Das Bild lag noch auf dem Schreibtisch. Halb im Schatten, halb vom Licht gestreift, das durch den trüben Fensterrahmen fiel, wirkte es fast lebendig. Lyra hatte es nicht weggelegt, obwohl sie es vielleicht hätte tun sollen. Ihre Finger zitterten leicht, als sie es erneut berührte – nicht aus Kälte, sondern wegen dieser seltsamen Unruhe, die sich unter ihre Haut geschoben hatte, kaum merklich, aber beständig.
Es war das alte, halb verbrannte Porträt mit den Initialen K. M. – jenes, das sie im alten Haus gefunden hatte. Die obere Hälfte war ein schwarzer Rand aus verkohltem Papier, die Linien ausgefranst, als hätte das Feuer sich durch etwas Lebendiges gefressen.
Ein Kribbeln zog durch ihre Schläfen, langsam und beharrlich, als würde sich etwas in ihr regen, das nicht dorthin gehörte. Etwas Altes. Etwas, das nicht vergessen werden wollte. Sie erinnerte sich nicht an Worte. Nur an ein Gefühl. Eine Berührung – nein, der Schatten einer solchen. Kälte, die sich durch Haut schob wie Rauch, ohne Ursprung. Das Bild hatte keine Augen, und doch fühlte sie sich gesehen. Durchdrungen.
Das Amulett an ihrem Hals lag schwer, wärmer als sonst, als würde es auf etwas reagieren, das nicht greifbar war. Die Wärme wanderte ihre Brust hinab, pochte unter ihrer Haut, als würde etwas dort leben, das sich erinnerte. Es war kein angenehmes Brennen, sondern eher ein Summen, das mit jedem Atemzug stärker wurde.
Ihr Magen zog sich zusammen. Ihre Beine fühlten sich plötzlich seltsam fremd an – zu leicht, zu weit entfernt. Die Welt war zu nah und doch entrückt. Sie atmete flach, und die Luft schien sich zu verweigern. Nur für einen Moment. Aber dieser Moment reichte.
Ein Bruchstück – nicht klar, nicht greifbar – schob sich vor ihre Gedanken. Ein Standbild in Grau. Rauch. Der Hauch einer Stimme, die etwas sagte, das sie nicht verstand. Eine Silhouette. Eine Hand, die sich ihr entgegenstreckte, ohne sich zu bewegen. Und eine Kälte, die nicht von dieser Welt war. Nicht böse. Aber auch nicht menschlich.
Ihre Fingerspitzen krallten sich leicht in den Tischrand. Der Staub auf dem Holz klebte an ihrer Haut, aber sie bemerkte es kaum. Ihr Blick war auf das Bild geheftet, als könnte es in der nächsten Sekunde antworten, sich vollends offenbaren oder... verschwinden.
Ein leises Summen stieg in ihren Ohren auf, wie von etwas, das tief unter der Haut lag und nur darauf wartete, geweckt zu werden. Ihre Haut prickelte, ihre Schultern spannten sich, und eine Gänsehaut kroch ihren Nacken hinab – nicht vor Kälte, sondern vor Ahnung. Eine Art vorbewusstes Wissen, das sich ihrer Wahrnehmung entzog, aber alles in ihr wachrief.
Das Amulett glühte nun dumpf gegen ihre Haut, pulsierend, als würde es atmen – oder sich erinnern. Die Farbe des Lichts im Raum hatte sich verändert, kaum merklich, doch unübersehbar: ein matter Schimmer lag über allem, als wäre die Wirklichkeit selbst ein wenig verrutscht.
Sie hielt das Amulett fest, als könne es die Bruchstücke zusammenhalten, dann stand sie auf. Die Luft im Zimmer war stickig, zu still. Zu nah. Der Raum schien kleiner geworden zu sein – voller. Dicht von Erinnerungen, die keine Form hatten. Das Holz des Bodens knarrte unter ihren Schritten, als wollte es sie aufhalten, festhalten – oder warnen.
Ohne einen klaren Gedanken zu fassen, zog sie ihre Jacke über, öffnete die Tür leise und trat nach draußen. Die Kälte des Flurs war wie eine Ohrfeige. Und doch empfand sie Erleichterung. Als würde allein das Entfernen vom Bild etwas in ihr lockern, das sich zuvor um ihre Rippen geschlungen hatte. Ein tiefer Atemzug – der erste seit Minuten, der wirklich in ihre Lungen drang.
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Sie wusste nicht, wohin sie ging. Nur, dass sie jetzt wegmusste. Irgendwohin, wo das Zittern unter ihrer Haut nicht so laut war. Irgendwohin, wo sie atmen konnte – auch wenn sie nicht wusste, ob sie wollte, was die Luft mit sich brachte.
Der Abend war kühl, aber nicht grausam. Die Art von Kälte, die nicht beißt, sondern nur an den Wimpern haftet und einen daran erinnert, dass man atmet. Ihre Schritte waren leise auf dem halbgefrorenen Boden, während sie sich dem Gewächshaus näherte. Es stand da wie immer: ruhig, beinahe abwartend, das Glas angelaufen, als würde es die Welt draußen nicht mehr ganz einlassen wollen.
Sie öffnete die Tür. Ein leises Quietschen, dann Stille.
Drinnen empfing sie eine andere Welt. Warme, feuchte Luft schlug ihr entgegen, und der Geruch nach Erde, Harz, verblühter Kamille und trockener Rinde linderte das Ziehen in ihrer Brust. Die Pflanzen reagierten sofort. Einige Blätter richteten sich leicht auf, als hätten sie ihre Anwesenheit gespürt. Eine Ranke zuckte im Licht, schien sich leicht zu ihr zu neigen. Blüten öffneten sich lautlos, als wären sie aus einem langen Schlaf erwacht. Es war, als würde der Raum sie erkennen.
Lyra trat weiter hinein. Zwischen den Bankreihen hindurch, den leise raschelnden Blättern entlang, tiefer ins Halbdunkel. Das Licht fiel sanft durch die Glasdecke, getränkt in das Blau des sich neigenden Himmels. Und doch überkam sie das Gefühl, nicht allein zu sein. Nicht beobachtet. Aber getragen. Gehalten.
Dann kam es – schleichend. Wie aus dem Nichts. Ein Druck in der Brust. Der Atem wurde flacher. Ihre Knie fühlten sich an, als wären sie nicht mehr Teil ihres Körpers. Der Weg hatte sie bis ganz ans Ende des Gewächshauses geführt – dorthin, wo sich eine kleine, mit Moos überwachsene Stelle im Boden wölbte. Unauffällig. Doch etwas an dieser Erhebung zog sie an. Ohne zu überlegen, hatte sie die Fingerspitzen ausgestreckt und den Rand berührt.
Etwas in der Erde vibrierte. Nicht laut, nicht sichtbar – aber spürbar. Wie ein Echo unter der Haut. Ein Bruchteil eines Moments nur, und doch wirkte es, als hätte ihr Körper alles in sich zurückgezogen, was sie noch aufrecht hielt.
Ihre Beine gaben nach. Ein Schwindel raste durch sie hindurch, nicht wie Wind, sondern wie Leere. Die Welt drehte sich nicht, aber sie entfernte sich. Ganz langsam. Sie hielt sich an einem alten Holzregal fest, spürte die raue Struktur unter ihren Fingernägeln. Versuchte, zu atmen. Zu denken. Doch das Zittern griff nach ihr wie Wasser, das an den Knöcheln zieht.
Ein leises Knacken.
Sie hob den Kopf.
Er stand da. Still wie ein Schatten, zwischen Farnen und einer hölzernen Tür, halb im Licht, halb im Dunkel. Der Mann mit der Maske. Derjenige, dessen Blick nicht laut wurde, aber dennoch etwas in ihr aufriss.
Er sagte nichts.
Und doch war da etwas in seiner Haltung, das anders war. Nicht gleichgültig. Nicht feindlich.
Sie schwankte leicht, ihre Hand rutschte vom Regal. Ein kaum merklicher Laut kam über ihre Lippen.
Da bewegte er sich. Nur ein Schritt. Dann stoppte er. Er wirkte fester, angespannter. Seine Finger verkrampften sich sichtbar, als würden sie etwas festhalten wollen – oder sich selbst davon abhalten, etwas zu tun. Seine Schultern bewegten sich kaum, doch in seinem Stand lag eine unerträgliche Spannung.
Es war, als wollte er sie auffangen, zu ihr eilen, ihr Halt sein – aber jeder Muskel schien sich gegen die Bewegung zu sträuben. Nicht aus Gleichgültigkeit. Sondern aus Angst. Aus Zurückhaltung, die tiefer ging als bloßer Zweifel.
Sein Blick ruhte auf ihr, hart, forschend, zerrissen. Und doch überbrückte er die Distanz nicht. Als wäre Berührung verboten. Oder gefährlich. Kein Wort, kein Griff, kein Trost.
Dann geschah etwas Seltsames.
Ein alter Stuhl, der in der Nähe stand – kaum beachtet, leicht verstaubt – bewegte sich langsam, fast unmerklich, bis er hinter Lyra zu stehen kam. Sie spürte ihn erst, als sie zurückwich und gegen seine Lehne stieß. Ihr Blick flog wieder zu ihm.
Er stand immer noch dort. Die Hände zu Fäusten geballt. Die Schultern hochgezogen.
"Setz dich," sagte er. Leise. Ruhig. Ohne Druck.
Sie tat es. Nicht weil sie gehorchte, sondern weil ihr Körper nachgegeben hatte. Das Holz unter ihr war fest, aber nicht kalt. Ihre Hände ruhten im Schoß, die Finger umschlossen das Amulett. Es war kühler geworden.
Als sie wieder aufblickte, war er näher. Nicht viel. Nur einen halben Schritt. Doch es reichte, um ihren Herzschlag zu beschleunigen. Nicht aus Furcht. Sondern wegen der Frage, die unausgesprochen zwischen ihnen hing.
"Warum bist du hier?" fragte sie.
Er antwortete nicht sofort. Die Pause war lang genug, dass sie glaubte, er würde schweigen.
Dann: "Weil du es bist."
Und ehe sie etwas sagen konnte, war er verschwunden.
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Die Pflanzen bewegten sich noch leicht. Als hätten sie jedes Wort gehört. Lyra blieb sitzen, sie war erschöpft. Ihre Finger umklammerten das Amulett, als könne es sie verankern. Die Luft im Gewächshaus hatte sich verändert – sie war dichter geworden, feuchter, mit einem Hauch von Eisen und etwas, das nach altem Lavendel roch. Langsam richtete sie sich auf. Jeder Muskel fühlte sich an, als würde er sich neu erinnern müssen, wie man stand.
Als sie sich umsah, fiel ihr Blick auf eine der Pflanzen in der hinteren Ecke des Raumes – eine feine Pflanze mit fast schwebenden Halmen, deren Farbe zwischen Nachtgrau und dunklem Violett changierte – wie Dunst im Abendlicht, durchzogen von silbrigen Fäden, die im richtigen Winkel schimmerten, dessen Halme in der feuchten Luft leicht vibrierten. Es war das Flüstergras – jenes, das sie für den Mann mit der Maske gesucht hatte. Sie kannte seine feinen Halme, hatte sie in den Händen gehalten, ihren Duft eingeatmet. Jetzt aber... es hatte sich bewegt. Nicht wie eine Pflanze im Wind. Sondern wie etwas, das aufmerksam geworden war.
Sie trat näher. Die Halme richteten sich sanft in ihre Richtung. Kein Laut, kein Rascheln – und doch hatte sie das Gefühl, dass es etwas sagen wollte. Kein Wort, aber eine Präsenz. Eine zarte Schwingung in der Luft. Als ihre Fingerspitzen beinahe die Pflanze streiften, überkam sie eine Gänsehaut. Die Luft vibrierte leise, wie vor einem Flüstern, das man noch nicht hören konnte. Sie wich zurück. Nicht aus Angst, sondern aus Ehrfurcht. Und weil sie spürte: Dies war nicht der Moment für Antworten. Nur das Wissen, dass dieser Ort auf sie zu reagieren scheint.
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Sie kehrte still in ihr Zimmer zurück. Ihre Beine fühlten sich schwer an, aber die Kühle der Dielen unter ihren Sohlen hatte etwas Beruhigendes. Kein Laut folgte ihr, als sie die Tür hinter sich schloss. Das Licht war weich, gedämpft, als hätte der Raum selbst begriffen, dass etwas in ihr erschöpft war.
Die Katze.
Nicht plötzlich. Nicht erschreckend. Als hätte sie einfach dazugehört, schon immer. Ihr dunkles Fell glänzte wie schwarzer Samt im Zwielicht, durchzogen von einem kaum sichtbaren Schimmer, als würde das Licht an ihr verweilen. Ihre Augen waren halb geschlossen, die Pfoten ordentlich unter dem Körper gefaltet. Ganz still.
Lyra sagte nichts. Setzte sich auf das Bett. Ihre Finger ruhten auf dem Stoff der Decke, tastend, fast suchend. Die Stille war diesmal kein Gewicht. Eher wie warmer Atem auf der Haut. Minuten vergingen. Vielleicht mehr. Die Katze bewegte sich nicht, und doch spürte Lyra, dass etwas in ihr sich beruhigte. Tief, wie Wasser, das sich langsam wieder glättet.
Sie erinnerte sich – an die anderen Male. Wie oft war die Katze da gewesen, wenn sie zur Ruhe gekommen war? Nach dem Kochen. Im Flur. Am Fenster. Immer dann, wenn sie weich geworden war. Wenn in ihr etwas stiller wurde.
Langsam – beinahe zögerlich – streckte Lyra eine Hand aus. Ihre Finger schwebten einen Moment über dem seidigen Fell, als wolle sie erst sich selbst davon überzeugen, dass es erlaubt war. Dann berührte sie die Katze, kaum mehr als ein Hauch. Das Fell war warm, weich, von einer beruhigenden Tiefe, die sich sofort auf ihre Hand legte. Die Katze bewegte sich nicht, schnurrte nicht – aber etwas in Lyra ließ los. Ihre Schultern senkten sich, der Druck in ihrer Brust wich. Es war, als würde das Zittern in ihren Gedanken schweigen, weil etwas anderes für sie atmete.
Ein leiser Laut entkam ihren Lippen – kein Wort, eher ein Gedanke, der zu Ton geworden war.
„Zellya."
Die Katze blinzelte langsam. Nicht zustimmend. Nicht fragend. Einfach da. Als hätte sie diesen Namen schon immer getragen.
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Noch in dieser Ruhe, ohne dass ihr Blick sich erneut senkte, legte sich Schwere über Lyras Lider. Sie legte sich zurück, den Kopf auf das Kissen, während Zellya auf der Fensterbank verharrte – eine stille Wache. Der Schlaf kam nicht abrupt. Eher wie Nebel, der durch die Ritzen kroch und sich zwischen Gedanken legte.
Dann sah sie ihn.
Nicht das erste Mal – aber diesmal näher. Cassian. Er stand in einer dunklen Gasse, jene, die sie kannte. Die Mauer hinter ihm war kalt und feucht, das Licht schwach, flackernd wie von einer alten Laterne. Er trug dasselbe, was sie in Erinnerung hatte – nicht auffällig, aber wie etwas, das er nicht loswurde.
Sie trat einen Schritt näher. Er hob den Kopf, langsam. Und diesmal sah er sie wirklich an. Nicht wie ein Schatten. Nicht wie eine Gefahr. Sondern wie jemand, der etwas wiederfindet, von dem er nicht wusste, dass er es verloren hatte.
„Du bist also wieder hier," sagte er leise. Seine Stimme war ein Ton, kein Klang – wie eine Note, die man unter der Haut spürt. Lyra wollte antworten, doch ihre Stimme war nicht da. Nur ihr Blick, ihre Anwesenheit.
Er trat näher, und zwischen ihnen war nichts als die Nacht. Kein Wind. Kein Geräusch. Nur dieses leise Pulsieren der Welt – wie das Flimmern von Hitze auf Stein.
„Du solltest nicht träumen, Lyra."
Ihre Augen weiteten sich. Es war kein Vorwurf. Keine Warnung. Nur ein Wissen, das zu alt war, um noch Erklärung zu brauchen.
Und ehe sie etwas denken konnte, war er verschwunden. Wie Rauch im Morgenlicht.
Sie erwachte mit einem leisen Laut. Nicht erschrocken. Aber mit dem Gefühl, dass der Traum etwas gewesen war – mehr als nur ein Traum. Etwas, das nachklang. Wie ein Echo in einer Höhle, das nicht verstummte, sondern weiterlebte – irgendwo tief in ihr.