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Kapitel 3 – Nebel über Schatten

Die Nacht lag schwer über Moonvale.

Nicht wie ein Schleier, sondern wie eine Decke aus feuchtem Samt, die selbst den Atem dämpfte. Kein Laut drang durch das geöffnete Fenster, obwohl irgendwo in der Ferne ein Wind durch die Bäume strich. Es war nicht die Stille der Ruhe – sondern jene, die etwas ankündigte. Etwas, das noch keinen Namen hatte.

Lyra wachte auf, ohne zu wissen, warum.

Ihre Augen öffneten sich nicht hastig, sondern langsam – wie jemand, der längst gespürt hat, dass etwas nicht stimmt. Der Raum war kaum mehr als eine Silhouette. Die Schatten der Möbel zogen sich in die Ecken zurück, und das matte Licht des Nebelmonds ließ alles wie durch Milchglas erscheinen. Ihre Decke lag noch halb über ihr, warm vom Schlaf, aber ihre Haut war kühl. Frösteln breitete sich in ihr aus – nicht vom Wetter, sondern von innen.

Ihre Finger bewegten sich unter der Bettdecke. Suchend. Und fanden es.

Das Amulett.

Es lag auf ihrer Brust. Obwohl sie es abends auf den Nachttisch gelegt hatte. Sie wusste es. Hatte es dort gesehen. Und doch lag es nun hier – die Kette kühl, das Metall jedoch… warm. Nicht unangenehm. Eher wie Hautkontakt. Als hätte es einen eigenen Puls. Einen Herzschlag, der nicht ihrer war.

Lyra hob es langsam an. Der Mondschein traf auf die Oberfläche, doch das Licht wurde geschluckt. Kein Glanz. Nur Tiefe. Dunkel und vibrierend, wie Wasser, das von innen flimmert. Ein Echo von etwas, das älter war als Sprache.

In dem Moment, in dem sie es ganz umschloss, durchzuckte sie ein Zittern. Kein Schmerz. Kein wirklicher Schreck. Eher wie das erste Einatmen nach einem Tauchgang – zu hastig, zu tief. Ihre Lungen spannten sich, ihr Herz stolperte.

Etwas war wach geworden.

Sie setzte sich auf. Das Laken klebte leicht an ihrer Haut. Der Geruch von kaltem Nebel drang durchs Fenster – und etwas darunter. Etwas Bitteres, Eisenhaltiges. Wie Blut, das lange getrocknet war. Wie… Erinnerung.

Ihr Blick glitt zur Tür. Sie war geschlossen. Doch hinter ihr: ein Geräusch. Leise. Fast wie ein Schritt auf altem Holz – oder der Atem eines Hauses, das nicht schlief. Lyra hielt den Atem an. Das Amulett lag nun offen auf ihrer Handfläche, und obwohl sie es nicht festhielt, blieb es ruhig. Wie ein Tier, das wartet. Lauscht. Bereit ist.

Etwas in ihr schrie danach, sich zu verstecken. Doch etwas anderes… stand auf.

Sie schob die Decke zurück, setzte ihre Füße auf den Boden. Das Holz war kalt, fast feucht. Der Weg zum Fenster war nur ein paar Schritte lang – aber jeder von ihnen hallte in ihr wider, wie durch eine andere Zeit.

Ihr Blick fiel hinaus in den Garten. Der Nebel war dichter geworden. Weiß, fast silbrig, und lebendig. Und mitten darin: eine Bewegung.

Keine klare Gestalt. Kein Schatten. Nur eine Veränderung im Nebel. Als würde etwas dort stehen – still. Wartend. Oder längst gegangen, aber nicht vergessen.

Lyra konnte sich nicht abwenden.

Sie legte die Hand gegen das Glas. Die Kälte zog in ihre Finger, aber sie spürte es kaum. Alles in ihr war auf diesen einen Punkt gerichtet. Diesen Teil im Nebel, der… atmete. Als würde die Welt dort für einen Moment langsamer schlagen.

Dann – nichts. Ein Flackern. Und alles war wieder leer.

Sie blieb noch etwas dort stehen. Das Amulett in ihrer Hand. Die andere an der Scheibe. Und irgendwo tief in ihr: ein Wissen, das noch keine Worte kannte. Etwas Uraltes. Etwas, das ihren Namen schon kannte, lange bevor sie ihn selbst sprach.

Der Nebel bewegte sich weiter. Doch in ihr blieb er stehen.

Die Welt war noch grau, als sie das Haus verließ. Nebel hing tief zwischen den Bäumen wie schlafende Gedanken, und der Boden unter ihren Füßen war weich vom Tau der Nacht. Kein Wind, kein Vogelruf – nur das gleichmäßige Tropfen der Feuchtigkeit von Blatt zu Blatt.

Sie wusste nicht, warum sie ging. Nur, dass sie musste. Etwas in ihrer Brust zog, ohne Richtung. Ohne Ziel. Als würde ihr Herz sich erinnern, was ihr Kopf noch nicht wissen durfte.

Der Wald nahm sie auf wie einen verlorenen Vers. Farn berührte ihren Mantel, feine Spinnweben tasteten nach ihrer Haut. Jeder Schritt war leise. Jeder Laut ein Widerspruch.

Und dann – Bewegung.

Nicht laut. Nicht drohend. Nur spürbar.

Eine Frau stand dort. Fast regungslos. Ihr Haar war feucht vom Nebel, ein Ton zwischen Wasser und Metall – gedämpftes Türkis, seltsam fremd. Sie trug keine Kapuze. Ihre Augen waren hell – zu hell für diese Dunkelheit.

Lyra stockte.

Sie kannte diese Frau nicht. Nicht wirklich. Aber sie hatte sie gesehen. Einmal. Flüchtig. Am Rand der Stadt – zwischen knorrigen Bäumen, in der Dämmerung. Damals hatte sie noch gedacht, es sei Einbildung gewesen. Ein Trugbild aus Regen und Licht. Doch jetzt, hier, in der stillen Tiefe des Waldes, war sie real. Greifbar. Und seltsam… unnahbar.

Etwas in der Art, wie sie stand. Wie sie sie ansah. Als hätte sie auf sie gewartet.

„Du solltest nicht hier sein“, sagte sie leise.

Lyra blieb stehen. Die Kälte kroch ihr in die Finger, doch sie wich nicht zurück. „Und wer entscheidet das?“

Ein winziges Zucken um den Mund der Fremden – kein Lächeln. Eher ein bitteres Echo. „Du hast keine Ahnung, was du da trägst.“

Lyra blickte kurz auf das Amulett. „Dann erklär es mir.“

Stille. So dicht, dass sie knisterte.

Die Frau trat einen Schritt näher. Nicht bedrohlich – aber unentrinnbar. „Wenn ich es sage, wirst du es nicht mehr vergessen können.“

„Vielleicht will ich das.“

Ein Schatten huschte über ihr Gesicht – Müdigkeit, Schmerz oder etwas Drittes, das Lyra nicht benennen konnte. Dann – Schritte hinter ihr.

Lyra drehte sich nicht sofort um. Sie wusste, wer da kam.

Riven.

Sein Atem war hörbar, sein Schritt weich. Als sie sich langsam umwandte, begegnete sie seinen Augen – offen, überrascht, vielleicht auch beunruhigt. Und etwas darin: ein Bedauern, das nicht ausgesprochen werden konnte.

„Riven“, sagte sie leise. Nicht als Frage. Als Erinnerung.

Er sagte kein Wort. Nur ein kurzer Blick zu der Frau. Etwas wie Geschichte lag darin. Dann zu Lyra. Ein stummes: Es tut mir leid.

Die Fremde sah ihn lange an. Dann wandte sie sich wortlos ab. „Komm“, sagte sie leise.

Riven zögerte einen Moment, als wolle er etwas sagen – doch er tat es nicht. Stattdessen folgte er ihr, mit einem letzten Blick über die Schulter.

Und Lyra blieb zurück – allein zwischen den Bäumen, während der Nebel sie erneut umhüllte.

Der Wald hatte sich verändert.

Nicht wirklich. Nicht greifbar. Aber irgendetwas in der Luft war anders, als Lyra sich tiefer zwischen die Bäume wagte. Der Nebel war dichter geworden, schwerer. Wie Gedanken, die zu lange geschwiegen hatten. Ihre Schritte waren langsam, nicht aus Angst – sondern aus Ehrfurcht.

Sie wusste nicht, wohin sie ging. Nur, dass etwas sie führte. Kein Pfad war sichtbar, und doch trugen ihre Füße sie mit einer Sicherheit, die nicht aus ihr kam. Vielleicht war es das Amulett. Vielleicht war es Erinnerung, die ihr nicht gehörte.

Ein Gewächshaus.

Nicht groß, nicht majestätisch. Eher wie etwas, das längst hätte vergehen müssen. Und doch stand es da. In sich versunken, von Efeu umwoben, das die Risse im Glas wie Narben nachzeichnete. Der Boden davor war weich, mit kleinen, violetten Blüten durchzogen, die Lyra noch nie gesehen hatte. Und der Geruch – nicht süß, nicht faul. Etwas dazwischen. Etwas Altes.

Sie trat näher. Jeder Schritt knisterte leise auf dem feuchten Untergrund. Das Amulett wurde schwerer, als würde es etwas erkennen. Oder sich erinnern. Eine feine Hitze legte sich auf ihre Haut, kaum spürbar, aber gegenwärtig wie ein Blick im Nacken.

Lyra hob die Hand und legte sie gegen das Glas. Es war nicht kalt. Es vibrierte. Nur schwach – wie der letzte Atemzug eines Traums.

Im Inneren war kaum etwas zu erkennen. Pflanzen, die nicht aus dieser Jahreszeit zu stammen schienen. Schatten, die sich nicht bewegten. Und etwas wie ein Kreis aus Steinen – zu regelmäßig, um natürlich zu sein.

Sie wagte keinen Schritt hinein. Nicht jetzt. Nicht heute.

Aber sie wusste: Hier war etwas geschehen. Oder würde es noch. Etwas, das alt war. Voller Bedeutung. Vielleicht für andere. Nicht für sie.

Der Wind regte sich. Nur ein Hauch. Doch die Blätter über ihr raschelten wie Seiten eines Buches, das jemand aufschlug. Und plötzlich war da ein Ton – kaum hörbar, tief im Inneren des Gewächshauses. Kein Laut. Kein Wort. Nur… ein Ruf.

Lyra wich zurück. Nicht aus Angst. Sondern weil sie spürte: Wenn sie heute weiterginge, würde etwas in ihr zerbrechen.

Sie drehte sich um. Und ging.

Nicht eilig. Nicht fliehend. Nur mit dem Wissen, dass dies kein Ort war, den man leichtfertig betrat.

Und dass er warten würde.

Die Bäume rückten enger zusammen auf ihrem Rückweg. Nicht drängend, nicht feindlich – eher wie Zeugen, die nicht urteilen. Der Nebel hatte sich ein wenig gelichtet, blieb jedoch tief zwischen den Wurzeln hängen wie unausgesprochene Worte.

Sie ging langsam. Nicht, weil sie erschöpft war – sondern weil etwas in ihr noch zwischen den Glaspaneelen des Gewächshauses verweilte. In diesem vibrierenden Schweigen, das sich angefühlt hatte wie ein zu spät ausgesprochenes Geständnis.

Er stand einfach da.

Wie aus den Schatten selbst geschnitten. Keine Bewegung, kein Geräusch. Nur Präsenz.

Der Mann mit der Maske – derselbe, den sie in der ersten Nacht in Moonvale gesehen hatte. Unter einer Laterne, flüchtig, zwischen zwei Fremden,: Damals hatte er den Blick abgewendet, zu schnell, zu gezielt. Und genau das war es, was sie jetzt erkannte.

Lyra blieb stehen. Ihr Herz schlug nicht schneller – aber schwerer. Sie erkannte ihn, noch bevor sie seine Augen sah. Diese maskeverhüllte Gestalt, deren bloße Anwesenheit etwas in ihr zum Verstummen brachte – ohne dass sie hätte sagen können, warum.

Er sagte nichts. Und sie auch nicht.

Die Stille zwischen ihnen war nicht leer – sie war geladen. Nicht feindlich, nicht vertraut. Nur… bedeutungsvoll. Wie eine Brücke, die keiner betreten wollte, aber beide betrachteten.

„Du warst dort“, sagte er schließlich. Seine Stimme war leise, aber nicht fragend.

Lyra hob das Kinn, ein Reflex. „Es ist ein freier Wald.“

Ein kaum merkliches Nicken. Oder war es der Nebel, der sich bewegte?

„Dort wächst eine Pflanze. Dunkelgrün, violette Spitzen. Man nennt sie Flüstergras.“

Lyra runzelte die Stirn. „Und?“

„Ich brauche sie.“

Mehr nicht. Kein Bitte. Kein Grund. Nur dieser Blick – verborgen und doch durchdringend.

„Dann hol sie dir.“

„Wenn ich es tue, welkt sie.“

Ein paar Herzschläge Stille.

„Aber wenn ich es tue, nicht?“, fragte Lyra langsam.

„Nein.“

Sie wollte fragen, warum. Aber etwas in seinem Tonfall ließ es wie eine Grenze wirken. Eine Linie, die sie heute nicht überschreiten sollte.

„Du musst sie nicht bringen“, sagte er ruhig. „Nur abschneiden. Sie wächst auf der Rückseite. Zwischen den Wurzeln.“

Lyra antwortete nicht sofort. Dann nickte sie langsam. „Ich denke darüber nach.“

Ein Vogel rief irgendwo in der Ferne. Der Mann trat zur Seite. Nicht einladend. Aber auch nicht ablehnend.

„Du solltest zurückgehen. Es wird kälter.“

„Du auch?“

Er schwieg einen Moment. Dann drehte er sich um, als wäre die Antwort in seinem Rückzug verborgen.

Lyra blickte ihm nicht nach. Sie wartete, bis seine Schritte im Nebel verklangen – wenn sie denn wirklich zu hören waren. Dann wandte sie sich ebenfalls ab. Ihr Herz war ruhig. Doch irgendetwas in ihr hatte sich verschoben.

Nicht viel. Nur ein kleines Stück.

Aber manchmal war das alles, was es brauchte.

Das Haus roch noch nach Tee, als sie die Tür leise hinter sich schloss.

Nicht nach frischem Tee. Sondern nach dem, was blieb – feine Spuren von Wärme, von getrockneten Kräutern, von etwas, das fast Erinnerung war. Lyra stellte ihre Tasche ab, die sie gar nicht bewusst getragen hatte. Ihre Finger waren kalt, aber nicht taub. Ihre Schultern gespannt, aber nicht schwer.

Sie ging nicht direkt in die Küche. Stand nur einen Moment im Flur, der schmal war und still. Der Boden unter ihren Füßen knarrte leise, als wollte er ihr sagen, dass das Haus noch da war – noch ganz. Noch wach.

Im Spiegel an der Wand sah sie sich selbst. Verwaschene Konturen, rötliches Haar, das vom Nebel feucht geworden war. Ihre Augen wirkten dunkler, als sie sich erinnerte. Tiefer. Als hätte sie etwas gesehen, das nicht wieder verschwand.

Sie zog die Jacke aus. Hängte sie an denselben Haken wie gestern. Oder vorgestern. Die Tage verschwammen. Die Stille war kein Feind, aber auch kein Trost. Nur da.

Die Küche empfing sie mit dem Geruch abgestandener Wärme. Der Wasserkocher war noch eingesteckt. Der alte Holztisch leer. Sie stellte den Kessel an. Nicht, weil sie frierte – sondern weil sie das Geräusch brauchte. Dieses leise Summen, das versprach: Gleich passiert etwas. Etwas Einfaches. Etwas Lebendiges.

Während das Wasser erwärmte, lehnte sie sich an die Anrichte. Ihre Finger lagen auf dem Holz, tastend, suchend – obwohl sie nichts greifen wollte.

Der Tee war mild. Kamille. Vielleicht auch Lavendel. Sie hatte das Etikett nie gelesen.

Mit der dampfenden Tasse in der Hand trat sie ans Fenster. Der Nebel hatte sich ein wenig gelichtet, aber die Welt war noch weich. Noch nicht ganz entschieden.

Sie sah hinaus. Der Nebel war wie ein Band zwischen dem Jetzt und dem, was vielleicht nie ganz greifbar sein würde. Alles wirkte ein wenig zu still, ein wenig zu wach.

Und doch stand sie da – mit einer Tasse in den Händen und einem Gedanken in der Brust, der noch keinen Namen trug.

Vielleicht war es kein Wandel, der kam. Sondern nur das erste Aufatmen vor dem nächsten Schritt.

Und sie hoffte, dass die Stille diesen einen Augenblick noch festhielt – nur für sie allein.

Es war schon dunkel, als es an der Tür klopfte.

Nicht laut. Nicht fordernd. Eher wie ein Gedanke, der anklopfte, um sicherzugehen, dass er willkommen war.

Lyra zuckte kaum merklich zusammen. Sie hatte niemanden erwartet – nicht in dieser Nacht, nicht mit diesem Gefühl in der Brust, das noch zu weich war, um es zu benennen. Die Tasse in ihren Händen war leer, die Teekräuter längst ausgezogen. Nur die Wärme war geblieben.

Noch ehe sie sich vollständig erhoben hatte, hörte sie seine Stimme – leise, wie durch Nebel: „Ich bin’s… Riven.“

Sie öffnete.

Er stand da, leicht geduckt unter dem Türrahmen, das Haar vom feinen Regen feucht, die Hände in den Jackentaschen vergraben. Sein Blick war nicht unsicher, aber tastend. Als wollte er abwarten, ob sie ihn wirklich sehen wollte.

„Ich wollte nicht stören“, sagte er. „Nur… kurz.“

Lyra trat einen Schritt zur Seite. Sagte nichts. Musste auch nichts sagen. Die Tür war Antwort genug.

In der Küche roch es nach feuchtem Holz und dem letzten Hauch von Lavendel. Riven sah sich nicht um, setzte sich auch nicht. Er blieb stehen, wie jemand, der gelernt hatte, sich nie ganz niederzulassen.

„Vorhin…“, begann er. Dann brach er ab. Holte tief Luft. „Sie ist nicht so, wie sie wirkt.“

Lyra wusste, wen er meinte. Die Frau mit den hellen Augen. Der Schatten, der wie ein Messer gesprochen hatte. Sie nickte kaum sichtbar.

„Evienne…“, begann er, leise. „Sie ist vielleicht die stärkste Person, die ich kenne. Und manchmal… verlernt man, wie verletzlich jemand ist, wenn man sich zu sehr daran gewöhnt, dass er immer still trägt, was eigentlich schreit.“

Er sagte es nicht wie ein Bekenntnis. Und auch nicht, um sie zu verteidigen. Es war einfach wahr. Ein Satz, der lange in ihm geschlummert hatte – und nun zwischen ihnen stand, schwer und ruhig.

„Du hast nichts falsch gemacht“, antwortete Lyra. Ihre Stimme war ruhig, fast müde. „Ich hätte nur gern gewusst, wer sie ist. Und was sie von mir will.“

Riven senkte den Blick. „Manchmal weiß ich nicht mal, was ich von mir selbst will.“

Ein leises Schweigen entstand. Nicht unangenehm. Nur schwer. Wie nasser Stoff.

Dann sagte Lyra, fast gegen den Raum gerichtet: „Danke, dass du gekommen bist.“

Riven sah auf. Und in seinem Blick lag für einen Moment etwas Unaussprechliches – nicht Gefühl, nicht Erkenntnis. Nur dieses eine: Er verstand.

Er nickte. „Wenn du… reden willst. Oder einfach nicht allein sein willst… ich bin nicht weit.“

Dann drehte er sich um. Keine Eile. Kein Zögern. Nur ein letzter Blick über die Schulter, bevor die Tür hinter ihm leise ins Schloss fiel.

Lyra blieb noch einen Moment stehen. Dann wandte sie sich dem Herd zu. Nicht, um neuen Tee zu kochen. Nur, um die Hände zu beschäftigen.

Doch in ihrer Brust: ein Echo.

Von einer Stimme, die nicht laut gewesen war. Aber geblieben ist.

Sie stellte zwei Tassen auf den Tisch. Schweigend. Ohne Absicht, nur aus einem Impuls, der leiser war als jeder Gedanke. Vielleicht, weil sie hoffte, er wäre noch etwas geblieben.

Doch dann klopfte es erneut – zögerlich, fast schüchtern. Lyra drehte sich um. Er war nicht gegangen. Oder nicht weit. Riven stand noch immer auf der Schwelle, die Hände jetzt leer, das Gesicht offener als zuvor.

„Ich… ich hab gedacht, vielleicht… ein paar Minuten noch?“, fragte er vorsichtig.

Lyra nickte. Kein Lächeln. Aber Wärme.

Er trat ein, zog sich die Jacke aus. Sie reichte ihm eine der Tassen. Der Tee war noch warm genug. Sie sagten nichts, als sie sich setzten. Nur der Stuhl kratzte leise über den Boden. Der Regen draußen hatte begonnen, leise gegen die Scheibe zu klopfen.

„Ich war nie gut darin, ruhig zu sein, wenn es ruhig sein sollte“, sagte Riven schließlich. „Aber bei dir… fühlt es sich nicht leer an.“

Lyra blickte in ihre Tasse. Die Oberfläche spiegelte nichts – nur Dampf, der aufstieg wie ein Gedanke, der sich nicht greifen ließ.

„Es ist das erste Mal, dass ich jemanden bei mir sitzen lasse, ohne zu wollen, dass er bald wieder geht“, flüsterte sie.

Ein Blick traf den anderen. Kein Berühren. Kein Bekenntnis. Nur das gemeinsame Wissen, dass manche Stille mehr sagen konnte als jedes Wort.

Der Tee wurde kalt. Und keiner von beiden bemerkte es.