Kapitel 6: Die verborgene Weberei

Ryeon spürte das Pochen seines eigenen Herzens, als er der jungen Frau mit den silbernen Haaren durch die engen Gassen folgte. Die Stadt Terviel war nachts ein anderes Wesen – dunkle Schatten krochen aus den verwinkelten Ecken, und das monotone Murmeln des Tages war durch das entfernte Klirren von Waffen und leise, verschwörerische Stimmen ersetzt.

„Beeil dich", zischte die Frau ohne sich umzusehen. Sie bewegte sich mit einer Leichtigkeit, die Ryeon verwirrte. Ihre Füße berührten kaum den Boden, als wäre sie ein Geist, der durch die Nacht glitt.

„Wer bist du?" fragte Ryeon erneut. Er hasste es, im Dunkeln gelassen zu werden – sowohl wortwörtlich als auch im übertragenen Sinne.

Die Frau hielt abrupt an. Er konnte nicht mehr rechtzeitig abbremsen und wäre fast in sie hineingelaufen. Ihre eisblauen Augen funkelten im schwachen Licht einer Laterne.

„Mein Name ist Selyne", sagte sie. „Und wenn du weiterleben willst, dann stell nicht zu viele Fragen."

Ryeon schnaubte, aber er wusste, dass dies nicht der Moment für Widerspruch war. Also folgte er ihr weiter, bis sie eine alte, heruntergekommene Tür erreichten, die kaum in das Mauerwerk passte. Selyne klopfte dreimal in einem bestimmten Rhythmus, und nach einer kurzen Pause ertönte ein mechanisches Klicken. Die Tür schwang lautlos auf.

„Rein da", befahl sie.

Ryeon trat vorsichtig ein, und sofort umfing ihn eine andere Welt. Die stickige Nachtluft von Terviel wich einem großen Raum voller Kerzen, die an den Wänden tanzende Schatten warfen. Der Raum roch nach altem Pergament und einer undefinierbaren Mischung aus Kräutern. An den Wänden hingen kunstvolle Wandteppiche, die mit feinen goldenen Fäden durchzogen waren.

Doch was Ryeon den Atem raubte, waren die Fäden.

Sie waren überall.

Goldene Linien schwebten in der Luft, zogen sich durch den Raum, über die Köpfe der Anwesenden hinweg, durch Türen und Wände. Es war, als sei dies der Knotenpunkt, an dem die Schicksalsfäden zusammenliefen.

„Willkommen in der Weberei", sagte Selyne und schloss die Tür hinter sich.

Die Hüter des Schicksals

„Die… Weberei?" wiederholte Ryeon langsam.

Selyne nickte und trat an einen großen Tisch in der Mitte des Raumes, auf dem ein alter, kunstvoll verzierter Webstuhl stand. Darauf lag ein halbfertiger Teppich, in den feine Fäden eingewoben waren – einige golden, einige silbern, einige schwarz wie die tiefste Nacht.

„Hier wird das Schicksal gewebt", erklärte eine tiefe Stimme aus dem Halbdunkel.

Ryeon drehte sich ruckartig um.

Ein älterer Mann trat aus den Schatten. Sein Haar war grau, sein Gesicht voller Falten, doch seine Augen waren lebendig – und sie leuchteten im schwachen Kerzenschein wie flüssiges Gold. Seine Kleidung war schlicht, doch an seinen Händen glänzten silberne Ringe mit eingravierten Symbolen.

„Du hast den Faden berührt", sagte der Mann mit einer Mischung aus Bewunderung und Besorgnis. „Das ist… ungewöhnlich."

Ryeon zögerte. „Ihr… ihr wisst davon?"

„Natürlich." Der Mann trat näher, und erst jetzt erkannte Ryeon, dass sein rechter Arm von feinen, schimmernden Linien durchzogen war – als wären die Fäden in seine Haut eingebrannt. „Nur sehr wenige Menschen können die Fäden sehen. Noch weniger können sie beeinflussen. Und niemand sollte es tun."

„Warum?" fragte Ryeon. „Wenn ich das Schicksal verändern kann, ist das nicht etwas Gutes?"

Selyne schüttelte den Kopf. „Schicksal ist wie ein Fluss", sagte sie. „Man kann einen Stein hineinwerfen, aber man weiß nie, welche Wellen er schlägt. Vielleicht rettest du ein Leben… aber du zerstörst damit fünf andere."

Ein kaltes Gefühl breitete sich in Ryeons Magen aus. „Dann… was soll ich tun?"

Der ältere Mann musterte ihn lange. „Du musst lernen, die Fäden zu verstehen. Und du musst lernen, wann du eingreifen darfst – und wann nicht."

„Und wenn ich das nicht will?"

Selyne und der Mann tauschten Blicke. Dann seufzte der Ältere. „Dann werden die Weber dich finden. Und sie werden dich vernichten."

Die Gefahr der Weber

Ryeon schluckte. Die Erinnerung an die schwarzen Mäntel der Weber war noch frisch. Er konnte immer noch ihre schattenhaften Gestalten vor seinem inneren Auge sehen, die Art, wie sie sich durch die Menge bewegten – unaufhaltsam, furchteinflößend.

„Warum jagen sie mich?" fragte er leise.

Selyne verschränkte die Arme. „Die Weber bewahren das Gleichgewicht. Sie sorgen dafür, dass niemand die Fäden manipuliert, außer denen, die dazu bestimmt sind. Für sie bist du… eine Bedrohung. Eine Anomalie, die nicht existieren sollte."

„Also werden sie nicht aufhören?"

Der ältere Mann nickte. „Nein. Und je stärker du wirst, desto mehr werden sie dich jagen."

Ryeon biss die Zähne zusammen. Er hatte sich nie als jemanden gesehen, der für große Dinge bestimmt war. Er war nur ein gewöhnlicher Mann in einer Stadt voller Leben. Doch nun war er in etwas hineingezogen worden, das weit über ihn hinausging.

„Wenn ich also überleben will… muss ich lernen, mit dieser Macht umzugehen?"

„Genau", sagte Selyne mit einem dünnen Lächeln. „Und glaub mir – das wird nicht leicht."

Ein neues Schicksal

Die nächsten Stunden vergingen in einem Wirbel aus Informationen, Erklärungen und Demonstrationen. Der ältere Mann, dessen Name Althar war, zeigte Ryeon, wie sich die Fäden verhielten. Er erklärte, dass manche Fäden dicker waren – Zeichen für starke Schicksalslinien –, während andere dünn und zerbrechlich wirkten.

„Manche Fäden sind vorbestimmt", sagte Althar, während er sanft über einen goldenen Strang strich. „Andere… können verändert werden. Doch jede Veränderung hat Konsequenzen."

Ryeon versuchte, sich alles einzuprägen, aber sein Kopf dröhnte vor neuen Informationen.

„Genug für heute", sagte Selyne schließlich und streckte sich. „Morgen beginnt dein Training."

„Training?" Ryeon runzelte die Stirn.

Selyne grinste. „Hast du wirklich geglaubt, dass du einfach nur ein paar Vorträge hören wirst? Wenn du überleben willst, musst du lernen, dich zu verteidigen – gegen die Weber, gegen das Schicksal und vielleicht auch gegen dich selbst."

Ryeon spürte eine kalte Gänsehaut auf seinen Armen. Er wusste nicht, worauf er sich einließ. Doch eines war sicher: Sein Leben würde nie wieder so sein wie zuvor.