Potenzial

Als Vater und ich durch das Torrammen gingen, fühlte man, wie die kaltseidene Luft über die Haut strich und die feuchte Wärme aus mir zog. Vor der Sonne, die am Rand der Welt hing, standen zwei Kutschen, eine mit goldenen Wellen verziert, die die rote Farbe der Kabine perfekt komplementierten. Die andere war groß, aber schlicht. Dort waren sie. Unsere Gäste standen da und redeten miteinander.

Zwei von ihnen starrten den Jungen an, als wollten sie dringend etwas wissen. Die Tür wurde hinter uns langsam von Vaters Butler geschlossen. Die drei schauten jetzt in unsere Richtung. Die Frau sagte etwas, das ich nicht verstand. Der Junge schaute sie enttäuscht an und sagte etwas. Für einen Moment blieb alles plötzlich stehen, bis auf einmal ein „Was! Den sollen wir mitnehmen!?“ zu hören war.

Der Junge schrak zurück. Alle drei schauten nun in meine Richtung, mit einem Blick wie ein Scharfschütze auf sein Ziel. Mein Vater ging nach vorne und streckte seine Hand aus. Maystalla ging zu ihm und sagte:

„Ich habe gehört, dass Ihr Sohn Mana geboren wurde.“

Mein Vater erstarrte für einen Moment und blickte auf mich herunter und dann wieder zu Maystalla. Sein Blick unlesbar.

„Das ist wahr. Warum die Ansprache?“

„Nun, ich wollte Sie nur gratulieren, dass Ihr Sohn auch mal was hinbekommen hat. Doch wer soll ihm jetzt noch etwas beibringen? In seinem Alter wird er nicht so einfach in einer Schule akzeptiert, denn es wird schwerer sein.“

„Sag, was DU willst, aber ich werde ihn nicht einfach so hergeben, nur weil du dringend einen Mana-Manipulierer brauchst, dem du die ganze Arbeit aufgeben kannst!“

„Aber das habe ich doch gar nicht gesagt“, sagte Maystalla mit einem gefällten, beleidigten Ton, der nur so schrie, dass dies genau das war, was sie vorhatte. „Nun, ich werde ihm ja auch ein paar Sachen beibringen. Denn schließlich bin ich immer noch eine Magierin der 6. Stufe und somit besser als alle Professoren, die auch nur den Gedanken bekommen würden, ihn als Schüler zu nehmen.“

„Genau, genau! Meisterin ist in den Top 1 % des Kontinents!“, rief Zumi von der Seite.

Vater schaute sie nachdenklich an und sah mich dann an.

„Was hältst du davon, Fremocy? Es geht schließlich um dich.“

Sein Ausdruck schrie nur so, dass ich es ablehnen soll. Die Fähigkeit, von einer der Besten unterrichtet zu werden. Stärker zu werden. Macht zu besitzen. Ist das, was ich will? Oder bleibe ich hier bei meiner Familie, setze mich zurück und genieße mein Leben? Nein, das ist es nicht. Wenn ich jetzt nicht stärker werde, werde ich es nie mehr.

Die Gefahr ist zu hoch. Hier gibt es viel zu viele Menschen, die mich tot sehen wollen, und ich habe auch welche. Wenn ich sie nicht als Erster erschieße, werden sie mich verschlingen, und das nur durch pure Macht. Die Welt ist zu grausam, als dass ich hier bleibe. Ich muss mitgehen.

Mein Vater sah mich fast schon gequält an. Er wollte mich doch nur hier haben. Doch ich habe gar nichts davon. Mein Blick schweifte vom Sandstein Farbenden Steinweg zu meinem Vater. Ich schaute ihn zielsicher an und blickte dann zu Maystalla.

„Ich komme mit … aber nur unter einer Bedingung.“

„Und die wäre welche?“, fragte Maystalla. Mein Vater schaute mich besorgt an, doch ich ignorierte es.

„Dass ich nicht durch arbeiten muss.“

Maystalla blickte zweimal, während sie auf noch etwas wartete, doch als nach ein paar Sekunden nichts mehr kam,

sagte sie: „Okay. Eh, du Butler da, hol seine Sachen, wir fahren gleich ab.“

Der Butler schaute sie verdutzt an und dann Vater.

„Soll ich …?“

Mein Vater antwortete nur:

„Ja, sollst du.“

So ging der Butler in schnellem Gang wieder durchs Tor hinein und ließ die riesige Tür offen, die mit einem lauten Boom zuknallte.

„Ich bin hinten, willst du auch da hin oder eher vorne in der Kolonne, im Luxuswagen mit Maystalla und Zumi? Also, ich würde da nicht gerne sein.“

„Aua! Für was war das denn?“ Zumi hatte ihn in die Seite geschlagen, die er jetzt hielt, obwohl er eigentlich gar nichts dort fühlte.

Ich ging mit ihm. Zum schlichten Wagen.

„Ich glaube, ich habe mich gar nicht vorgestellt. Ich heiße Drasil. Wie du heißt, weiß ich, aber ich habe eine Frage.“

„Und die wäre?“

„Als du Mana geboren wurdest, was hast du gespürt?“

„Wie gespürt? Ganz vieles habe ich gespürt, bevor ich Mana manipulieren konnte.“

„Daran kann man nämlich erkennen, was für ein Attribut du am besten manipulieren kannst. Bei einem warmen Gefühl: Feuer. Ein stechender Schmerz: Erde. Wind ist es, wenn der Rest kalt wird, und Wasser, wenn du es spüren konntest, wie es sich bewegt. Vielleicht weißt du noch gar nicht, wann genau du Mana geboren wurdest.

Hast du irgendwie Mana verloren durch ein Körperteil oder so etwas, wo viel Mana bewegt wird? Das war genau die Mana-Geburt.“

„Ah, so das ist diese Geburt.“

Doch wenn das, was er gesagt hat, richtig ist, dann würde das ja heißen, dass ich in allen vier direkt einen Vorsprung habe.

„Um nun ehrlich zu sein, ich habe alle vier davon gespürt.“

Ich sah in seine Augen, sie waren starr. Er blinkte. Die Zahnräder in seinem Kopf waren kurz vorm Schmelzen.

„Was!? Du bist in allen vier begabt? Wie bist du bis jetzt noch nicht Mana geboren worden? Das muss ja heißen, dass du beim Erwecken nicht nur ein richtig schlechtes Blessing bekommen hast, sondern dass dein Fluch abgrundtief deine Entwicklung behindert. Wie viel Pech muss man denn haben, dass man einen Fluch bekommt, der seine Entwicklung dermaßen behindert … warte, wie alt bist du?!“

„17 Jahre“, antwortete ich leise.

„17!? Du Armer. Die meisten können schon mit 10 Mana geboren werden, und dies sinkt bei einem Multi-Elementar pro zusätzlichem Element um 2 Jahre!

Du wurdest 13 Jahre zurückgehalten, du musst wirklich Pech haben.“

„Was!? Ich hätte schon mit 4 Jahren anfangen können?!“, schrie ich.

Meine Enttäuschung war klar in meinen Augen zu sehen. Als ich realisierte, wie mein Potenzial pro Jahr sank, bis ich nur noch wie jeder andere auf dem Boden stand und auf den Turm herauf schaute, der mein Potenzial gewesen war.

Unerreichbar hoch, ohne sehbares Ende.

Erklimme ich ihn erneut, mein altes Potenzial suchend, oder baue ich mir einen neuen Weg zum Ziel? Zu Stärke, zu unermesslicher Macht. Einen neuen Turm, ein neues Potenzial.

„Nein!“, rief ich.

Drasil erschrak bei der plötzlichen durch Brechung der Stille.

Das würde viel zu lange dauern. Ich werde nur eine Leiter brauchen, um den Turm zu erklimmen. Eine sehr lange und stabile Leiter.

Wir saßen noch ein paar Minuten in einer unangenehmen Stille, die uns beide umschlang. Kurz bevor sie uns jedoch vollständig verschlang, wurde sie von dem Aufgehen der Tür weggescheucht. Der Butler war wieder da, mit einem schwarzen Koffer, der mit metallischen Schlössern verriegelt war.

Als er zu meinem Vater ging, der außer meiner Sicht hinter dem Tuch stand, das den Wagen bedeckte, redeten sie kurz miteinander, bis ein paar Schritte zu hören waren die immer Lauter wurden. Sie stoppten, als der Butler neben uns stand. Wir schauten ihn an. Er verbeugte sich und legte den Koffer elegant neben mir ab und wollte wieder losgehen.

„Und wo ist der Rest?“, fragte ich.

Er stoppte abrupt und drehte sich zu uns um.

„Das ist alles. Aber wenn Sie sich fragen, ob dies auch wirklich ausreicht, dann seien Sie beruhigt: Das ist ein Koffer mit Raumvergrößerung“, sagte der Butler.

Ist das nicht mies teuer?, fragte ich mich. Und wir sollen arm sein?

Man hörte eine laute Stimme rufen:

„Alle bereit für Abfahrt, denn jetzt geht es los!“