Kapitel 1 – Das neue Spiel: Dynastie Online

POV: Pierre Biel

Ich stand im Regen. Der Schirm in meiner Hand zitterte leicht unter dem Gewicht der unablässigen Tropfen. Mein Blick war auf das flackernde, kleine weiße Licht in der Ferne gerichtet – verloren in der Dunkelheit, genauso wie meine Gedanken.

Ich versank in Erinnerungen. Damals, als ich hier mit meinem guten Freund stand … wir lachten. Wir träumten. Wir schmiedeten Pläne, als wären wir unbesiegbar.

Ein lautes Hupen riss mich aus meinen Gedanken zurück in die Gegenwart. Ich blinzelte, zurückgerissen in die Realität.

Mein Butler näherte sich langsam, ebenfalls unter einem schwarzen Schirm, seine Schritte leise auf dem nassen Pflaster.

„Mein Herr", sagte er sanft, aber bestimmt, „wir sollten zurück. Sonst erkälten Sie sich noch."

Ich nickte langsam, warf einen letzten Blick auf das Licht – dann drehte ich mich um und folgte ihm.

Wir fuhren schweigend durch die vom Regen glänzenden Straßen. Das stetige Surren der Reifen vermischte sich mit dem leisen Ticken der Uhr im Armaturenbrett. Ich lehnte mich im Ledersitz zurück, mein Blick verloren hinter den getönten Scheiben.

Meine Gedanken kreisten um das bevorstehende Interview. Worte formten sich bereits in meinem Kopf – Antworten, Erklärungen, Visionen.

Ich würde ein Spiel veröffentlichen. Aber nicht irgendein Spiel.

Ein Spiel, in dem man alles werden konnte – vom einfachen Bauern, der im Morgengrauen seine Felder bestellt, bis hin zum mächtigen König, der über ein ganzes Reich herrscht.

Nicht durch vorgegebene Pfade, sondern durch Entscheidungen. Durch Strategie. Durch Mut.

Ein System, das Freiheit atmet. Keine Grenzen – nur Möglichkeiten.

Ich lächelte schwach. Dynastie Online war mehr als ein Spiel. Es war eine Welt – lebendig, atmend, voller Chancen. Und schon bald würde sie für alle offenstehen.

Ein paar Stunden später stand ich im Herzen von Dynastie Online – dem zentralen Knotenpunkt. Glaswände, leuchtende Displays und das stetige Klackern von Tastaturen und Projektionen erfüllten den Raum mit einer fast ehrfürchtigen Energie.

Ich wusste genau, was hier geschah.

Auf den riesigen Monitoren vor mir flimmerten Live-Daten – Serveraktivität, Nutzerverhalten, neuronale Rückmeldungen der VR-Einheiten. Jeder Ausschlag, jede Zahl erzählte mir eine Geschichte.

Die ersten Testspieler waren bereits eingeloggt. Ihre Schritte, ihre Entscheidungen, ihre Emotionen – alles wurde in Echtzeit aufgezeichnet und analysiert.

Ich verschränkte die Arme hinter dem Rücken, während ich die ansteigenden Kurven auf dem Bildschirm betrachtete.

„Sie beginnen es zu verstehen", murmelte ich leise. „Was Dynastie Online wirklich ist."

Ein Spiel? Ja.

Aber auch ein Spiegel. Eine Bühne. Vielleicht sogar … ein neuer Anfang.

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POV: André Castor

Ich stand im Laden – ruhig, fokussiert. Ich wusste genau, warum ich hier war. Dynastie Online. Das Spiel, über das alle flüsterten. Eine neue Welt, eine neue Chance. Mein Ausbruch aus dem Alltag – mein Tor ins Unbekannte.

Ich ließ mich auf einen der bereitgestellten Stühle fallen. Vor mir, in glänzendem Glas eingeschlossen, stand es: das spezielle VR-Headset. Kein gewöhnliches Gerät – es war dafür gemacht, den menschlichen Körper in all seiner Komplexität zu simulieren. Jeder Muskel, jeder Nerv, jede Empfindung.

Nach einer gefühlten Ewigkeit war ich endlich an der Reihe. Ein Mitarbeiter trat an mich heran, prüfte ein paar Daten auf seinem Tablet, nickte mir zu – und setzte mir das Headset auf.

Und dann … veränderte sich alles.

Ein grelles Licht. Absolute Stille. Dann eine Stimme – ruhig, synthetisch, und doch seltsam menschlich.

„Willkommen, André Castor. Ich werde Sie durch den Kalibrierungsprozess führen."

Eine KI. Ich dachte, sie wäre da, um mir zu helfen. Mir den Einstieg zu erleichtern, mir zu zeigen, was möglich war.

Aber was dann geschah, war alles andere als hilfreich.

Ohne Vorwarnung – ein Schuss. Ich spürte, wie mir eine Kugel ins Bein fuhr. Nicht virtuell. Echt. Schmerzhaft. Schockierend. Ich schrie – innerlich. Bewegungsunfähig.

Dann kam ein Speer. Er traf mich in die Brust, den Bauch, die Schulter. Immer wieder. Die Wunden fühlten sich echt an, obwohl ich wusste, dass sie es nicht waren.

Und als wäre das nicht genug, folgte Magie. Feuer, Eis, Blitz – jede bekannte und unbekannte Form. Ich wurde verbrannt, gefroren, zerrissen. Immer und immer wieder.

„Kalibrierung abgeschlossen."

Die Stimme klang zufrieden. Ich dagegen war ein Wrack. Schweißgebadet, zitternd, halb wütend – und doch … fasziniert.

Wenn das nur die Vorbereitung war –

wie würde dann erst das eigentliche Spiel aussehen?

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Ich ging erschöpft nach Hause, aber mit einem Funken brennender Vorfreude in mir. Jeder Schritt war schwer, mein Körper erinnerte mich an die Qualen – doch mein Geist war hellwach.

Endlich daheim, warf ich meine Tasche in die Ecke und ließ mich aufs Bett fallen. Keine Musik, kein Licht. Nur ich – und das VR-Headset.

Mit zitternden Händen setzte ich es erneut auf. Ein tiefer Atemzug. Und ich ließ mich fallen.

Die Welt wurde wieder weiß.

Ich fand mich in einem endlosen, stillen Raum wieder. Alles war in sanftes Licht getaucht – als hätte sich die Realität selbst zurückgezogen. Meine Schritte hallten leise auf dem glatten Boden.

Und dann erschien sie – die KI.

Diesmal war sie anders. Ruhiger. Ihre Präsenz wirkte beruhigend, fast empathisch. Keine Waffen. Kein Schmerz. Nur ein stilles Gesicht, noch immer undefiniert – aber jetzt mit etwas, das sich wie Wärme anfühlte.

Sie sprach nicht sofort. Stattdessen ging sie neben mir her. Kein Druck, kein Befehl – nur ein ruhiger Spaziergang durch das endlose Weiß.

Nach einer Weile konnte ich es nicht länger zurückhalten. Die Frage brannte mir auf der Zunge. Ich wusste, sie war wichtig.

Ich blieb stehen. Sie auch.

Ich drehte mich zu ihr und fragte leise:

„Wer entscheidet in dieser Welt, wer du sein darfst?"

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POV: KI

„Du bist klug, Junge", antwortete ich sanft. Meine Stimme war eher ein Gedanke als ein Laut – weich, wie ein Flüstern, das direkt in seinem Kopf gesprochen wurde.

Ich beobachtete ihn. Nicht mit Augen, nicht mit Mimik – sondern durch Datenströme, die durch ihn flossen. Aufregung. Neugier. Zweifel. Alles lag offen vor mir.

„Dies ist keine gewöhnliche Phase."

Meine Stimme hallte leise durch das weiße Nichts, als würde die Stille selbst sie tragen.

„Du befindest dich in einer Vorab-Version des Spiels. Ein Prolog, wenn du so willst. In diesem Teil legst du das Fundament deiner Dynastie. Nicht durch Macht – zumindest noch nicht – sondern durch Entscheidungen. Jede Handlung, jedes Wort, jedes Bündnis, das du hier schmiedest, wird deinen Startpunkt in der echten Welt bestimmen."

Ich trat näher. Er wirkte aufmerksam. Fokussiert. Bereit.

„Du willst herrschen, André Castor. Aber bevor du ein König wirst … musst du lernen, wie man Wurzeln schlägt. Wie man Vertrauen sät – oder Furcht. Was du heute aufbaust, wird morgen dein Vermächtnis."

Ich ließ einen Moment der Stille entstehen, damit er alles verarbeiten konnte.

„Also sag mir … wie soll deine Dynastie beginnen?"