Szene 1: Flucht ins Ungewisse
Ryeons Atem ging schwer, als er durch die engen, verwinkelten Gassen rannte. Die Nacht hatte sich über Terviel gelegt, doch die Stadt schlief nicht. In den Tavernen lachten betrunkene Männer, in dunklen Ecken tuschelten zwielichtige Gestalten. Doch Ryeon achtete auf nichts davon – nur auf die Schritte hinter ihm.
Die Weber waren noch da. Sie hatten ihn nicht verloren.
Neben ihm rannte die Fremde mit den silbernen Haaren lautlos durch die Schatten, als wäre sie selbst ein Teil davon. Sie hatte ihn gerettet, aber Ryeon wusste noch immer nicht, warum.
„Wohin bringst du mich?" keuchte er.
„Irgendwohin, wo sie dich nicht finden", antwortete sie kühl. „Noch."
Noch. Das Wort klang wie eine unausweichliche Warnung.
Plötzlich blieb sie stehen und zog Ryeon mit sich in eine enge Lücke zwischen zwei Häusern. Dort drückte sie ihn gegen die kalte Steinwand. Ihr Griff war fest, aber nicht brutal.
„Hör mir gut zu", flüsterte sie. Ihre eisblauen Augen glühten fast im Dunkeln. „Sie wissen, was du kannst. Und sie werden nicht aufhören, bis sie dich haben."
„Dann sag mir endlich, was hier los ist!" flüsterte Ryeon scharf zurück. „Wer sind sie? Warum jagen sie mich? Und vor allem – wer bist du?"
Die Frau schwieg kurz, als würde sie abschätzen, wie viel sie ihm erzählen konnte. Dann sprach sie leise:
„Ich heiße Lyara. Und ich gehöre zu den Zerrissenen."
Ryeons Stirn legte sich in Falten. „Den Zerrissenen?"
Lyara nickte. „Denjenigen, die sich vom Schicksal losgesagt haben."
Ryeon wollte eine weitere Frage stellen, doch dann hörte er es. Schritte. Ganz in der Nähe. Die Weber waren ihnen gefolgt.
Lyara griff nach etwas unter ihrem Mantel und zog einen kleinen Dolch mit silberner Klinge hervor. Ihre Haltung wurde angespannt.
„Halte dich bereit", zischte sie.
Dann tauchten die ersten Schatten der Weber in der Gasse auf.
Szene 2: Kampf gegen die Fäden
Ryeon hatte noch nie in seinem Leben gekämpft. Zumindest nicht so. Doch als die drei Weber in langen Mänteln und Kapuzen näherkamen, spürte er, dass er sich nicht verstecken konnte.
Einer der Weber hob die Hand – und dann sah Ryeon es.
Ihre Fäden waren anders als die, die er sonst sah. Statt goldener, sanfter Linien waren es dunkle, unruhige Stränge, die in der Luft zitterten, als würden sie von einer unbekannten Macht gepeitscht.
„Ergreift ihn", befahl eine Stimme.
Lyara reagierte zuerst. Sie sprang nach vorn, ihr Dolch blitzte im Mondlicht. Der erste Weber wich aus, doch sie bewegte sich blitzschnell und rammte ihm das Knie in den Bauch.
„Ryeon!" rief sie. „Nutze deine Gabe!"
Doch Ryeon wusste nicht, wie. Er konnte die Fäden sehen, aber er wusste nicht, wie er sie beeinflussen konnte.
Ein Weber stürmte auf ihn zu. Instinktiv hob Ryeon die Hände – und spürte plötzlich ein Ziehen.
Die Fäden.
Sein Blick flog zu dem Mann vor ihm. Der dunkle Faden, der von ihm ausging – Ryeon wusste nicht, warum, aber er griff danach.
Ein Schock durchzuckte ihn.
Er fühlte das Leben des Mannes, seine Vergangenheit, seine Entscheidungen – und dann, ohne zu wissen, wie, verdrehte er den Faden.
Der Weber stolperte mitten im Lauf und fiel mit einem Keuchen nach vorn. Sein Körper krümmte sich, als hätte eine unsichtbare Hand ihn zu Boden gezwungen.
Ryeon keuchte.
Er hatte es wieder getan.
Lyara warf ihm einen kurzen Blick zu – einen Blick, der Überraschung, aber auch Bestätigung zeigte.
Doch es war noch nicht vorbei.
Die restlichen Weber hatten genug gesehen. Einer von ihnen hob die Hände, und plötzlich fühlte Ryeon, wie sich die Luft um ihn herum veränderte.
Etwas war anders.
Und dann sah er es.
Sein eigener Faden begann zu flackern.
„Was…?"
Ein eiskaltes Gefühl kroch in seine Brust. Die Weber griffen nicht nur nach ihm – sie griffen nach seinem Schicksal selbst.
Ryeon war in die Falle getappt.
Szene 3: Die Wahl des Schicksals
„Ryeon! Lauf!" Lyara schrie, aber ihre Stimme klang fern.
Er konnte sich nicht bewegen.
Die dunklen Fäden um ihn herum zogen sich enger, wie ein Netz, das ihn verschlingen wollte. Er spürte, wie seine Kraft schwand.
„Du hast das Schicksal verändert", murmelte einer der Weber. Seine Stimme klang wie ein Echo aus einer anderen Welt. „Und nun wird das Schicksal dich verändern."
Ryeon wollte schreien. Widersprechen. Doch seine Lippen bewegten sich nicht.
Dann, in einem letzten verzweifelten Versuch, griff er nach etwas – nach irgendetwas.
Seine Finger berührten einen Faden.
Nicht seinen eigenen.
Lyaras.
In einem einzigen Augenblick sah er ihr ganzes Leben. Die Flucht. Der Kampf. Die unzähligen Momente, in denen sie sich gegen ihr vorherbestimmtes Schicksal aufgelehnt hatte.
Und er verstand.
Schicksal war kein Käfig. Es war ein Gewebe – und jedes Gewebe konnte neu gesponnen werden.
Mit einem letzten Kraftaufwand zog Ryeon an dem Faden.
Ein Riss ging durch die Luft.
Die dunklen Fäden um ihn zerrissen.
Die Weber schrien auf, als wäre etwas tief in ihrem Inneren erschüttert worden.
Lyara griff nach seiner Hand, und plötzlich war alles in Bewegung.
Sie rannten.
Durch die Gasse, hinaus in die Nacht.
Hinter ihnen erhob sich ein wütendes Dröhnen – das Geräusch eines Schicksals, das neu geschrieben wurde.
Doch Ryeon wusste, dass dies erst der Anfang war.