Der Morgen kam nicht wie ein Neubeginn. Er schlich sich durch das Fenster, als wisse er selbst nicht, ob er bleiben durfte. Grau, fast durchsichtig, legte sich das Licht auf die Holzdielen, auf die Ränder des zerknitterten Lakens, auf die offenen Notizseiten, die Lyra gestern Abend noch gelesen, aber nicht zu Ende gedacht hatte. Der Dunst war geblieben. Wie ein Gast, der keine Worte brauchte, um zu wissen, dass er noch nicht gehen sollte.
Lyra lag mit dem Rücken zur Tür, die Augen halb geöffnet, den Atem flach. Nicht weil sie schlief, sondern weil das Wachsein sich heute wie etwas Fragiles anfühlte – wie eine Haut, die zu dünn war, um den Tag zu tragen. Ihre Hand lag über dem Amulett, das sich wieder dorthin geschlichen hatte, ohne dass sie es bewusst getan hatte. Es war nicht kalt. Aber auch nicht warm. Nur... da. Wie etwas, das wusste, dass es gebraucht wurde, obwohl niemand den Mut hatte, es auszusprechen.
Sie drehte sich nicht. Stattdessen ließ sie ihre Finger über die Kette gleiten – langsam, als wolle sie aus ihr lesen wie aus einer alten Zeile, die man nicht verstehen, nur fühlen konnte.
Das Bild lag noch auf dem Nachttisch, sorgfältig eingewickelt in das Leinentuch, das sie gestern benutzt hatte, um es aus dem Keller zu holen. Sie hatte es nicht wieder ansehen wollen – nicht direkt. Und doch spürte sie, dass es nicht weit war. Dass sein Gewicht in der Luft lag, als hätte das halbe Gesicht, das darauf verbrannt war, einen Abdruck in ihrer Brust hinterlassen.
K. M.
Die Buchstaben waren wie ein Fluch, den man nicht laut aussprechen durfte. Und doch dachte sie sie immer wieder. Nicht, weil sie wusste, wer er war. Sondern, weil irgendetwas in ihr schon begonnen hatte, es zu wissen.
Ein leises, kaum hörbares Klopfen an der Fensterscheibe ließ sie aufschauen.
Zuerst war da nur der Dunst. Und dann: Bewegung.
Nicht laut. Nicht fordernd. Nur leise Präsenz.
Ein Paar bernsteinfarbener Augen ruhte im Fensterrahmen. Der Kater – oder die Katze – von damals. Graugetigertes Fell, ein Stich ins Bläuliche, wie aus Dunst gewoben. Die Pfoten wirkten zu elegant für ein gewöhnliches Tier. Und doch war da nichts Magisches, nichts Übernatürliches an ihr. Nur ein Blick. Still, wach, alt.
Es war dieselbe Katze, die ihr an ihrem ersten Abend hier begegnet war. Dieselbe, die auf der Veranda gewartet, sie still betrachtet und sich dann wieder zurückgezogen hatte. Und auch jene, die sie in der Küche aufgesucht hatte, in jenem stillen, fast zerbrechlich wirkenden Moment, als sie tanzte, barfuß und gedankenverloren, während die Musik durch das alte Haus geflossen war wie eine Erinnerung an etwas, das nie ganz ihr gehörte.
Lyra richtete sich halb auf, zog die Decke mit einem Ruck über ihre Schultern, als müsse sie sich gegen etwas wappnen, das nie ausgesprochen wurde. Ihre Augen trafen die des Tiers. Kein Fauchen. Kein Miauen. Nur dieser Blick – tief wie Wasser, das nicht gespiegelt werden will.
Die Katze bewegte sich nicht. Sie saß auf dem Fenstersims, regungslos, mit einer Selbstverständlichkeit, die Lyra kurz das Gefühl gab, nicht sie sei diejenige, die beobachtete. Sondern diejenige, die geprüft wurde.
"Na du", murmelte sie heiser, ihre Stimme kaum mehr als ein Kratzen im Raum. Das Tier zuckte nicht. Nur ein Ohr bewegte sich, als hätte es die Worte gehört, aber nichts damit anzufangen gewusst.
Dann, wie von einem unsichtbaren Befehl, erhob sich die Katze. Drehte sich um. Und verschwand im Dunst – nicht eilig, nicht scheu. Nur leise. Nur wie etwas, das weiß, wohin es gehört.
Lyra blieb zurück. Ihr Blick ruhte noch eine Weile auf dem Fenster, obwohl es längst leer war.
Sie setzte sich langsam auf. Und wusste: Sie würde heute hinausgehen.
___
Der Regen hatte sich in einen feinen, fast unsichtbaren Nebelschleier zurückgezogen, als Lyra das Haus verließ. Der Türgriff fühlte sich kühler an als sonst, fast so, als hätte das Metall ihre Unruhe gespürt. Kein Wind. Kein Laut. Nur das leise Knirschen ihrer Schuhe auf dem feuchten Steinweg, als sie sich langsam auf den Weg machte, ohne Ziel, ohne Richtung – nur mit dem Gefühl, dass sie gehen musste.
Moonvale erwachte nicht mit Hektik. Die Stadt schien immer schon halb wach, halb träumend zu sein – wie ein Ort, der nie ganz schläft, aber auch nie ganz aufwacht. Die alten Häuser mit ihren verwitterten Fassaden wirkten, als wären sie aus Geschichten gebaut, nicht aus Stein. Wilde Reben rankten sich über Fensterrahmen, in denen vereinzelte Kerzenflammen flackerten – auch am Tag.
Die Straßen waren nicht in einem Raster angelegt, sondern folgten den Kurven des Landes, den Linien von etwas Älterem, das hier einst den Weg vorgegeben hatte. Es gab kaum Schilder, und wenn doch, waren sie verwittert, von Moos überwachsen oder mit Symbolen versehen, deren Bedeutung man nur ahnte. In einer Ecke summte ein altes Windspiel aus Knochen und Glas, kaum hörbar, wie der Rest eines Liedes, das niemand mehr kannte.
Lyra bog in eine schmale Gasse ab, in der der Boden aus schief verlegtem Kopfsteinpflaster bestand. Ihre Schritte hallten kaum, aber das Echo war da – tief, wie ein Flüstern unter den Steinen. Die Mauern zu beiden Seiten waren von Efeu überwuchert, der in seltsamen, fast runenartigen Mustern wuchs. Der Geruch von nassem Holz, Lavendel und etwas Metallischem lag in der Luft.
Eine Katze huschte über den Weg, nicht dieselbe, sondern kleiner, mit dunklem Fell und scheuen Augen. Auf einem Fenstersims saß eine alte Frau. Ihre Haare waren weiß, zu einem strengen Dutt gebunden, ihr Blick ruhig. Sie sah Lyra an. Kein Lächeln. Nur ein Nicken.
„Du bist zurück", sagte sie.
Lyra hielt inne. Wollte fragen, was sie meinte – doch da hatte die Frau das Fenster schon geschlossen. Nur der Vorhang bewegte sich noch, wie ein letzter Gedanke, der nicht ausgesprochen worden war.
Sie ging weiter. Vorbei an einem Schaufenster voller getrockneter Kräuter, in Bündeln aufgehängt wie altes Wissen. Der Laden hatte keinen Namen, nur ein Symbol über der Tür – ein Kreis mit einem offenen Auge darin. Als Lyra kurz stehen blieb, flackerte das Licht darin. Kein Strom. Nur Kerzenschein. Und dann: als hätte jemand gespürt, dass sie beobachtete, erlosch er.
In einem kleinen Innenhof standen drei alte Holzbänke um eine trockene Brunnenfassung. An den Wänden wuchsen Pflanzen, die aussahen wie schlafende Farne – zurückgezogen, aber wach. Eine der Bänke war feucht vom Dunst, die andere mit Moos bedeckt. Nur die dritte war trocken. Als hätte jemand sie heute früh abgewischt.
Hinter dem Platz mit den Bänken weitete sich die Gasse und führte in eine offene Fläche, die von krummen Laternen und gemauerten Torbögen umgeben war – der Markt von Moonvale. Kein geschäftiges Treiben, kein lautes Anpreisen, wie sie es aus anderen Städten kannte. Hier klang alles leiser. Gedämpft. Als würden selbst die Stimmen Rücksicht auf die Geschichte nehmen, die dieser Ort ausatmete.
Zwischen den Ständen – aus dunklem Holz, von feinen Ranken umwoben – bewegten sich Menschen in gemächlichem Rhythmus. Eine Frau mit einem Korb voller moosbedeckter Pilze. Ein älterer Mann, der getrocknete Kräuter abwog und dabei leise mit einem Vogel sprach, der auf seiner Schulter saß. Kinder mit wollenen Mützen, die um eine flache Schale voller Murmeln standen – jede schimmerte anders, wie aus Licht gesponnen.
Ein Stand roch nach Honig und Rauch. Ein anderer nach feuchter Erde und Stein. Nirgendwo standen Preisschilder. Stattdessen lagen kleine, eingeritzte Holzplättchen auf den Tüchern, die über die Waren gespannt waren – mit Zeichen, die Lyra nicht lesen konnte.
Der Dunst lichtete sich hier nicht ganz, aber er wirkte heller. Weicher. Als hätte er sich entschieden, den Platz zu verschonen, um seine Wärme zu schützen. Über den Dächern kreisten Krähen, langsam, fast ehrfürchtig, und auf einem der Dächer saß die Katze. Die gleiche wie heute Morgen. Diesmal weit entfernt. Doch ihre Augen ruhten auf Lyra – nur einen Moment lang, bevor sie sich umwandte und verschwand.
Lyra trat näher an einen Stand mit Glasgefäßen, in denen winzige Lichter schwammen. Keine Kerzen, keine Glühbirnen – eher wie kleine Seelen aus Dunst. Eine Frau mit silbernem Haar und blasser Stimme sagte, ohne sie anzusehen: „Sie folgen dir nur, wenn du vergessen hast, was du suchst."
Lyra erwiderte nichts. Aber sie blieb stehen. Und das Licht in einem der Gläser flackerte – als hätte es ihren Namen gehört.
Der Platz verengte sich hinter dem letzten Stand und führte durch einen schattigen Durchgang in eine kleine, von Mauern geschützte Nische. Es war ein stiller Ort – fast vergessen von der Stadt, wie ein geheimer Garten, der nur denen erschien, die nicht danach suchten.
Dort saß Riven.
Er hatte sie nicht bemerkt. Noch nicht. Auf einer niedrigen Steinbank, das Gesicht dem Licht entrückt, die Hände locker ineinandergelegt. Seine roten Locken wirkten dunkler im Halbschatten, feucht vom Dunst, und seine Schultern hingen ein wenig, als trüge er etwas, das er weder ablegen noch benennen konnte.
Lyra blieb am Rand stehen. Etwas an seinem Anblick ließ sie innehalten – nicht aus Unsicherheit, sondern aus einer zarten, beinahe unberührten Form von Respekt. Er war nicht nur Riven, nicht nur jemand, der sie zum Lachen gebracht oder in der Küche gestanden hatte mit einer Tasse Tee in der Hand. Er war jemand, der zerbrach, ohne dass es jemand sehen durfte.
Er hob den Kopf, als hätte er sie gespürt. Nicht erschrocken. Eher wie jemand, der wusste, dass genau dieser Moment früher oder später kommen musste.
„Hey", sagte er. Nicht zu laut. Nicht zu hell. Nur genau so, wie ihre Gedanken gerade klangen.
Sie trat näher, langsam, und setzte sich auf die gegenüberliegende Bank. Zwischen ihnen: ein flacher Pflasterboden, gesprenkelt von Blättern und ein paar vereinzelten Tropfen, die von den überhängenden Ästen fielen.
„Ich wusste nicht, dass du hier bist", sagte sie, obwohl es nicht stimmte. Irgendetwas in ihr hatte ihn gesucht – oder sich gewünscht, dass er sie fand.
„Ich weiß nie, wo ich sein will", antwortete er, und ein schwaches Lächeln schlich sich über sein Gesicht. „Aber dieser Platz... er hört zu, weißt du?"
Sie nickte. Mehr war nicht nötig.
Eine Weile schwiegen sie. Kein Schweigen, das trennt – sondern eines, das wie Moos war: weich, wärmend, geduldig.
Dann sagte Riven, fast beiläufig: „Als ich klein war, dachte ich, Stille wäre gefährlich. Weil sie bedeutet, dass gleich etwas passiert. Etwas Schlimmes. Aber jetzt..."
Er zögerte. Sah sie an. Und in seinen Augen lag nichts Bedrohliches. Nur Müdigkeit. Und Hoffnung.
„Jetzt glaube ich, dass Stille auch nur atmet. So wie wir."
Lyra legte die Hände in ihren Schoß. Ihre Finger waren kühl, aber nicht kalt. „Ich glaube, ich wusste nie, was Stille ist. Nur wie sie sich anhört, wenn man alleine ist."
Er beugte sich leicht vor, nicht bedrohlich, nicht zu nah – nur gerade so, dass sie den Dunst zwischen ihnen spüren konnte. „Du bist nicht mehr allein."
Sie sagte nichts. Aber ihr Blick wich nicht aus. Und das war Antwort genug.
Der Dunst zog durch den offenen Bogen. Irgendwo schlug eine alte Turmuhr die nächste Stunde an. Riven lehnte sich zurück, sah in die Krone eines Baumes, der sich wie ein Schattenriss über das graue Licht legte.
„Wenn du willst... können wir einfach hier sitzen. Ohne Grund."
Lyra nickte. Und für eine lange Weile blieb alles, wie es war. Zwei Menschen. Zwei Atemzüge. Und die Ahnung, dass Nähe nicht laut sein muss, um zu bleiben.
___
Der Weg zurück führte Lyra nicht direkt. Ihre Schritte trugen sie tiefer in das Grenzland zwischen Stadt und Wald, wo der Nebel dichter wurde und das Licht sich in Schichten brach wie durch mattes Glas. Dort, wo die Wurzeln der alten Bäume sich mit dem Pflaster verflochten, hielt sie inne. Etwas in ihr wusste, dass sie nicht allein war.
Ein Flüstern. Kein Wort. Kein Wind. Nur das Gefühl, dass etwas wartete – nicht auf sie, sondern mit ihr.
Und dann trat er aus dem Nebel.
Nicht laut. Nicht plötzlich. Der Mann mit der Maske. Die Umrisse seiner Gestalt verschwammen im Dunst, als gehöre er nicht ganz in diese Welt. Seine Bewegungen waren ruhig, fast bedächtig. Wie jemand, der nichts mehr beweisen musste.
Lyra wich nicht zurück. Doch sie sagte auch nichts. Irgendetwas an seiner Gegenwart machte Worte überflüssig.
Er blieb auf Abstand. Die Maske glänzte feucht vom Dunst, aber seine Haltung war unverändert – nicht drohend, nicht offen. Nur still.
„Komm mit", sagte er, ohne sie anzusehen.
Seine Stimme schnitt nicht durch die Stille – sie fügte sich in sie, wie ein Windhauch, der schon da war, bevor man ihn bemerkte. Lyra blieb einen Moment reglos stehen. Ihre Augen hielten an ihm, doch sie fragte nicht. Sie wusste nicht, wohin. Nur, dass sie es wissen wollte.
Er ging voran, schweigend, und sie folgte. Nicht aus Vertrauen. Nicht aus Mut. Sondern weil etwas in ihr zart vibrierte – eine Erinnerung ohne Bild, ein Klang ohne Ursprung.
Der Pfad war schmal, fast überwachsen, und doch fühlte sich jeder Schritt wie Teil eines alten Weges an. Der Nebel wurde immer dichter, nicht drückend, sondern tragend. Als wäre er nicht gegen sie, sondern für sie da.
Und dann sah sie es – durch die kahlen Äste hindurch, zwischen verwachsenen Zweigen: das Gewächshaus. Dasselbe, in dem sie vor wenigen Tagen gestanden hatte. Die beschlagenen Scheiben. Der rostige Rahmen, über den sich altes Efeu zog wie eine schlafende Narbe. Der Ort, der sich damals nicht verlassen, sondern nur verborgen angefühlt hatte.
Der Mann blieb davor stehen. Öffnete keine Tür. Berührte nichts. Seine Präsenz war genug.
Lyra trat näher. Durch die Scheibe erkannte sie Bewegung – kein Licht, keine Gestalt. Nur ein leises Flimmern. Und dann: das Flüstergras. In einer dunklen Ecke des Raumes, geschützt vor jedem Blick. So, wie sie es in Erinnerung hatte. Nur... lebendiger.
„Ich kann es nicht berühren", sagte er leise. „Aber du kannst es."
Sie wusste nicht, wie sie das verstand. Aber sie verstand es.
Langsam öffnete sie die knarzende Tür. Der Geruch von Erde, Tau und etwas Metallischem schlug ihr entgegen. Einen Moment lang stand sie still, noch im Rahmen. Ihr Blick streifte über das dichte Grün, die verhangenen Scheiben – und blieb an etwas haften. In der hintersten Ecke, halb verborgen unter Farnen und zurückgeschobenen Töpfen, zeichnete sich ein dunkler, runder Rand ab. Ein alter Brunnen – von Efeu überwuchert, fast mit dem Boden verschmolzen. Nicht aus Glas, nicht aus Metall. Sondern Stein, rau und porös, als hätte er mehr Zeit gesehen als alles andere hier. Kein Deckel lag darüber. Nur Schatten. Und Stille.
Lyra wusste nicht, warum sie den Blick nicht davon lösen konnte. Etwas an ihm fühlte sich anders an. Nicht fremd – aber auch nicht vertraut. Wie eine Erinnerung, die man nicht selbst erlebt hatte. Sie trat nicht näher heran. Nicht heute. Aber sie wusste, dass sie ihn wiedersehen würde. Das Gras neigte sich, als spürte es sie – nicht körperlich, sondern innerlich. Ihre Hand zitterte nicht, als sie sich näherte.
Einen Moment lang hielt sie inne. Das Licht, das durch die beschlagenen Scheiben fiel, war weich wie Atem. Die Luft im Inneren war dicht, beinahe ehrfürchtig – als wollte der Raum selbst schweigen, um nichts zu stören. Jeder Schritt auf dem moosbedeckten Boden klang wie ein Gedanke, der gehört werden wollte.
Dann entdeckte sie ihn – einen einzelnen Halm. Dunkelviolett. Mit feinen Linien, die wie Erinnerungen durchzogen waren.
Sie schnitt ihn ab, vorsichtig, ohne Hast. Legte ihn draußen auf einen flachen Stein vor seine Füße.
Er sah nicht sie an. Nur das Gras.
„Danke", sagte er.
Und dann war er fort.
Kein Schritt. Kein Laut. Nur Abwesenheit. Als hätte ihn der Dunst verschluckt, weil er seinen Teil gesagt hatte.
___
Der Weg zurück war schmal und leer. Moonvale schien zu schlafen – oder zu warten. Ihre Schritte klangen gedämpft auf dem Pflaster, als gehörten sie nicht ihr.
Und dann, in einer schmalen Gasse zwischen zwei Häusern, blieb sie stehen.
Da war jemand.
Nicht laut, nicht plötzlich – nur da. Wie ein Gedanke, der nicht gedacht, sondern gespürt wurde. Wie eine Wunde, die nicht blutet, aber nicht heilt. Er stand in der Gasse, von Dunst umgeben, als hätte der Tag ihn ausgeatmet und vergessen, ihn wieder einzusammeln.
Der Mann, dem sie zweimal begegnet war. Das erste Mal auf der Straße – wortlos, mit einem Blick, der wie ein Sturm in ihr gewütet hatte. Dann im Wald, wo seine Stimme sie getroffen hatte wie ein längst vergessenes Lied. Und jetzt – jetzt war er wieder hier. Unverkennbar. Unerklärlich. Unvermeidlich.
Lyra hielt den Atem an. Nicht aus Angst. Sondern aus diesem leisen Zittern unter der Haut, das kam, wenn etwas Bedeutungsvolles geschah – etwas, das man nicht benennen konnte, bevor es einen verändert hatte.
Er sah sie nicht sofort an. Stand nur da, wie jemand, der nicht wartet, sondern weiß. Und als sich ihre Blicke endlich trafen, war es kein Wiedererkennen. Es war ein Fortsetzen. Als hätte das, was zwischen ihnen geschwiegen hatte, nur kurz innegehalten.
„Warum?" fragte sie leise, ihre Stimme kaum mehr als ein Flüstern.
Er antwortete nicht sofort. Doch sein Blick wurde weicher. Nicht warm – aber weicher.
„Weil du atmest wie jemand, der vergessen hat, wie das Leben klingt."
„Und du?" Ihre Stimme war fester jetzt, klarer. „Wie atmest du?"
Ein langer Moment verging. Dann sagte er, ohne die Augen von ihr zu nehmen: „Gar nicht mehr. Nicht wirklich."
Sie trat einen Schritt näher. Langsam. Ihre Bewegungen waren wie das Öffnen einer Tür, hinter der man nie Licht vermutet hatte.
„Warum bist du hier?"
„Weil ich geglaubt habe, dass ich nichts mehr fühlen muss. Und du mich Lügen strafst."
Seine Worte fielen nicht wie Bekenntnisse. Sie waren wie Kiesel in ruhiges Wasser – kleine Kreise, die sich in ihr ausbreiteten, langsam, aber unaufhaltsam.
„Ich weiß nicht, wer du bist", flüsterte sie.
„Nein."
„Aber ich glaube... ich sollte es."
Er schloss kurz die Augen, als müsse er sich an etwas erinnern, das lange vergraben war.
„Vielleicht solltest du das. Aber nicht heute."
Sie wollte noch etwas sagen – vielleicht eine Frage, vielleicht ein Trotz. Doch dann kam seine Stimme wieder. Leise. Bruchlos.
„Cassian."
Ihr Herz stockte.
„Was?"
„Mein Name", sagte er. „Wenn du ihn willst."
Sie wiederholte ihn nicht. Sie tastete sich nur innerlich an ihn heran. Und spürte, wie etwas in ihr sich bewegte. Nicht dramatisch. Aber echt.
Er wandte sich ab. Nicht abrupt. Sondern wie jemand, der wusste, dass Worte genug waren. Für jetzt.
Und Lyra stand da. Mit einem Namen auf der Zunge. Und einem Gefühl, das keinen Namen brauchte.
Denn er würde wiederkommen.
Und das war genug.