Kapitel 20: Der Würdige Meister
Bevor Noahs Körper überhaupt den Boden berühren konnte, war Ester bereits da.
Sie fing ihn auf.
In dem Moment, als ihre Hände seinen gebrochenen Körper berührten, durchfuhr sie ein heftiger Schauer. Ihre roten Augen weiteten sich – Schock, Entsetzen und etwas Tieferes ergriffen sie auf einmal.
Noah...
Sein Zustand war schlimmer als alles, was sie sich vorgestellt hatte.
Blut.
So viel Blut.
Tiefe Schnitte von Windschlägen. Brutale Bissspuren. Wunden, die nicht nur von Feinden, sondern auch von seiner eigenen Kraft aufgerissen wurden. Seine Hände waren zerfetzt, roh und ruiniert vom Erzwingen zweier SSS-Rang Affinitäten weit über das hinaus, was sein Körper verkraften konnte.
Und sein Gesicht.
Nicht der edle Erbe der Weberherz Familie.
Nur ein Soldat – ein blutiger Krieger, der gekämpft hatte, bis das Schlachtfeld ihn zerbrach.
Ester sank auf die Knie. Sie zog ihn auf ihren Schoß, ihre Finger zitterten, als sie ein Fläschchen entkorkte und es an seine Lippen drückte.
S-Rang Heilungstrank.
Es dauerte nur Sekunden, bis seine Wunden begannen, sich zu schließen. Sein Atem wurde gleichmäßiger. Das Blut hörte auf zu fließen.
Aber Ester konnte nicht aufhören, ihn anzustarren.
Ihr Verstand war ein Chaos.
Ihr Herz –
BADUM. BADUM. BADUM.
Ihre Finger krallten sich in seinen zerrissenen Ärmel. Ihr Körper bebte.
"W-Was habe ich getan?"
Die Worte hallten in ihrem Schädel wider, immer und immer wieder, jedes Mal lauter.
Was habe ich getan?
WAS HABE ICH GETAN?
Wäre sie eine Minute später gekommen – **nur eine einzige Minute** – wäre er gestorben.
Gestorben.
Noah.
Tot.
Noah – fort.
Ihre Brust verengte sich. Atmen wurde unmöglich. Ihre Sicht verschwamm.
Ein Schatten. Das war es, was sie zu sein geschworen hatte.
Diejenige, die ihn vor dem Blick der Welt schützen würde.
Diejenige, die seine Geheimnisse bewahren würde.
Diejenige, die für ihn in der Dunkelheit stehen würde.
Was für ein Schatten lässt seinen Meister allein kämpfen?
Was für ein Schatten lässt seinen Meister Wunden erleiden, die über seine Grenzen hinausgehen, nur um sie zu beschützen?
Ihr Körper zitterte stärker.
B-Bin ich überhaupt würdig?
Ein rationaler Teil von ihr flüsterte: Es ist nicht deine Schuld. Du warst beim Aufstieg. Du hattest keine Wahl.
Aber das spielte keine Rolle.
Denn wenn deine Hingabe 100% erreicht, ist die Priorität nicht mehr du selbst.
Noah hatte für sie gekämpft. Noah hatte sich für sie zerbrochen.
Und was hatte sie getan?
Nichts.
Es tat weh. Götter, es tat weh.
Ihre Brust verkrampfte sich mit etwas, das weit schlimmer war als Schmerz – Schuld.
Und da wurde ihr klar.
Noah war nicht nur ein guter Gefährte.
Nicht nur ein starker Meister.
Er war mehr.
Die Art von Anführer, der die unter ihm stehenden nie im Stich ließ.
Die Art von Meister, der sich selbst zerbrechen würde, bevor er andere fallen ließe.
Die Art von Mann, der gegen ein Wesen kämpfen würde, das zwei Ränge über ihm stand, nur um sie zu beschützen.
Etwas veränderte sich in ihr.
Eine tiefe Erkenntnis – wie ein Gewicht, das sich in ihrer Seele niederließ.
Loyalität ist nicht genug.
Nicht für einen Meister wie ihn.
Noah Weberherz verdiente alles.
Nicht nur ihre Loyalität.
Nicht nur ihren Schutz.
Ihr ganzes Wesen.
Mit ihm zu leben.
Mit ihm aufzusteigen.
Mit ihm zu fallen.
Mit ihm zu lachen.
Mit ihm zu weinen.
Mit ihm zu sterben.
Und damit –
KLINK!
Ein Klang hallte durch ihre Seele.
{Ding! Ding! Ding!}
{Deine Stimme wurde gehört.}
{Deine Entschlossenheit ist lobenswert.}
{Deine Hingabe ist lobenswert.}
{Du bist würdig.}
{Herzlichen Glückwunsch, Ester.}
{Du hast einen einzigartigen Titel erhalten, der nur für dich erschaffen wurde.}
{Du hast den Titel erhalten: Der Gebundene Schatten.}
Esters Atem stockte.
Etwas veränderte sich in ihr.
Eine Präsenz. Eine Verbindung wie keine zuvor.
Sie konnte ihn spüren.
Noah.
Wie ein Faden, der ihre Existenzen verband.
Nicht nur Loyalität. Nicht nur ein Schwur.
Etwas Absolutes.
Sie las die Beschreibung des Titels –
⸻
{Der Gebundene Schatten: Du hast keinen eigenen Schatten mehr. Du bist ein Schatten. Der Schatten von Noah Weberherz – buchstäblich. Du stirbst mit ihm. Du wirst stärker mit ihm. Du wirst schwächer mit ihm. Verrat ist unmöglich. Wenn er es will, kann er seine Fähigkeiten mit dir teilen – nur Talente und erworbene Fähigkeiten.}
⸻
Ester starrte.
Dann lächelte sie.
Ein zufriedenes, friedliches Lächeln.
Für immer.
So lange würde sie mit ihm gehen.
Schließlich ist sie jetzt sein Schatten. Buchstäblich.
Ihr Blick kehrte zu seinem Gesicht zurück – ruhig, friedlich, schlafend.
Sie strich sanft sein blutiges Haar zurück und flüsterte:
"Selbst mit Narben... bist du immer noch so schön, Meister."
⸻
Stunden später
Noah regte sich.
Sein Verstand war benebelt, sein Körper schmerzte, aber er stand nicht mehr am Rande des Zusammenbruchs.
Das Erste, was er bemerkte –
Sein Kopf ruhte auf etwas Warmem und Weichem.
Er blinzelte nach oben.
Und sah Ester.
Schwarzes Haar. Karmesinrote Augen. Dieses kleine Schönheitsmal an ihren Lippen.
Er grinste.
"Oh, Ester, welch Freude, aufzuwachen und als Erstes dein schönes Gesicht zu sehen."
Ester errötete.
Selbst nach dem Beinahe-Tod blieb seine Schamlosigkeit intakt.
Noah setzte sich auf und rollte mit den Schultern. Der Schmerz hatte deutlich nachgelassen. Sein Körper war nicht vollständig geheilt, aber zumindest konnte er sich bewegen.
"Haben wir den Dungeon geschafft?", fragte er und sah sich um.
Ester nickte. "Ihr habt ihn geschafft, Meister."
Er grinste. "Cool, dann kann ich wohl –"
Er erstarrte.
Denn plötzlich –
{Ding! Ding!}
⸻
{Herzlichen Glückwunsch, Noah Weberherz.}
{Du hast einen Titel erhalten: Der Würdige Meister.}
⸻
Sein Herz setzte einen Schlag aus. Ein würdiger Meister?
Dann –
{Ding! Ding! Ding!}
{AUSSERGEWÖHNLICH!}
{Dein Schatten hat sich verwandelt.}
{Dein Schatten ist jetzt Ester.}
{Du bist das erste Wesen, das einen Menschen als buchstäblichen Schatten hat.}
{Du bist würdig.}
{Du hast den Titel erhalten: Meister eines Schattens.}
{Deine Existenz wurde außergewöhnlich gestärkt.}
{Du hast die erste Schwelle überschritten.}
{Dir wird eine Reihe von Aura-Auswahlmöglichkeiten präsentiert, sobald du den B-Rang erreichst.}
{Existenzniveau: 750}
{Nächste Schwelle: 5000}
⸻
Noah stand da, mit weit aufgerissenen Augen.
Er drehte mechanisch den Kopf.
Ester beobachtete ihn.
Lächelnd.
Noah blinzelte.
Dann blinzelte er noch einmal.
Schließlich murmelte er die einzigen Worte, die ihm in den Sinn kamen.
"Verdammt noch mal... was zum Teufel ist passiert, während ich geschlafen habe?"
—Ende von Kapitel 20—