal zu bewahren. Sie schneiden Fäden ab. Sie manipulieren das Netz, um ihre eigene Macht zu erhalten. Sie entscheiden, wer lebt und wer stirbt."
Ryeons Magen zog sich zusammen. „Aber… warum?"
„Weil sie Angst haben", antwortete Liora. „Angst vor Menschen wie dir. Menschen, die den Lauf des Schicksals nicht nur sehen, sondern verändern können."
Ryeon schwieg.
Er erinnerte sich an den Moment auf dem Markt, an die Frau und den jungen Mann, deren Leben sich durch eine einzige Berührung verändert hatte. Er hatte gedacht, es sei ein Unfall. Aber war es das wirklich gewesen? Oder war es seine Bestimmung, die Fäden neu zu weben?
„Ich… ich will das nicht", murmelte er.
Liora betrachtete ihn ernst. „Das dachte ich auch einmal."
Dann stand sie auf und ging zu einem alten Schrank, aus dem sie eine kleine Schatulle nahm. Sie öffnete sie vorsichtig – darin lag eine silberne Klinge, so fein und scharf, dass sie fast unwirklich wirkte.
„Das hier", sagte sie leise, „ist eine Schicksalsklinge. Mit ihr kann man nicht nur Fäden berühren – man kann sie durchtrennen."
Ryeons Blick verharrte auf der Klinge. Ein unheimliches Gefühl kroch in ihm hoch.
„Die Weber besitzen viele davon", fuhr Liora fort. „Aber es gibt nur wenige, die sie benutzen können. Und ich glaube, du bist einer von ihnen."
Ein Schauer lief Ryeon über den Rücken.
„Ich will nichts zerschneiden", flüsterte er.
Liora sah ihn lange an. Dann schob sie die Schatulle langsam zu ihm herüber.
„Vielleicht nicht heute", sagte sie. „Aber bald wirst du keine Wahl mehr haben."
Szene 3: Das zerbrochene Muster
Die Stunden vergingen, während Liora Ryeon alles erklärte – über die verborgene Geschichte der Weber, über die wahren Kräfte der Schicksalsfäden und über die wenigen, die sich jemals gegen die Gilde gestellt hatten.
„Wenn du bleibst, kann ich dich lehren, deine Gabe zu kontrollieren", sagte sie schließlich.
Ryeon sah in ihr ernstes Gesicht. Dann wanderte sein Blick zur Klinge.
Er wusste, dass es keinen Weg zurück gab.
Draußen, jenseits der sicheren Mauern dieses Verstecks, warteten die Weber.
Und er war sich sicher, dass sie nicht lange warten würden.