Kapitel 4: Erwachen (1)
Selene saß allein in der Speisehalle. Ihre schlanken Finger tippten in einem langsamen, rhythmischen Takt auf den polierten Mahagonitisch.
Tak. Tak. Tak.
Ihre violetten Augen glänzten im schwachen Kerzenlicht.
"Findest du nicht, dass mein Baby erwachsen geworden ist?"
Eine Stimme – emotionslos und unsichtbar – antwortete aus den Schatten.
"Ja, meine Dame. Der junge Herr hat heute... andere Seiten gezeigt."
Selenes Lippen verzogen sich zu einem sanften Lächeln.
"Ich wusste, dass er zu mir zurückkommen würde. Hast du nicht gesehen, wie er mich umarmt hat? Wie seine Augen mich angesehen haben... so voller Liebe?"
Doch dann – verhärtete sich ihr Blick.
Die Temperatur im Raum stürzte ab.
Frost kroch augenblicklich über den Tisch und verschlang ihn in zackigem, kristallinem Eis. Die Luft selbst fühlte sich scharf genug an, um zu schneiden.
"Finde sie alle."
Die Stimme aus den Schatten blieb stumm.
"Diejenigen, die hinter seinem Rücken geflüstert haben. Diejenigen, die dafür gesorgt haben, dass mein eigener Sohn sich jahrelang von mir distanziert hat. Bring sie zu mir."
Die Wände ächzten unter dem Gewicht der Kälte. Die Luft selbst schien an Ort und Stelle gefroren zu sein.
Jeder unter S-Rang wäre innerhalb von Minuten tot.
"Wie Ihr befehlt, meine Dame."
Und genauso schnell schmolz der Frost. Der Raum kehrte zu seiner eleganten Wärme zurück, als wäre nichts geschehen.
Selene seufzte, ihr Gesichtsausdruck wurde weicher.
"Morgen ist ein großer Tag für ihn."
Sie tippte mit einem Finger gegen ihre Lippen, ihre Stimme plötzlich leicht, fast verspielt.
"Ich frage mich... welche Art von Geschenk ich vorbereiten sollte?"
⸻
Noah ging durch das Anwesen, seine Schritte gemessen, sein Ausdruck ruhig.
Aber innerlich?
War er alles andere als das.
"System, scanne jeden, an dem ich vorbeigehe. Finde jemanden mit mindestens 50% Zuneigung zu mir – Rang C oder niedriger."
[Verstanden.]
Und so begann die Jagd.
Noah bewegte sich über die Trainingsplätze, wo Ritter im Mondlicht trainierten.
Nichts.
Er besuchte die Bibliothek, deren hohe Regale mit alten Folianten gefüllt waren, auf der Suche nach einer glücklichen Begegnung.
Nichts.
Er ging durch die Gärten, die Mägdequartiere, die Ritterkasernen – überall.
Immer noch nichts.
Stunden vergingen.
Noah stand allein im Innenhof, das blaue Mondlicht warf lange Schatten um ihn herum.
Seine Finger ballten sich zu Fäusten.
"Das ist lächerlich."
Er wusste, dass sein Vorgänger ein arroganter Narr gewesen war, aber war er wirklich so verhasst?
Ein leises Lachen entwich ihm, bitter und kalt.
"Du hast mich wirklich in die Scheiße geritten, was?"
Er legte sich auf das kühle Gras und starrte in den endlosen Nachthimmel.
Für einen Moment dachte er an sein früheres Leben. Die Welt, die er zurückgelassen hatte.
Und dann –
Rascheln.
Noah setzte sich sofort auf. Seine scharfen silbernen Augen durchsuchten die Dunkelheit.
"Wer ist da?"
Ein Schatten bewegte sich in der Nähe der Büsche. Noah spannte sich an – dann erstarrte er.
Eine kleine schwarze Katze tappte ins Mondlicht, ihr glattes Fell glänzte.
Sie hatte durchdringende violette Katzenaugen, die mit einer Intelligenz leuchteten, die weit über die eines normalen Tieres hinausging.
"Eine... Katze?"
Das Geschöpf starrte ihn einen langen Moment an, dann näherte es sich anmutig – und stupste gegen sein Bein.
[Ding! Ziel gefunden.]
Noah stockte der Atem.
"Was?"
Er riss seinen Kopf herum und erwartete, eine verborgene Gestalt in der Nähe zu sehen.
Nichts.
"System, was meinst du?"
[Das Ziel ist das Geschöpf vor dir.]
Noah blinzelte.
Dann blinzelte er noch einmal.
"Wie bitte?"
Die Katze neigte ihren Kopf, ihre leuchtend violetten Augen funkelten vor Freude, als Noahs Aufmerksamkeit sich auf sie richtete.
"Ist sie nicht einfach nur eine Katze?"
[Sie ist der Nachwuchs einer göttlichen Bestie. Dies ist nur ihre Grundform – sobald sie stark genug ist, wird sie menschliche Gestalt annehmen.]
Noah ging in die Hocke, seine Hand bewegte sich instinktiv, um sie zu streicheln.
Die Katze schnurrte.
"Scanne sie."
Ein durchsichtiges Panel erschien vor ihm.
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Name: Neko Neko
Rasse: Göttliche Bestie - Ba'astara
Rang: C
Titel: Keine
Affinität: Eis (S-Rang)
Talent: Kind des Eises (S-Rang)
Körperbau: Göttliches Tier Ba'astara Körperbau (S-Level)
Blutlinie: Göttliches Tier Ba'astara Blutlinie (S-Level)
Zuneigungslevel: 75%
[Hinweis: Sie mag dich seit dem Tag deiner Geburt. Deine Schönheit hat sie bezaubert, und sie hat dich seitdem aus der Ferne beobachtet.]
⸻
Noah starrte.
Dann entwich ihm ein kurzes, verblüfftes Lachen.
"Ich wusste, dass jemand mich mögen muss... habe nur nicht mit einer Katze gerechnet und ernsthaft, woher kommst du überhaupt?"
Aber der Gedanke verweilte kaum, bevor sein Fokus sich schärfte.
"System, kann ich ihr Talent teilen?"
[Ja.]
Ein Grinsen breitete sich auf seinem Gesicht aus.
Er nahm die kleine Katze in seine Arme. Sie ließ ein sanftes Miauen hören und schmiegte sich dann an ihn.
"In Ordnung, Neko. Du hast mich gerade gerettet."
Ohne eine weitere Sekunde zu verschwenden, rannte Noah zurück in sein Zimmer.
⸻
Noah saß im Schneidersitz auf seinem Bett, Neko zusammengerollt in seinem Schoß.
"System, tu es."
[Ding! Du hast eine Verbindung mit Neko hergestellt.]
Eine seltsame Wärme breitete sich in Noahs Brust aus. Eine Fessel – eine Verbindung – verband ihn mit dem kleinen Geschöpf in seinen Armen.
Sie spürte es auch. Ihre blauen Augen wurden weicher, und sie kuschelte sich näher.
"Jetzt teile ihr Talent und ihre Affinität."
[Ding! Wende den x10.000-Effekt an.]
[Du hast die Eis Affinität (SSS-Rang) erhalten.]
[Du hast das Talent erhalten: Souverän des Eises (SSS-Rang) – Ungeweckt.]
Noah atmete langsam aus.
Er erwartete, dass sich etwas ändern würde – dass sein Körper vor Kraft pulsieren, sein Geist sich erweitern würde – aber stattdessen fühlte er...
Nichts.
"System, warum fühle ich nichts?"
[Dein Erwachen hat noch nicht stattgefunden. Sobald es geschieht, wird sich dein Talent vollständig manifestieren.]
Noah nickte. Seine silbernen Augen glänzten, als er aus dem Fenster blickte.
Die Sterne leuchteten hell. Der blaue Mond badete die Welt in kaltem Licht.
Ein langsames Grinsen breitete sich auf seinem Gesicht aus.
"SSS-Rang, hm?"
Er lehnte sich zurück, seine Finger streichelten gedankenverloren Nekos weiches Fell.
"Nun, das ändert alles."
Und das war erst der Anfang.
—Ende von Kapitel 4—
A/N:
Danke fürs Lesen