Zwei Tage lang lag Rosemary fast regungslos im Bett. Ihr Körper fühlte sich an wie zerschlagen, jeder Muskel ein einziger Schmerz. Selbst das Atmen brannte manchmal in der Brust, so intensiv hatte sie trainiert. Iblis hatte kaum ein Wort gesagt in dieser Zeit, brachte ihr nur Wasser und einfaches Essen. Kein Mitgefühl, aber auch kein Spott. Nur Präsenz.
Am Morgen des dritten Tages weckte er sie mit einem einfachen Satz: „Zieh dich an. Wir gehen.“
Sie rieb sich die Augen, stöhnte leise und folgte schließlich taumelnd seinen Schritten. Ihr Körper war noch nicht ganz erholt, aber sie fühlte sich... gespannt. Neugierig.
Der Weg führte sie durch die Gassen des Dorfes Dareth, in dem sie sich seit mehreren Wochen aufhielten. Die Straßen waren sauber, gepflastert mit groben Steinen, die schon viele Füße getragen hatten. Händler riefen ihre Waren aus – Brot, Leder, einfache Waffen. In der Ferne bellte ein Hund, und über den Dächern lag der Duft von Holzrauch und frischem Teig.
Schließlich erreichten sie ein Gebäude, das sich von den anderen abhob: die Abenteurergilde. Ein zweistöckiges Haus aus hellem Stein und dunklem Holz, mit breiten Fenstern und einem offenen Vorplatz. Am Eingang hing ein metallenes Schild mit dem Symbol zweier gekreuzter Schwerter und einem aufsteigenden Stern darüber.
Innen war es erstaunlich aufgeräumt. Der Boden bestand aus poliertem Stein, sauber gefegt. Die Wände waren mit Karten, Aufträgen und Waffen geschmückt. In den Ecken brannten magische Leuchtkristalle, die warmes Licht spendeten. Es roch nach Papier, Leder und einem Hauch von Gewürz. Eine Atmosphäre der Ordnung – und des Respekts.
Hinter dem breiten Tresen stand eine junge Frau. Etwas kleiner als Iblis, trug sie ein langes, königsblaues Kleid mit silberner Stickerei an den Ärmeln. Ihre langen, welligen braunen Haare fielen ihr über die Schultern, glänzten im Licht. Als sie sprach, klang ihre Stimme wie das Rauschen eines sanften Bachs – ruhig, klar und freundlich.
„Willkommen in der Abenteurergilde von Dareth! Wie kann ich euch helfen?“
Sie lächelte dabei so offen, dass Rosemary sich automatisch entspannte. Die Frau verströmte eine natürliche Fröhlichkeit, als könne sie mit jedem ein Gespräch führen und mit jedem zurechtkommen. Einige Abenteurer, die im Hintergrund saßen, nickten ihr respektvoll zu.
Iblis trat vor. „Zwei Registrierungen. Eine neue. Eine Rückkehrende.“
Die Sekretärin legte den Kopf leicht schräg, kicherte. „Oh? Das klingt geheimnisvoll. Na schön – wir machen zuerst die magische Einstufung. Bitte folgt mir.“
Sie führte die beiden durch eine Seitentür in einen kleineren Raum. In der Mitte stand ein kristallener Sockel, etwa einen Meter hoch, auf dem ein blassgrün leuchtender Edelstein ruhte – der Elfenkristall.
„Dieses Gerät misst eure magische Energie – ganz genau. Es wurde von den alten Elfen geschaffen. Einfach die Hand auflegen und ruhig atmen. Keine Sorge, es tut nicht weh.“
Rosemary trat vor. Ihr Herz hämmerte. Sie legte die Hand auf den Kristall. Augenblicklich flammte er hell auf, und Zahlen erschienen in einer schwebenden Projektion darüber: 1.900.
Die Sekretärin riss überrascht die Augen auf. „Wahnsinn... das ist für einen Menschen außergewöhnlich hoch! Wie hast du das geschafft?“
Rosemary, leicht errötend, antwortete stockend: „Ich... habe trainiert.“
„Dann hast du einen sehr guten Lehrer.“
Iblis trat nun vor, doch bevor er die Hand auflegen konnte, schloss er kurz die Augen. Etwas in ihm veränderte sich – kaum sichtbar, aber spürbar. Er berührte den Kristall. Die Zahl: 780.
Die Sekretärin runzelte die Stirn, sagte aber nichts weiter. Ein erfahrener Blick huschte über ihre Züge – sie ahnte, dass mehr dahinter steckte.
„Gut, weiter zur körperlichen Einstufung. Dieser Weg.“
Im nächsten Raum wartete ein seltsamer Felsen – ein fast schwarzer Monolith, glatt und doch uralt wirkend. Runen waren darauf eingraviert, schwach glühend.
„Schlagt mit aller Kraft darauf – egal womit. Faust, Waffe, Magie. Der Stein analysiert die Stärke.“
Rosemary trat vor, hob das Trainingsschwert, das sie noch immer bei sich trug, und schlug zu. Ein kurzer, dumpfer Ton. Dann erschienen glühende Linien im Stein – und wieder eine Zahl: 145.
„Auch das ist über dem Durchschnitt eines ausgebildeten Soldaten. Beeindruckend!“
Iblis trat vor. Seine Faust war leer, seine Bewegung beiläufig. Der Ton war kaum hörbar, und die Zahl: 112.
Die Sekretärin schmunzelte. „Ihr zwei haltet euch wohl gern bedeckt.“
Nach der Einstufung führte sie sie zurück zur Halle. Es war inzwischen Mittag geworden. Gemeinsam setzten sie sich an einen kleinen Holztisch in einer ruhigen Ecke der Gilde. Der Eintopf war einfach – Gemüse, etwas Fleisch, dazu Brot – aber heiß und kräftigend.
„Wie funktioniert das mit den Rängen?“, fragte Rosemary zwischen zwei Löffeln.
Die Sekretärin, die sich zu ihnen gesetzt hatte, erklärte mit strahlendem Gesicht: „Ganz einfach! Es gibt neun Ränge – von 9, dem niedrigsten, bis 1, dem höchsten. Die meisten bleiben irgendwo zwischen Rang 6 und 3. Je höher der Rang, desto gefährlicher und lohnender die Aufträge. Euer Startwert ergibt sich aus eurer Gesamtleistung.“
Nach dem Essen erhielten sie schließlich ihre Abenteurer-Gadgets – kleine, mit Runen verzierte Medaillons aus silbernem Metall. Sie dienten als Identifikation und Speichermedium für ihre Missionen. Als die Ränge darauf aufleuchteten, zeigte Iblis: Rang 5, Rosemary: Rang 6.
„Ihr seid offiziell eine Gruppe?“, fragte die Sekretärin neugierig.
„Ja“, sagte Iblis. „‚Wandernde Seelen‘.“
„Schöner Name!“
Sie gingen zum schwarzen Brett. Dort klebte eine Mission mit dem Siegel „Rang 7“ – eine Rattenplage. „Vier Ratten – so groß wie du“, meinte Iblis zu Rosemary. „Du machst das. Ich werde nicht eingreifen.“
Der Kampf begann in einem schmalen Hinterhof, wo der Boden mit Stroh und Blutresten übersät war. Die erste Ratte schnappte nach Rosemarys Bein, doch sie wich im letzten Moment zur Seite. Ihr Schwert war schwer, ihre Arme zitterten noch vom Training.
Die zweite Ratte sprang sie von der Seite an, und sie stolperte rücklings gegen eine Wand. Iblis' Stimme hallte durch den Hof: „Nutze ihren Schwung gegen sie.“ Rosemary duckte sich, ließ die Ratte an sich vorbeirauschen und rammte ihr im Fallen das Schwert in die Flanke.
Die dritte griff frontal an. Rosemary versuchte einen Ausfallschritt, doch sie war zu langsam – die Ratte erwischte sie an der Schulter. Schmerz zuckte durch ihren Arm, warmes Blut lief ihr den Oberkörper hinab. Sie schrie nicht. Stattdessen packte sie das Schwert mit beiden Händen, hob es über den Kopf und schlug mit aller Kraft zu.
Die letzte Ratte beobachtete sie, intelligent und wachsam. Rosemary atmete schwer. „Ziele tiefer“, kam Iblis' ruhige Stimme. Sie fixierte die Vorderpfoten des Biests, wartete auf den Sprung – und schlug zu, als es noch in der Luft war. Ein sauberer Hieb, direkt durch den Hals.
Keuchend, schweißgebadet und blutverschmiert stand sie am Ende zwischen den Kadavern. Ihre Beine zitterten, doch sie hatte gewonnen. Vier Ratten. Kein Zauber. Kein Iblis. Nur sie und das Schwert.
Als sie zurückkamen, legten sie die Ratten auf ein Tuch vor die Sekretärin.
„Vier Stück, sauber erledigt. Gute Arbeit! Das gibt euch... zehn Kupfermünzen.“
„Nur zehn?“, murmelte Rosemary erschöpft.
„So ist das Leben als Abenteurer am Anfang“, lächelte die Sekretärin.
Am Abend saßen sie wieder in der kleinen Residenz, wo Domira das Essen aufgetischt hatte. Der Duft von gebratenem Fleisch erfüllte den Raum. Die Stimmung war ruhig.
„Wie war das Training heute?“, fragte Domira und sah zu Rosemary.
Rosemary lächelte müde. „Hart. Iblis ist streng. Aber... ich bin froh, dass er mich unterrichtet.“
Domira nickte nur. Und Iblis? Der saß wie immer still, sein Blick ausdruckslos – aber in seinen Augen lag ein Hauch von Zufriedenheit.