Psychologische Auswertung

(Rodova Militärakademie – Kammer für psychologische Beurteilung)

Als Leo den Beurteilungsraum betrat, fiel sein Blick sofort auf einen einzelnen Mann, der auf der anderen Seite eines langen Metalltisches saß.

Der Mann trug einen tadellosen weißen Kittel, seine Haltung war ruhig und gefasst, während er durch eine dicke Akte blätterte.

Anders als die Ausbilder draußen strahlte dieser Mann weder Bedrohung noch Autorität aus. Sein Gesichtsausdruck war neutral, fast freundlich, als ob er ein lockeres Gespräch führen wollte und kein Verhör.

Aber Leo wusste es besser.

Der Raum selbst verriet die wahre Natur dessen, was gleich passieren würde.

Die Wände waren aus verstärktem Stahl, ohne Fenster, während ein einzelnes Deckenlicht einen klinischen Schein über die metallischen Oberflächen warf.

Hinter dem Psychologen summte leise eine komplexe Maschine, Kabel führten von ihrer Basis zum gegenüberliegenden Stuhl, was Leo als die Einrichtung für den Lügendetektor vermutete.

"Bitte, nehmen Sie Platz." Der Psychologe sagte es, als er endlich aufblickte und Leo ein freundliches Lächeln schenkte.

Leo zögerte für den Bruchteil einer Sekunde, bevor er sich auf den Stuhl setzte, während der Psychologe ihm zustimmend zunickte.

*Rumms*

Die dicke Akte schließend, stellte der Psychologe Blickkontakt mit ihm her, bevor er sich über den Tisch zu ihm lehnte und sagte: "Aus Protokollgründen möchte ich mich vorstellen. Ich bin Dr. Adrian Kessler, und ich werde heute Ihre psychologische Beurteilung durchführen."

Die Art, wie er sprach, war ungezwungen, fast freundlich.

Aber Leo ließ sich von seiner Freundlichkeit nicht täuschen.

Nach dem Zustand des vorherigen Studenten zu urteilen, der aus diesem Raum geschleift worden war, verstand Leo, dass dies alles andere als ein freundliches Gespräch war.

Um den Ausbilder jedoch nicht zu verärgern, hielt er seinen Gesichtsausdruck unleserlich und behielt den stetigen Blickkontakt mit dem Psychologen bei, während er sich weigerte, irgendetwas preiszugeben.

Für einige Momente sprach keiner von beiden.

Dann lehnte sich der Psychologe in seinem Stuhl zurück und atmete aus, als ob er sich amüsiert fühlte.

"Sabrina, verabreichen Sie das Wahrheitsserum und schließen Sie ihn an die Maschine an. Verwenden Sie eine höhere Dosierung – dieser hier hat ein starkes Gehirn."

Auf sein Zeichen hin betrat eine Assistentin den Raum und bewegte sich mit geübter Leichtigkeit. Ein Tablett mit medizinischen Utensilien ruhte in ihren Händen, das leise Klirren von Glasfläschchen durchbrach die Stille.

Sie schenkte Leo kaum einen Blick, als sie sich näherte.

"Rechter Arm," sagte sie tonlos.

Leo gehorchte, krempelte seinen Ärmel hoch, während sie einen kalten antiseptischen Tupfer über seine Haut strich.

Währenddessen sprach der Psychologe weiter.

"Neugierig zu erfahren, warum ich dich als jemanden mit einem 'starken Gehirn' markiert habe?" fragte er in einem amüsierten Ton, als Leo eine Augenbraue hochzog.

"Weißt du, Leo, nicht viele Studenten können Blickkontakt mit mir halten. Besonders nicht, wenn ich meine Aura-Fähigkeit [Einschüchterung] aktiviert habe." Adrian sagte es mit einem Lächeln, während er Leo sorgfältig beobachtete und seine Reaktion abwog.

"Die meisten Rekruten beginnen zu zappeln, sobald sie mir gegenübersitzen. Sie benehmen sich wie Mäuse, die in einem Käfig mit einer hungrigen Katze gefangen sind. Aber du? Du hast nicht gezuckt. Und das finde ich... ziemlich beeindruckend."

In diesem Moment spürte Leo den Stich einer Nadel, die in seine Haut eindrang.

"Sabrina verabreicht dir jetzt das Wahrheitsserum," fuhr Adrian fort, seine Stimme geschmeidig. "Es wird deine Hemmungen lockern, dich weniger nachdenken lassen, bevor du sprichst. Von hier an werden wir ein nettes, ehrliches Gespräch führen."

Leo antwortete nicht.

Adrian lächelte, als ob er auch das amüsant fände.

"Weißt du," sinnierte er, "es gibt nur zwei Arten von Menschen, die meiner [Einschüchterung]-Fähigkeit widerstehen können."

Er hob einen einzelnen Finger.

"Erstens, diejenigen, die in einer rauen Umgebung aufgewachsen sind – auf der Straße, ständig um ihr Leben kämpfend, ums Überleben ringend. Solche Menschen frühstücken, zu Mittag essen und zu Abend essen Einschüchterung. Sie lassen sich nicht leicht erschrecken."

Dann hob er einen zweiten Finger.

"Und zweitens – diejenigen, die in adligen Häusern geboren wurden, aufgewachsen um hochrangige Krieger, die ständig Einschüchterungsaura ausstrahlen. Sie werden immun dagegen."

Er neigte seinen Kopf leicht, sein scharfer Blick auf Leo fixiert.

"Also, welches davon ist es? Straßenratte oder Adliger?"

Leo blieb still und spürte die ungewohnte Wärme des Serums, die sich durch seine Adern ausbreitete.

Aber als die Sekunden verstrichen, bemerkte er etwas Beunruhigendes.

Sein Verstand begann sich... benebelt anzufühlen.

Ein seltsamer Nebel legte sich über seine Gedanken und dämpfte die Schärfe seines Bewusstseins. Seine Sicht verschwamm an den Rändern, und ein leises Klingeln summte im Hinterkopf.

"Ich habe dir eine Frage gestellt, Leo."

Doktor Adrians Stimme durchschnitt den Nebel, ruhig, aber erwartungsvoll. Sein Gesichtsausdruck blieb vollkommen gefasst, aber in seinem Blick lag eine gewisse Schärfe.

"Welches ist es? Eins oder zwei?"

Leo starrte ihn an, aber keine Antwort kam.

Der Doktor seufzte und tippte mit den Fingern gegen den Metalltisch.

"Sabrina, was war die Dosis? 0,75?"

Die Assistentin schüttelte den Kopf. "0,9."

Adrian blinzelte, dann ließ er ein amüsiertes Kichern hören.

"0,9 und er hält immer noch durch? Das ist selten." Er lehnte sich leicht zurück, ein Grinsen spielte um seine Lippen. "In Ordnung. Verabreichen Sie zusätzlich 0,3ml Halluzinationsserum. Mal sehen, wie viel von dieser Willenskraft überlebt, wenn die Realität keinen Sinn mehr ergibt."

Sabrina zögerte nicht.

Ein weiterer scharfer Stich.

Eine weitere Injektion.

Und dann—

Die Welt zerbrach.

Leos Atem stockte, als die Farben um ihn herum sich verdrehten und auf unnatürliche Weise ineinander übergingen.

Die Wände schienen zu pulsieren. Der Tisch vor ihm dehnte sich aus und schrumpfte in ungleichmäßigen Wellen.

Seine Sicht verdreifachte sich – er begann drei Ärzte, drei Assistentinnen zu sehen, alle bewegten sich in unterschiedlichen Geschwindigkeiten.

Ein tiefes Summen erfüllte seine Ohren, stieg und fiel wie fernes Flüstern.

Es fühlte sich an, als würde sein Verstand schweben, losgelöst von seinem Körper.

Doch – irgendwie – tief unter all dem blieb ein Teil von ihm... bewusst.

Trotz der Drogen, die sein System überfluteten, plapperte er keinen Unsinn. Sein Verstand war gebrochen, aber nicht verloren.

Aber das wussten sie nicht.

'Wenn ich nicht so tue, als würden die Drogen wirken, werden sie mich mit mehr vollpumpen.'

Als ihm das klar wurde, ließ Leo seinen Kopf leicht zur Seite fallen, seine Augenlider senkten sich. Er ließ seine Schultern entspannen, seine Finger zuckten leicht, als ob er Schwierigkeiten hätte, sich zu konzentrieren.

Eine perfekte Darstellung.

Adrian beobachtete ihn genau und wartete darauf, dass das Serum seine volle Wirkung entfaltete.

Dann, nach einigen Sekunden, sprach er wieder.

"Also... welches ist es?"

Leo ließ seinen Blick träge zu ihm zurückkehren.

Und dann, mit einem langsamen, schwerfälligen Lallen, antwortete er endlich.

"Ich... weiß nicht..." Seine Stimme war leise, distanziert. "Ich... ich erinnere mich nicht. Meine Erinnerungen... sie sind weg..."

Stille.

Adrians Grinsen verschwand.

Sein Gesichtsausdruck wandelte sich nicht in Misstrauen – nein, es war etwas anderes.

Etwas, das näher an... Interesse herankam.

Der Doktor legte die Fingerspitzen aneinander, seine durchdringenden Augen verließen nie Leos Gesicht.

"Deine Erinnerungen... gelöscht, sagst du?"

Er atmete langsam aus.

"Nun, ist das nicht... faszinierend?" sagte Adrian, während er sich zurücklehnte und sich seiner Assistentin zuwandte, in der Erwartung, dass auch sie erstaunt sein würde, doch sie schien sich nicht viel darum zu kümmern.

Sie hob ihre Hände in gespielter Kapitulation und machte einen Gesichtsausdruck, der sagte: 'Hey, schau mich nicht an. Ich bin nur die Assistentin–', was den Doktor zum Schmunzeln brachte, bevor er seinen Blick wieder auf Leo richtete.

"Leo 'Skyshard'," sinnierte er und ließ den Namen über seine Zunge rollen. "So steht es in deiner Akte. Sag mir, ist das der Name, der dir bei der Geburt gegeben wurde? Oder nur ein Name, von dem dir jemand sagte, er gehöre zu dir, nachdem deine Erinnerungen gelöscht wurden?" fragte er, als Leos träger Verstand auf Hochtouren schaltete.

Das war gefährlich.

Eine falsche Antwort hier würde nicht nur Verdacht erregen – sie könnte alles zunichte machen.

Er zwang seinen Gesichtsausdruck, distanziert und unfokussiert zu bleiben, als ob er sich durch den geistigen Nebel kämpfte, den die Drogen verursacht hatten.

Dann, langsam, ließ er seine Lippen sich öffnen.

"Ein Zettel..." Seine Stimme klang heiser, wie jemand, der nach Fragmenten der Erinnerung greift. "Es stand... auf einem Zettel. Als ich aufwachte... sagten sie, er gehöre zu mir."

Ein leises Piepen vom Lügendetektor signalisierte, dass seine Antwort als Wahrheit durchging.

Adrians Blick flackerte leicht, ein Glanz von etwas Unlesbarem blitzte hinter seinen Augen auf.

"Du bist dir also nicht einmal sicher, ob es dein richtiger Name ist," murmelte er, seine Stimme von Neugier durchzogen.

Leo blinzelte langsam, der erzwungene Schleier in seinen Augen ließ ihn benommener aussehen, als er tatsächlich war.

Adrian atmete durch die Nase aus und trommelte nachdenklich mit den Fingern auf den Tisch.

"Nun, das verkompliziert die Dinge, nicht wahr?"

Er tippte gedankenverloren auf den Ordner vor ihm, bevor er fortfuhr.

"Sag mir, Leo... erinnerst du dich an irgendetwas von vor deinem Erwachen? Irgendwelche Blitze? Geräusche? Emotionen?"

Die Frage war nicht unerwartet, aber Leo wusste, dass seine nächste Antwort sorgfältig abgewogen sein musste.

Er ließ seine Augenbrauen ganz leicht zusammenziehen, als ob er versuchte – kämpfte – sich an etwas zu erinnern, das nicht da war.

Schließlich schüttelte er den Kopf.

"Nichts," murmelte er, seine Stimme genau im richtigen Maß müde. "Es ist einfach... leer."

Ein weiteres leises Piepen. Eine weitere Wahrheit registriert.

Adrian neigte den Kopf und beobachtete ihn wie ein Exemplar unter einem Mikroskop.

"Ich verstehe..." sagte er, bevor er eine lange Pause machte.

"Ein merkwürdiger Fall, nicht wahr?" sagte er, während sich seine Lippen langsam zu einem Lächeln kräuselten.

Ein Lächeln, das auf den ersten Blick dem freundlichen ähnelte, das er zu Beginn ihres Gesprächs angeboten hatte.

Aber diesmal – war etwas anders daran, etwas seltsam.

Leo spürte es. Eine Veränderung in der Luft. Eine Veränderung im Gespräch.

Etwas war im Begriff, sich zu ändern.

Etwas Gefährliches.

Er konnte es fühlen – wie ein Sturm am Horizont. Still. Unausweichlich. Und bereit zuzuschlagen.