Kapitel 3: Die Welt
Noah stand vor dem Spiegel und betrachtete sein Spiegelbild.
Langes, seidiges lila Haar fiel über seine Schultern. Seine silbernen Augen, scharf und durchdringend, spiegelten die Welt wie Glas wider. Er grinste.
Zumindest bin ich jetzt gutaussehend.
Noah Weberherz war zweifellos ein Frauenheld – der Typ, der mit einem Blick Köpfe verdrehen konnte. Wenn sein Vorgänger dieses Gesicht richtig genutzt hätte, wären die Dinge anders verlaufen.
Tch. Was für eine Verschwendung. Wenn der alte Noah nur halb so viel Grips gehabt hätte, hätte selbst dieser Protagonist mit einem solchen Gesicht Schwierigkeiten gegen ihn gehabt.
Aber das war damals.
Diesmal würde er sein Aussehen, seinen Verstand und – am wichtigsten – sein System nutzen, um genau das zu bekommen, was er wollte. Sogar die Prinzessin, die dazu bestimmt war, ihn für den Protagonisten zu verlassen.
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Nachdem er sich erfrischt hatte, stand Noah am Fenster und blickte auf das weitläufige Anwesen der Weaverheart.
Die Morgensonne tauchte das Land in Gold. Unzählige Trainingsfelder, üppige Gärten und hochragende Marmorgebäude erstreckten sich so weit das Auge reichte. Ein Zuhause, das einer der Vier Großen Familien würdig war.
Und doch...
Diese Welt ist wahnsinnig.
Noah hatte nur die ersten fünfzig Kapitel des Romans gelesen, bevor er starb. Aber was er wusste? Es hatte ihn sofort gefesselt.
Eine Welt, die von Mana regiert wird. Geformt durch Monster, Dungeons und Krieg.
Vor Jahrhunderten erschienen Tore auf der ganzen Welt, aus denen Kreaturen aus Albträumen strömten – Goblins, Orks, Schreckenswölfe, Drachen, Untote. Jeder vorstellbare Schrecken.
Aber die Tore brachten auch etwas anderes mit sich.
Mana.
Eine mysteriöse Energie, die das menschliche Potenzial erweckte und ihnen übernatürliche Fähigkeiten verlieh.
Mit dieser Kraft schlug die Menschheit zurück. Aber sie waren nicht die Einzigen, die sich veränderten. Mana führte auch zum Aufstieg anderer Rassen – Elfen, Zwerge, Tiermenschen und Dämonen.
Anstatt sich zu vereinen, teilten diese Rassen die Welt auf, jede beanspruchte ihre eigenen Kontinente. Ein unsicherer Frieden folgte.
Außer mit den Dämonen.
Sie waren der wahre Feind. Sie liebten Krieg. Sie liebten Chaos.
Und so schlossen sich die anderen Rassen zusammen und schufen eine Akademie, um ihre vielversprechendsten Talente auszubilden. Ein Ort, an dem alle Rassen koexistierten.
Dieselbe Akademie, an der Elijah – der Protagonist – Frauen wie Pokémon sammeln würde.
Noah fluchte leise vor sich hin.
"Verdammt seist du, Elijah."
...
Die Machtprogression in dieser Welt war unkompliziert.
Mit zwölf Jahren erwachte bei jedem Kind sein angeborenes Talent, bewertet von E-Rang bis SSS-Rang.
E-Rang? Völlig nutzlos.
SSS-Rang? Ein Gott unter Menschen.
Nach dem Erwachen wurden sie offiziell vom Akashischen Rekord anerkannt – einem mysteriösen System, das Stärke und Anerkennung regelt. Es zeichnete jede Handlung, jede Errungenschaft auf, und wenn man etwas wirklich Bemerkenswertes tat – sei es heroisch oder bösartig – belohnte es einen mit einem Titel.
Und Titel waren nicht nur zur Schau.
Sie verliehen echte Macht.
Je seltener und mächtiger deine Titel, desto stärker wurdest du. Denn in dieser Welt ging es bei Macht nicht nur um Talent.
Es ging um Existenz. Und nur durch das Erlangen von Errungenschaften und Titeln kann deine Existenz erhöht werden.
Wenn deine Existenz einen bestimmten Schwellenwert erreichte, würde der Akashische Rekord dir eine Wahl gewähren.
Das beste Beispiel? Aura.
Um den A-Rang zu erreichen, musste man seine Aura erwecken – die Manifestation der Präsenz und Energie eines Individuums. Dies konnte durch jahrelanges rigoroses Training oder durch Ansammeln genügender Titel erreicht werden. Denn sobald deine Existenz einen bestimmten Schwellenwert erreichte, würde der Akashische Rekord dir eine Auswahl an Auren präsentieren, basierend auf deinen Errungenschaften und dem Weg, den du eingeschlagen hattest. Unnötig zu sagen, dass je mächtiger und einzigartiger dein Weg war, desto absurder waren die Optionen.
Das gleiche Prinzip galt für den S-Rang, aber anstelle von Aura erweckte man seine Absicht – ein tiefes, persönliches Verständnis eines bestimmten Konzepts, das so tiefgründig ist, dass es die Realität selbst beeinflussen kann.
Was den SS-Rang und darüber hinaus betrifft...
Noah hatte keine Ahnung.
Er hatte nie so weit gelesen.
Aber eines war klar – Macht konnte verdient werden.
Wenn du klug, mutig und wahnsinnig genug warst, konntest du den Akashischen Rekord zwingen, dich anzuerkennen.
Und das war die Lücke, die er auszunutzen gedachte.
Denn im Gegensatz zu allen anderen...
Hatte er ein System. Und ein einzigartiges noch dazu.
Gerade als er seinen nächsten Zug planen wollte –
Klopf. Klopf.
"Junger Meister, darf ich eintreten?"
Eine vertraute Stimme.
Noah drehte sich zur Tür. "Ja."
Die Magd mittleren Alters von vorhin trat ein, ihre Haltung steif, die Augen niedergeschlagen.
Noah verstand sofort warum.
Sein Vorgänger war ein verwöhntes Gör gewesen, das die Diener quälte, weil er wusste, dass seine Mutter ihn nie bestrafen würde.
Jetzt?
Sie hatten Angst vor ihm.
Ärgerlich.
Er seufzte. "Brauchst du etwas?"
Die Magd zuckte bei seinem Ton zusammen, bevor sie stammelte: "D-Die Dame wartet im Speisesaal auf Euch."
Noah nickte. "Führe mich."
Die Magd erstarrte. "...Was?"
Er runzelte die Stirn. "Muss ich mich wiederholen?"
"Ah! N-Nein, Junger Meister! Sofort!" Sie flüchtete praktisch in den Flur, zitternd.
Noah folgte ihr und seufzte innerlich. Ich fühle mich schlecht für sie... aber ich habe keine Ahnung, wo zum Teufel der Speisesaal ist.
Wenn er nur die Erinnerungen seines Vorgängers geerbt hätte.
System, mach wenigstens deinen Job richtig beim nächsten Mal.
⸻
Der Speisesaal war weitläufig, aber unheimlich leer.
Ein langer Mahagonitisch erstreckte sich durch den Raum, aber nur zwei Stühle standen an beiden Enden.
Das ergab Sinn.
Die Weberherz Familie bestand aus nur zwei Personen.
Noah und seiner Mutter.
Und sein Vater?
Unbekannt.
Nicht dass es wichtig wäre.
"Hallo, Mutter."
Am Kopfende des Tisches saß eine auffallende Frau mit fließendem silbernen Haar und durchdringenden violetten Augen.
Selene Weaverheart.
Eine der stärksten Frauen im Kaiserreich von Castria, die Herrscherin der menschlichen Domäne.
Eine furchterregende Existenz.
Sie lächelte und breitete ihre Arme aus. "Komm her, mein Baby. Gib Mami eine Umarmung."
Noah zögerte.
Sein Vorgänger hatte ihre Zuneigung immer abgelehnt.
Aber wenn es eine Person gab, mit der er schnell eine Bindung aufbauen musste, dann war sie es.
Er trat vor und umarmte sie.
Selene versteifte sich.
Ihre Arme schwebten, vor Schock erstarrt, als könne sie nicht verarbeiten, was gerade geschehen war.
Noah lehnte sich leicht zurück und neigte den Kopf. "Mutter? Ist etwas nicht in Ordnung?"
Ihre Finger schlossen sich fester um ihn.
Noah spürte, wie sie zitterte.
Scheiße. Habe ich es übertrieben?
Selene zog sich zurück, ihre violetten Augen fixierten seine.
"Was ist los mit dir?" fragte sie, ihre Stimme kaum ein Flüstern. "Du lässt mich nie umarmen."
Noah seufzte und zwang sich zu einem verlegenen Lächeln. "Ich habe erkannt... dass ich ein Idiot war."
Er blickte nach unten. "Die Leute sagen immer, ich sei nichts ohne dich. Dass ich schwach bin, talentlos. Dass ich mein Training nie abschließen werde. Ich wollte mich nicht für immer auf dich verlassen, also versuchte ich, mich zu distanzieren."
Selenes Blick wurde weicher.
Noah musste nicht lügen.
Genau das hatte sein Vorgänger getan.
Selene streckte die Hand aus und umfasste sein Gesicht. "Weißt du, du musst dich nicht darum kümmern, was andere sagen."
Dann –
Die Temperatur sank.
Eine mörderische Aura erfüllte den Raum.
Selenes Stimme wurde eiskalt.
"...Und warte nur, mein Liebling. Ich werde jeden finden, der das über dich gesagt hat, und sie werden bereuen, geboren worden zu sein."
Noah erschauderte. Dieser Yandere-Wechsel war zu schnell.
Er hustete leicht. "Äh, richtig. Also... warum hast du mich hergerufen?"
Selene lehnte sich zurück und grinste.
"Du weißt, dass morgen dein zwölfter Geburtstag ist."
"Der Tag deines Erwachens."
"Bist du bereit?"
Noahs Herz setzte einen Schlag aus. Sein Finger zuckte leicht.
Schon?!
Die Handlung begann morgen.
System, zeige mir das Zuneigungslevel meiner Mutter.
[Zuneigungslevel: Selene Weaverheart – 90%]
Also kann ich ihr Talent teilen?
[Nein. Der Rang deiner Mutter ist SS. Als unerwachte Person kannst du nur mit Menschen bis zum C-Rang teilen.]
Noah fluchte. 'Scheiße. Das ist ein Problem.'
"Natürlich, Mutter. Ich bin bereit."
Er zwang sich zu einem Lächeln.
—Oder ich werde dafür sorgen, dass ich es vor morgen bin.
Ich meine, mit meinem Aussehen ist es nicht unmöglich, dass jemand heimlich für mich schwärmt, oder?
Noahs Augen verhärteten sich.
Und selbst wenn es niemanden gibt. Ich würde dafür sorgen, dass es vor morgen früh jemanden gibt.
...Aber warte. Wenn meine Mutter von mir besessen ist, warum sind es dann nicht 100%?
[90% ist das Höchste, was die Liebe einer Mutter natürlich erreichen kann. Alles darüber hinaus... ist etwas ganz anderes.]
Noah blinzelte verwirrt.
Dann – eine kalte Erkenntnis schlich sich in seinen Geist.
Nein. Das konnte nicht sein, was es bedeutete... oder?
Ende von Kapitel 3.