Die Sonne stand hoch am Himmel, als Rosemary sich erneut in den kühlen Flur der Gilde wagte. Zwei Tage Erholung hatten ihre Muskeln gelockert, doch sie spürte noch immer die Nachwirkungen des intensiven Trainings. Iblis hatte ihr für heute freigegeben, was bedeutete: kein Training, kein Unterricht, keine Aufgaben. Doch Stillstand lag ihr nicht. Ihre Gedanken drängten nach Antworten, ihre Hände wollten greifen, was sie nicht verstand.
Die Gilde von Dareth war mehr als nur ein Gebäude – sie war ein Ort des Austauschs, der Macht und des Gleichgewichts. Krieger, Magier, Alchemisten und Händler gingen ein und aus. Im Erdgeschoss herrschte rege Betriebsamkeit: Menschen in Lederrüstungen standen an der Quest-Tafel, zwei Elfen diskutierten über eine Karte, eine junge Frau mit Glaskristallen in den Händen wartete nervös vor einem geschlossenen Raum.
Rosemary schlenderte umher, betrachtete die geschnitzten Wandverzierungen, das schwarze Holz und die Runen, die sich in das Fundament zogen. Etwas an dieser Architektur war... unnatürlich. Nicht unbedingt gefährlich, aber alt. Älter als das Dorf selbst.
Sie passierte eine Nebenhalle, wo kaum jemand vorbeikam. Dort, versteckt hinter einem hängenden Teppich mit dem Wappen der Gilde – ein Schwert in einem Kreis aus Sternen – bemerkte sie einen Luftzug. Ein kaum hörbares Wispern schien von dort zu kommen. Ein Impuls in ihr sagte: Hier ist etwas.
Mit vorsichtiger Hand hob sie den Teppich an. Dahinter: eine schmale Tür aus schwarzem Metall, völlig frei von Verzierungen. Kein Schloss, kein Griff – doch bei ihrer Berührung öffnete sie sich mit einem leisen Zischen.
Ein schmaler Gang lag dahinter. Kalt. Leise. Abwärtsführend. Nur von wenigen Kristallen beleuchtet. Rosemary zögerte – doch dann trat sie ein.
Die Treppen führten in ein verborgenes Untergeschoss. Die Luft war trocken, roch nach Metall und Asche. An den Wänden: uralte Tafeln mit fremden Schriftzeichen. Türen aus poliertem Stein, manche versiegelt mit roten Glyphen. Und weiter unten – Stimmen. Leise, undeutlich.
Sie schlich näher, an der Wand entlang. Durch einen schmalen Spalt sah sie in einen Raum. Vier Personen in dunklen Umhängen standen um einen steinernen Tisch. In der Mitte: ein Konstrukt aus Eisen und Kristall, das pulsierte wie ein Herz. Einer der Männer sagte: „Die nächste Lieferung kommt in drei Tagen. Sorgt dafür, dass der Dämonenkern stabil bleibt. Wenn die Gilde Wind davon bekommt, ist alles vorbei.“
Ein anderer lachte leise. „Die Gilde weiß es längst. Sie schaut nur weg.“
Rosemary wich erschrocken zurück. Dämonenkerne? Lieferung? Eine Organisation unterhalb der offiziellen Gilde? Sie hatte genug gesehen. Als sie sich umdrehte, stand jemand vor ihr.
„Verlaufen, Mädchen?“
Ein Mann, groß, mit einer Maske aus Metall. In seiner Hand ein Dolch. Rosemary griff nach ihrem Schwert, doch bevor sie es ziehen konnte, hallte eine Stimme durch den Korridor.
„Lass sie.“
Iblis. Plötzlich war er da, aus dem Schatten selbst getreten. Der maskierte Mann wich sofort einen Schritt zurück. „Sie hat gelauscht.“
„Sie gehört zu mir“, sagte Iblis ruhig, aber mit einem Tonfall, der keine Diskussion zuließ.
Der Mann verschwand wortlos im Schatten. Iblis sah Rosemary an. „Wir gehen.“
Oben angekommen, schwieg sie lange. Schließlich fragte sie: „Was war das?“
„Die Aschehändler“, antwortete Iblis. „Eine Gruppe, die mit verbotener Magie handelt. Dämonentechnologie. Verfluchte Relikte. Die Gilde weiß davon – duldet es, solange es ihnen nützt.“
„Und warum... tust du nichts?“
„Weil es nicht die Zeit dafür ist. Noch nicht.“
Rosemary schwieg.
Doch in ihrem Inneren wurde ein neues Feuer entfacht. Dies war nicht nur eine Welt, in der man überleben musste – es war eine Welt, die verändert werden musste.