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Kapitel 6 - Asche in meinem Namen

Der Keller war still. So still, dass selbst das Flackern der alten Glühbirne über ihr wie ein lebendiges Geräusch wirkte. 

Lyra stand auf der untersten Stufe, die Finger noch an der rostigen Eisenstange, die als Handlauf diente, und atmete nicht. Nicht wirklich. Die Luft hier unten hatte etwas Dichtes. Etwas, das in der Kehle hängen blieb wie Staub, den man nicht ganz ausatmen konnte.

Sie war nicht gekommen, um etwas zu suchen. Eher um etwas loszuwerden.

Das Bild. Es stand in ihren Händen, in das alte Tuch gewickelt. Selbst so verborgen, ohne dass sie es sehen konnte, spürte sie es. Die Spannung, die es in ihre Haut legte. Die Unruhe, die sich wie feines Zittern durch ihre Finger zog.

Sie hatte nicht mehr schlafen können, nicht wirklich. Das Bild war zu präsent gewesen. Zu viel. Und irgendwann, nach dieser einen zu langen Sekunde im Dunkel ihres Zimmers, war sie aufgestanden, wortlos, und hatte beschlossen, es zurückzubringen. Dorthin, wo sie es gefunden hatte. Vielleicht würde es dann aufhören, sie zu rufen.

Der Keller war unverändert. Feucht, kühl, leicht nach Metall riechend – doch heute lag noch etwas anderes in der Luft. Etwas Bitteres. Wie verbrannte Rosen, vermischt mit Asche.

Langsam ging sie zwischen den Regalen hindurch, ihre Schritte hallten gedämpft auf dem alten Steinboden. Der Platz, an dem sie das Bild gefunden hatte, war nicht weit – unter einer der losen Dielen, dort, wo der Boden leicht uneben war und sich das Holz fremd angefühlt hatte.

Sie beugte sich, wollte das Tuch ablegen – und hielt inne.

Dort stand eine Kiste.

Ob sie vorher schon da gewesen war? Sie wusste es nicht. Vielleicht hatte sie sie übersehen. Vielleicht war sie neu. Vielleicht hatte sie einfach nur gewartet.

Alt. Verkrustet. Dunkles Holz, das sich bei Berührung kälter anfühlte als alles um sie herum. Als hätte es nie Licht gesehen. Kein Staub lag darauf. Kein Spinnennetz. Sie wirkte fehl am Platz – oder so, als hätte sie nur auf den richtigen Moment gewartet, um gesehen zu werden.

Lyra zögerte. Ihre Fingerspitzen kribbelten. Dann hob sie den Deckel.

Ein einziges Objekt lag darin. Ein in dunkles, fast schwarzes Leder gebundenes Buch. Keine Verzierung. Keine Worte. Nur zwei eingravierte Buchstaben auf dem Einband: K. M.

Wie auf dem Bild.

Sie schluckte. Etwas in ihr wollte sich abwenden. Weggehen. Aber ihre Finger schlossen sich schon darum. Der Einband war warm. Nicht wie von Sonne – sondern wie Haut.

Als sie es öffnete, war es, als würde der Keller kurz den Atem anhalten. Die Luft verdichtete sich. Die Lampe flackerte.

Und dann: eine Schrift. Fein, scharf, kunstvoll. Tintenstriche wie Narben auf der Seite.

___

Ich war nicht gemacht für Sehnsucht.

Ich war das, was nimmt – nicht das, was hält.

Doch er hielt mich. Lange genug, dass ich es glauben wollte.

___

Mein Name ist Kaine Monroe. Ein Name, der in vielen Mündern wie Gift klingt – und in meinem wie Reue.

Ich erinnere mich nicht an den Moment, in dem mein Leben begann. Aber ich erinnere mich an den Moment, in dem es endete – lange bevor ich starb. Es war der Tag, an dem ich ihm begegnete. Dem Wesen aus Licht und Schweigen. Dem Hüter, der kam, um meine Seele zu bewachen.

Ich wusste, was er war. Ich wusste, warum er da war. Die Welt kannte meine Art. Dämonen, wie sie uns nannten, Kinder des Hungers, geborene Raubtiere, geschaffen aus Feuer, gefüttert mit Gier. Doch ich war nicht wie sie. Nicht ganz. Nicht mehr. Ich hatte zu oft gespürt, dass da etwas fehlte. Etwas, das ich nicht benennen konnte. Etwas, das ich in mir selbst nicht fand.

Kaelan Lucen Voxen.

Er trat nicht aus dem Licht. Er trat aus der Stille. Als hätte ihn die Welt selbst erschaffen, nur um mich zu binden. Nicht mit Ketten. Sondern mit Blicken, die mehr hielten als jedes Metall.

Anfangs sprach er kaum. Er war da, wie der Schatten eines Versprechens. Nicht hart, nicht weich – nur gegenwärtig. Seine Stimme kam selten, aber wenn sie sprach, klang sie wie Wasser über Stein. Klar, ruhig, und dennoch mit einer Kraft, die alles durchdrang.

Ich beobachtete ihn. Und er mich.

Nicht wie ein Wächter seinen Gefangenen. Sondern wie jemand, der etwas erkennen will. Etwas, das man selbst nicht mehr erkennt.

Ich erinnere mich an eine Nacht, als ich erwachte und ihn auf der Schwelle meines Raumes sitzen sah. Regungslos. Die Hände gefaltet, der Blick gesenkt. Als wäre er ein Gebet, das nie gesprochen wurde. Ich fragte ihn, warum er nicht schlafe. Er sagte nur: „Solange du atmest, bin ich wach."

Es war das erste Mal, dass ich zitterte – nicht vor Wut. Sondern vor der Ahnung, dass ich nicht mehr allein war.

Es begann nicht mit Worten. Es begann mit Schweigen.

Er war der Erste, der mich nicht mied, wenn ich schwieg. Der nicht flüchtete, wenn ich zu lange blickte. Er war da, wie die Luft – und ich hatte nicht gewusst, wie sehr ich sie brauchte, bis ich das Atmen lernte.

Er stellte keine Bedingungen. Kein Urteil. Kein Zwang.

Aber mit jedem Tag wurde ich weniger etwas Fremdes. Nicht, weil ich mich ändern wollte – sondern weil ich in seiner Nähe etwas fand, das mich veränderte. Still. Langsam. Wie das Licht, das unbemerkt durch Ritzen dringt.

Er brachte mir bei, Geduld zu empfinden. Nicht nur zu zeigen. Und als er mir einmal eine Blume reichte – nichts Besonderes, einfach etwas, das am Wegrand gewachsen war – spürte ich, wie mein Herz schwer wurde. Nicht vor Hunger. Sondern vor etwas, das wie Sehnsucht war.

Ich begann, ihm Fragen zu stellen. Nicht aus Neugier. Sondern aus dem Wunsch, mehr zu erfahren. Über ihn. Über das, was er war. Über das, was ich vielleicht sein könnte.

Und immer wieder sah ich diesen Ausdruck in seinem Gesicht, wenn er mir antwortete – wie jemand, der schon lange nichts mehr schenken durfte.

Ich weiß nicht, wann das Hüten zu etwas anderem wurde.

Vielleicht war es die Nacht, in der ich in seinen Armen lag, ohne dass ein Wort fiel. Vielleicht war es das erste Mal, dass ich die Flamme in mir ruhen ließ. Vielleicht war es der Moment, als ich spürte, dass ich ihn nicht nur begehrte – sondern brauchte.

Nicht wie ein Bedürfnis. Sondern wie etwas, das in mir fehlte – nicht an der Oberfläche, sondern tief darunter. Es war, als hätte die Welt selbst uns aus demselben Stoff gesponnen, nur um uns dann in zwei Körper zu binden. Er war kein anderer. Er war der fehlende Teil. Nicht als Beweis meiner Macht. Sondern als Erinnerung daran, dass etwas in mir lebendig war.

Er wurde mein Leuchten in der Finsternis.

Und ich – ich begann zu glauben, dass ich mehr sein könnte.

Doch selbst das sanfteste Licht wirft Schatten.

Ich erinnere mich an den ersten Moment, in dem meine Kontrolle bröckelte. Nicht durch Wut. Nicht durch Schwäche. Sondern durch Nähe. Er saß nur da, in diesem alten Raum mit den blanken Steinen und der flackernden Flamme, die kaum Wärme gab. Kaelan sprach über Sternbilder, nicht einmal mit Blick auf den Himmel – sondern, als würde er sie erinnern, nicht beobachten.

Und während seine Stimme durch die Dunkelheit glitt, roch ich es. Nicht an ihm – an mir. Der Hunger. Diese leise, brennende Glut, die durch meine Adern kroch. Ich wollte nicht nehmen. Nicht von ihm. Ich wollte hören, spüren, sein. Doch mein Körper erinnerte sich an andere Nächte. An andere Flammen.

Kaelan bemerkte es. Natürlich bemerkte er es. Er verstummte, sah mich an – nicht schockiert. Nicht einmal misstrauisch. Sondern... wie ein ruhiger See, in den ein Stein fällt. Wellen, ja. Aber keine Flucht. Kein Bruch.

„Du kämpfst," sagte er leise. Kein Vorwurf. Nur Feststellung.

Ich nickte. Oder schüttelte den Kopf. Ich weiß es nicht mehr. Ich fühlte mich wie etwas Zerfallendes. Wie eine Tür, die klemmt – und dennoch knirscht, wenn man an ihr rüttelt.

Er stand auf. Ging auf mich zu. Und ich wollte ihm sagen: Geh nicht näher.

Aber da war er schon. So nah, dass ich seinen Atem hätte zählen können. Die Wärme seiner Haut. Den Geruch von Eisenkraut und Stille. Er hob seine Hand, und ich hielt den Atem an. Nicht aus Angst. Sondern weil ich wusste, dass ich ihn in diesem Moment nicht nur wollte – sondern brauchte. Und das machte mich gefährlich.

Seine Hand berührte mein Gesicht. Fingerspitzen, vorsichtig, als wäre ich Glas.

„Du bist nicht dein Hunger," sagte er. Und ich wollte schreien: Doch, das bin ich. Das war ich immer.

Aber ich tat es nicht.

Stattdessen legte ich meine Stirn an seine Schulter und ließ mich halten. Und die Flammen in mir... sie bebten. Sie zogen sich zurück. Nicht ganz. Aber genug, um den Moment zu retten.

In dieser Nacht schlief ich zum ersten Mal in Frieden.

Doch Frieden ist kein Zustand. Er ist ein Moment. Und ich war nie dafür geschaffen, ihn zu halten.

Mit jedem Tag wurde es schwerer. Die Welt um uns herum begann, zu drängen. Die anderen spürten es – dass ich mich wandelte. Dass Kaelan nicht nur mein Wächter war. Und dass ich etwas sah, was ich nicht hätte sehen dürfen: Hoffnung.

Ein Dämon mit Hoffnung ist gefährlicher als einer mit Hunger.

Die Flammen in mir schlummerten nicht. Sie fraßen.

Nicht laut, nicht brüllend, aber stetig, gnadenlos.Mit jedem Atemzug spürte ich, wie die Dunkelheit in meinem Inneren sich regte, die Gier wuchs – ein unbändiges Verlangen, das nicht zu stillen war.

Kaelan spürte es auch. Ich sah es in seinen Augen, in der Stille, die zwischen uns wuchs.

Doch anstatt sich zurückzuziehen, suchte er meine Nähe immer wieder, wie ein Anker in dem aufgewühlten Meer meines Hungers.

Mit sanften Berührungen und leisen Worten versuchte er, mich zu halten, mich zu retten – sich selbst vielleicht auch.

Seine Gegenwart war ein zerbrechliches Versprechen, das flackerte, aber nicht erlosch.

Ich wollte ihn festhalten, mich an ihm festhalten, doch ich spürte die Risse, die der Hunger zwischen uns trieb.

Es gab Nächte, in denen ich mich von ihm abwandte, ohne ein Wort,

und Nächte, in denen er mich suchte, mit dem Blick eines verlorenen Kindes.

Unsere Seelen, einst verwoben, zogen sich zurück, als wüssten sie, dass das, was sie verband, auf Messers Schneide stand.

Und doch...

inmitten all dieser Zerrissenheit gab es Momente, in denen wir uns fanden – kurze Atempausen, flüchtige Berührungen, die uns daran erinnerten, was wir verloren hatten und was wir hätten sein können.

Aber der Hunger – der Hunger war stärker.

Die Tage wurden kürzer, die Nächte länger.

Der Hunger in mir war ein ständiger Begleiter, wie ein Schatten, der mich nie verließ. Er raubte mir die Kraft, machte mich unruhig, jagte mich in den Wahnsinn. Und doch war da Kaelan – immer da, immer wachsam, immer geduldig.

Aber Geduld ist nicht unendlich.

Ich konnte sehen, wie sich seine Augen verdunkelten, wenn ich schwieg. Wie er sich abwandte, wenn ich zu nah kam. Wie er sich manchmal in der Stille verlor, als suchte er eine Antwort, die ich ihm nicht geben konnte.

Eines Abends, als das Feuer im Kamin nur noch schwach glomm, saßen wir zusammen, ohne ein Wort zu sprechen. Der Raum war erfüllt von einem schweren Schweigen, das lauter war als jede Konfrontation.

Ich wollte ihn berühren, ihn festhalten, ihn nicht verlieren. Aber ich wusste, dass ich es nicht konnte. Nicht so.

Der Hunger fraß mich auf – und ich wusste, dass ich ihn eines Tages zerstören würde. Oder er mich.

Wir waren gefangen in diesem Spiel aus Nähe und Abstand, aus Liebe und Verzweiflung. Zwei Seelen, die einander brauchten und doch nicht retten konnten.

Die Schatten der Nacht krochen leise über die Wände, als Kaelan sich neben mich setzte. Seine Präsenz war kaum mehr als ein Flüstern, doch in der Stille sprach sie lauter als Worte. Ich spürte, wie er zögernd die Hand hob, unsicher, ob ich sie zulassen würde. Seine Finger berührten meine Haut so sanft, als fürchteten sie, mich zu zerbrechen.

„Ich bin hier", hauchte er, seine Stimme kaum mehr als ein Atemzug.

Ich wollte antworten, wollte ihm sagen, dass ich Angst hatte, ihn zu verlieren, dass der Hunger mich zerreißen würde. Doch die Worte blieben in meiner Kehle stecken. Stattdessen ließ ich meine Hand sich langsam zu seiner bewegen, als wäre es ein letzter Akt des Vertrauens.

Er hielt meine Hand fest, als könnte er mich damit vor der Dunkelheit schützen, die in mir wuchs. Sein Blick bohrte sich in meinen, suchte nach dem Kaine, den ich längst zu verbergen versuchte. Und in diesem Moment, in dieser verletzlichen Nähe, fühlte ich ein Aufblitzen von Hoffnung – so kurz, so zerbrechlich.

Aber ich wusste, dass sie nicht ausreichen würde. Nicht gegen diesen Hunger.

Es gab diese eine Nacht, als der Wind gegen die Fenster peitschte und das Haus zu zerreißen schien.

Kaelan und ich saßen nahe beieinander, die Dunkelheit umhüllte uns wie ein schwerer Mantel. Seine Hand lag fest um meine, seine Finger zitterten leicht.

„Du bist nicht allein," flüsterte er, und seine Stimme brach fast.

Ich sah in seine Augen – die eisig-grauen, so voller Sorge und Schmerz –, und für einen Moment fühlte ich mich gehalten.

Doch tief in mir kämpfte etwas, immer noch, immer wieder, das ich einfach nicht besiegen konnte.

Der Hunger war ein Schatten, der lauerte, der zerrte, der mich einforderte.

Ich spürte, wie die Kontrolle entglitt, wie die Dunkelheit meine Seele durchdrang.

„Kaine, kämpf mit mir, nicht allein." sagte Kaelan leise, „Wir können es schaffen."

Aber ich wusste, dass manche Kämpfe nicht gewonnen werden können.

Und in dieser Nacht zerbrach etwas – nicht mit einem Knall, sondern leise, wie das Zerbrechen von Glas in Zeitlupe.

Kaelan spürte es. Ich spürte es.

Ich wollte ihn halten.

Doch ich fühlte, wie sich etwas zwischen uns veränderte — langsam, kaum sichtbar, aber unumkehrbar.

Ein feiner Riss, der sich dehnte, während wir uns bemühten, ihn zu ignorieren.

Und obwohl wir beide wussten, dass der Hunger immer da war, schwiegen wir darüber, als könnten wir ihn so fernhalten.

Jede Berührung wurde vorsichtiger, jede Nähe zugleich ersehnt und gefürchtet.

Wir suchten Halt in einander, fanden ihn manchmal, verloren ihn öfter.

Kaelan versuchte mich zu retten. Jeden Tag aufs Neue.

Mit seinen Worten, seiner Wärme, seinem stillen Versprechen, dass er nicht gehen würde.

Aber es reichte nicht. Noch nicht.

Es gab Momente, in denen wir uns trotz allem fanden.

Kurze Augenblicke, in denen die Welt stillzustehen schien und nur wir existierten.

Seine Hand auf meiner, sein Atem neben meinem, die Gewissheit, dass ich nicht ganz verloren war.

Doch diese Augenblicke wurden seltener.

Der Hunger, der in mir schlief und doch lauerte, verlangte mehr.

Ich fühlte, wie er mich zu zerreißen drohte, wie er meine Seele ausbrennen wollte.

Kaelan sah es.

In seinen Augen spiegelte sich nicht nur Sorge, sondern auch Verzweiflung.

Er wollte mich retten, aber er wusste, dass es Tage geben würde, an denen er machtlos sein würde.

Wir hielten uns fest, so gut wir konnten.

Doch das Schicksal war unerbittlich, und manchmal schien es, als würde unsere Geschichte an diesem Abgrund enden.

Ich wusste, was passieren würde. Jede Faser in mir schrie dagegen an, doch der Hunger war stärker als jede Vernunft. Mein Herz zerbrach bei dem Gedanken, dass ich nicht nur mich, sondern auch ihn verdammte. Er, der meine Seele bewachen sollte.

Der Moment kam still und schwer wie ein erdrückendes Gewicht.

Die Nacht war dunkel und still, nur das ferne Heulen des Windes durchbrach die Stille.

Ich wusste, was ich tun musste – und doch zitterten meine Hände, als ich mich dem Kind näherte.

Seine Seele war rein, unberührt von der Dunkelheit, die mich verzehrte.

Ein kleines Licht inmitten der Finsternis, so zerbrechlich, dass es kaum zu fassen war.

Ich fühlte den Hunger wie ein Feuer, das in meinem Inneren tobte, mich zerriss und forderte.

Jede Faser meines Wesens schrie dagegen an – doch ich wusste, ich konnte nicht widerstehen.

Langsam, fast zärtlich, legte ich meine Hände auf seine kleine Brust, spürte das Pulsieren seiner Seele unter meiner Haut.

Und dann nahm ich sie.

Die Seele des Kindes schrie nicht. Sie weinte nicht.

Sie war zu rein, zu jung, um zu begreifen, was mit ihr geschah.

Ich sog sie in mich, spürte, wie sie zerbrach, wie sie sich verwandelte.

Gefangen in einer ewigen Qual, verflucht, so wie ich, zu werden, was ich niemals hätte sein wollen.

Die Schatten in mir lachten leise, als sie das unschuldige Licht in mir verbrannten.

Und in diesem Moment, verborgen im Schatten, sah ich ihn. Kaelan.

Sein Gesicht war bleich, die Augen weit vor Schmerz und unendlicher Trauer.

Er hatte gesehen, was ich getan hatte – den Bruch, die Sünde, die ich begangen hatte.

Ich wusste, dass ich ihn verraten hatte.

Dass ich nicht nur das Kind verdammt hatte, sondern auch seine Seele.

Kaelan, der Hüter, war jetzt selbst verloren.

Gefangen in dem Wissen, dass er nicht schützen konnte, was ihm anvertraut war.

Sein Schweigen war lauter als jedes Wort.

Sein Zerbrechen war eine Wunde, die nie heilen würde.

Ich sah es in seinen Augen. Nicht nur Trauer – etwas, das tiefer war als jeder Schmerz, den ich je gekannt hatte.

Es war ein Zerbrechen. Kein lautstarker Bruch, sondern das leise Verblassen dessen, was Kaelan ausmachte.

Er, der Hüter, der Wächter, der mein Licht sein sollte, lag nun unter der Last meiner Tat.

Ich fühlte, wie seine Seele sich in mir spaltete — als würde mein Verrat auch ihn in Stücke reißen.

Er schwieg, und in seinem Schweigen lag mehr als Worte sagen könnten.

Sein Herz schlug leiser, schwächer, als würde es wissen, dass ich ihn verdammt hatte.

Er flüsterte, kaum hörbar: „Ich habe versagt. Ich konnte dich nicht retten."

Es war nicht nur sein Schmerz, sondern auch seine eigene Verzweiflung über das, was er nicht verhindern konnte.

Denn ich wusste, dass er seinen Schwur brach, wenn er mich nicht schützen konnte.

In dem Moment begriff ich, dass ich nicht nur mich selbst, sondern auch ihn verloren hatte.

Dass unsere Verbindung zerbrach, zerfiel, während ich dem Hunger nachgab, der uns beide verschlingen würde.

Und während er zerbrach, zerbrach auch ein Teil von mir — die Hoffnung, dass wir jemals heil sein könnten.

Kaelan war gebrochen, zerfressen von dem Schmerz, den ich ihm zugefügt hatte. Und ich hasste mich selbst dafür — für das, was ich ihm genommen hatte, für das, was ich zerstört hatte.

Wir hassten uns. Nicht aus Feindschaft, sondern aus unerträglichem Schmerz. Aus dem Wissen, dass wir einander zerstört hatten — und doch nicht loslassen konnten.

Er war nicht mehr der Hüter, den ich kannte. Die Wärme in seinem Blick war erloschen, ersetzt durch Kälte, die mich durchdrang.

Es war dieser Hass und diese Verzweiflung, die ihn dazu trieben, einen neuen Schwur zu leisten. Einen Schwur, der ihn für immer binden sollte — den Schwur der Maske.

Die Maske ist nicht nur ein Schutzschild. Sie ist ein Siegel, das Kaelan an seinen Schwur bindet – ein Schwur, den er nie brechen darf.

Sie ist wie eine zweite Haut, schwer und kalt, und doch die einzige Hülle, die ihn vor der Welt und vor sich selbst bewahrt.

Sie ist das Symbol seines Versprechens, sich nie wieder zu öffnen, nie wieder zu vertrauen, um nie wieder so zerbrochen zu werden.

Kaelan darf die Maske nie ablegen. Nicht vor mir. Nicht vor irgendjemandem.

Der Hass war das, was uns trennte. Nicht die Maske.

Sie trennt uns nicht, aber sie ist das Zeichen seiner inneren Einsamkeit — seiner Mauer gegen die Welt und gegen mich.

Wir leben getrennt, gebrochen durch Hass und Schuld, verbunden nur durch das Wissen um das, was einst war und nie wieder sein kann.

Ich schreibe dies nicht, um Vergebung zu erlangen.

Ich schreibe es, weil ich die Wahrheit kenne — die bittere Last, die ich trage, und die Narben, die ich hinterlasse.

Kaelan war mein Licht und mein Schatten, mein Hüter und mein Gefangener.

Ich war der Hunger, der ihn zerbrach, und der Verrat, der unsere Seelen entzweit hat.

Ich weiß nicht, ob wir je wieder heil werden können.

Doch solange ich schreibe, werde ich nicht vergessen — nicht ihn, nicht das, was wir waren.

Und vielleicht, irgendwo in der Dunkelheit, wartet eine Chance — für Erlösung, für Frieden.

Bis dahin werde ich weiterkämpfen. Gegen den Hunger. Gegen mich selbst.