Die Sonne war noch nicht untergegangen, als Rosemary und Iblis die Residenz erreichten. Nach dem Vorfall in den Schatten der Gilde hatte keiner von ihnen gesprochen. Ein langer Schatten wanderte durch das Zimmer, als Iblis sich auf das steinerne Geländer des Balkons stützte und in die Ferne blickte. Rosemary saß am kleinen Tisch nahe dem Fenster, die Arme verschränkt, ihr Schwert an der Wand gelehnt. Die Luft war ruhig, fast zu ruhig für die Worte, die noch folgen sollten.
Die Residenz selbst wirkte wie eine stille Zeugin dieses Abends: Die dicken Steinwände hielten die Hitze des Tages noch in sich, die Luft im Inneren war angenehm kühl. Der Boden war aus hellgrauem Marmor, geschmückt mit einfachen, aber gepflegten Teppichen, die wohl aus dem fernen Süden stammten. Von der Decke hingen schwere, bronzene Lampen, die sanft flackerten, obwohl niemand sie berührt hatte. Draußen rauschte leise ein Baum im Wind, und ab und zu erklang in der Ferne das ferne Lachen eines Kindes oder das Hufklappern eines Wagens auf dem Pflaster.
Rosemary beobachtete Iblis. Er hatte den Mantel noch immer nicht abgelegt. Dunkel und schwer, wirkte er wie ein Schatten, der sich nie lösen wollte. Sein Rücken war breit, seine Haltung aufrecht, als wäre selbst die Welt zu schwach, um ihn zu beugen. Und doch war da etwas in seiner Ruhe, das nicht nur Kraft, sondern auch tiefe Müdigkeit verriet.
"Iblis?" Ihre Stimme war vorsichtig, aber nicht zaghaft. "Darf ich dich etwas fragen?"
Er antwortete nicht sofort. Nur der Wind spielte mit den Enden seines Mantels. Schließlich nickte er kaum merklich, ohne sich umzudrehen.
"Hattest du jemals eine Familie?"
Ein leiser Windhauch zog durch den Raum, so als wollte die Natur selbst innehalten.
Er schwieg lange. Schließlich kam die Antwort. "Ich hatte eine Frau."
Die Worte waren leise, aber voller Gewicht. Keine Romantik lag darin – nur Erinnerung.
"Wie lange ist es her?" fragte Rosemary, die sich nun vom Tisch löste und einen Schritt nähertrat.
"Mehr als tausend Jahre."
Rosemarys Augen weiteten sich leicht. "Und... was ist mit ihr geschehen?"
Diesmal drehte sich Iblis langsam zu ihr um. Sein Gesicht blieb im Schatten, doch sein Blick war schwer, verborgen unter der Kapuze. Er wirkte fester, unnahbarer, als hätte er sich für einen Moment in Stein verwandelt.
"Ermordet."
Mehr sagte er nicht.
Sie wollte fragen, wer es getan hatte, doch er kam ihr zuvor.
"Es ist zu früh für diese Geschichte."
Rosemary schwieg, respektierte die Grenze. Sie trat langsam zum Fenster und blickte in die untergehende Sonne. Ihre roten Haare glänzten im Licht, fielen wie flüssiges Feuer über ihre Schultern. Ihre aschgrauen Augen, die sonst von tiefer Trauer durchzogen waren, hatten heute einen Hauch von Licht in sich – nicht hell, aber spürbar. Ihre Haltung war aufrechter, entschlossener. Als hätte die Reise, die sie mit ihm angetreten hatte, begonnen, die Scherben in ihr langsam zusammenzusetzen.
"Und du?" fragte Iblis schließlich. "Woher stammst du? Aus welcher Linie?"
Sie zögerte, als hätte sie es schon viele Male sagen wollen, aber nie den richtigen Moment gefunden.
"Ich stamme aus Entlasia. Meine Familie... war die Familie Veilfort."
Der Name hallte nach, schwer von Bedeutung. Der Klang trug Ehre in sich, alte Geschichten, vergangene Schlachten.
"Veilfort..." wiederholte Iblis langsam. "Ein ehrwürdiger Name. Königliche Ritter. Hüter alter Eide."
Rosemary nickte. "Mein Vater war ein ehrenhafter Mann. Das Schwert, das ich trage, war einst das seine."
Iblis trat vom Geländer zurück, ging langsam durch das Zimmer, seine Schritte klangen schwer auf dem Marmor.
"Dann trägst du nicht nur Metall. Du trägst Verantwortung. Und Geschichte."
Ein kurzer Windstoß bewegte die Vorhänge. Das Licht war schwächer geworden.
Rosemary blickte zu ihm. "Wie war sie? Deine Frau."
Iblis schwieg lange, bevor er antwortete. Als ob er innerlich durch Jahrtausende reisen müsste, um sich zu erinnern.
"Sie hieß Merry. Kleiner als du. Mit blondem Haar. Ihre Augen waren grün – das Grün jener, die die Welt akzeptieren, so wie sie ist."
Rosemary sagte nichts, ließ ihn erzählen.
"Sie war talentiert. Die Elemente lagen ihr zu Füßen. Sie hätte ganze Kontinente zerstören können, wenn sie es gewollt hätte. Aber sie entschied sich für den Schutz. Sie bewachte den Baum, der das Herz der Erde ist."
Ein Hauch von Trauer durchzog seine Stimme. Nicht bitter. Nur bedauernd.
"Sie war humorvoll. Liebevoll. Und... das schönste Wesen, das ich je getroffen habe. Die Perfektion Gottes."
Rosemary blickte auf das Schwert neben sich. "Dann war sie jemand, den selbst die Welt ehrte."
Er nickte. "Und dennoch wurde sie von dieser Welt genommen."
Ein langer Moment verging. Nur der Wind sprach weiter, spielte mit den Vorhängen wie mit Erinnerungen.
"Es tut mir leid", sagte Rosemary leise, ihre Stimme kaum mehr als ein Hauch.
Iblis trat zu ihr. Nicht bedrohlich, sondern wie jemand, der einen Gedanken teilen wollte, den niemand sonst verstehen würde.
"Vielleicht... begegnet ihr euch eines Tages wieder."
"Vielleicht," antwortete er. "Oder vielleicht wäre es besser, wenn nicht. Manche Wunden heilen nicht durch Wiedersehen."
Sie standen nun beide am Fenster. Unten in der Straße bewegten sich Schatten. Das Leben ging weiter. Doch hier, in diesem Raum, war es stehen geblieben.
"Wenn sie so stark war... warum konnte sie nicht gerettet werden?" fragte Rosemary nach einer Weile.
"Weil selbst die Stärksten nicht gegen Verrat gewappnet sind."
Ein einziger Satz, der so viele Geschichten in sich barg.
"Sie war nicht allein. Doch sie wurde allein gelassen."
Rosemary schluckte. Ihre Finger verkrampften sich leicht.
"Ich wünschte, ich hätte sie kennenlernen können."
Iblis antwortete nicht sofort. Dann sagte er: "Du erinnerst mich an sie. Nicht in der Kraft. Nicht im Talent. Aber in deinem Herzen. Du bist jemand, der sich entscheiden muss, wohin er gehört. So wie sie."
Ein leises Rascheln war zu hören, als Rosemary sich setzte, ihre Gedanken kreisten. "Und wenn ich es falsch mache?"
"Dann machst du es. Und lebst weiter."
Ein paar Minuten vergingen. Dann fragte Rosemary leise: "Denkst du manchmal noch an sie?"
"Immer."
Wieder Stille.
"Danke, dass du es mir erzählt hast."
"Danke, dass du gefragt hast."
Die Nacht fiel über die Residenz. Kein Unterricht. Keine Schlacht. Nur Erinnerungen, geteilt im Zwielicht zweier verlorener Leben. Und vielleicht, nur vielleicht, war da ein Funke von Verständnis, der in der Dunkelheit zu glimmen begann.
Doch die Nacht war nicht gnädig.