Der Himmel über Moonvale war nicht mehr derselbe wie gestern. Kein flammendes Rot, kein brennendes Gold. Stattdessen hing ein stilles, beinahe farbloses Grau über den Dächern und schlug wie schwerer, feuchter Samt auf jedes Geräusch, jeden Gedanken, jedes Gefühl. Es war die Art von Morgen, die keine Versprechungen machte – aber auch keine Forderungen stellte. Eine unbestimmte Leere, die nicht weh tat, aber sich auch nicht verbergen ließ.
Lyra lag noch unter der Decke, als das Licht durch die halbgeschlossenen Vorhänge sickerte. Es war kein helles Licht, eher ein Schimmern – wie der matte Widerschein von Erinnerung auf Wasser. Die Stille im Haus war nicht bedrückend. Eher wachsam. Als würde es sie beobachten, abwartend, neugierig vielleicht.
Ihre Finger lagen reglos auf dem Stoff der Bettdecke, den Blick zum Fenster gerichtet. Der Regen war vergangen, aber seine Spuren klebten noch an den Fenstern wie eine Erinnerung, die sich nicht abschütteln ließ. In schmalen Linien verliefen die Tropfen über das Glas, als hätte die Nacht geweint – aber in aller Stille, damit niemand es mitbekam.
Sie atmete tief ein. Das Zimmer roch nach altem Holz, nach Staub, aber auch nach etwas anderem. Etwas Frischem. Vielleicht lag es an dem moosbedeckten Dach oder dem Geruch des Nebels, der sich noch nicht ganz verzogen hatte. Vielleicht lag es auch an ihr selbst – daran, dass sie nicht mehr dort war, wo sie gestern gewesen war.
Sie drehte sich auf die Seite. Und da lag es.
Das Medaillon.
Still und unscheinbar auf dem Nachttisch. Doch Lyra spürte es, als hätte es ein eigenes Pulsieren, eine eigene Anwesenheit. Als würde es sie anschauen, ohne Augen, ohne Gesicht – nur mit Erinnerung. Ihrem Blick entging nicht, wie das Licht sich anders auf seiner Oberfläche brach als auf allem anderen im Raum. Es war kein Widerschein, kein Glanz – sondern ein dumpfes, fast lebendiges Leuchten, das kam und ging, wie ein fremder Atemzug.
Zögerlich streckte sie die Hand aus und nahm es in die Finger. Das Metall war nicht kalt. Aber es war schwerer, als es hätte sein sollen. Als würde etwas in ihm ruhen, das nicht aus dieser Welt war. Als würde es etwas wissen.
In dem Moment, als ihre Haut es ganz berührte, wurde ihr schwindlig. Nur für einen flüchtigen Atemzug. Kein Drehen, kein Schwanken – eher ein inneres Vibrieren, als würde etwas tief in ihr kurz den Halt verlieren. Dann war es wieder vorbei.
Sie legte das Medaillon zurück. Ohne es zu öffnen. Es hatte sich nicht verändert. Und doch war alles anders.
Der Tag schlich sich nicht in Lyras Leben – er kroch hinein. Leise, mit tastenden Fingern, als wäre auch er unsicher, ob er willkommen war. Die Küche empfing sie mit dem leisen Knacken alter Holzdielen und einem Hauch kühler Luft, die noch vom Nebel durchtränkt war. Ihre Bewegungen waren langsam, beinahe andächtig, als würde jede Geste ein Zeichen setzen in der stillen Sprache des Neubeginns.
Sie stellte das Radio an, ließ es auf einer Station verweilen, die nichts sprach – nur spielte. Zarte Klaviermusik schlich sich in den Raum, ein Schleier aus Klang, der sich zwischen die Schatten legte.
Als sie den Schrank öffnete, schlug ihr der Geruch von trockenem Holz, Zimt und etwas Unbekanntem entgegen – vielleicht eine Mischung aus Kräutern, die jemand vor langer Zeit vergessen hatte. Sie holte ein paar einfache Zutaten hervor: Eier, Brot, etwas Käse, eine weiche Birne, die schon leicht Druckstellen zeigte. Es war nichts Besonderes, und doch fühlte es sich an wie ein Ritual.
Sie schlug die Eier in eine Schüssel, das Geräusch der Schale knackte wie ein Vers aus einem fremden Gedicht. Der Käse zischte leise in der Pfanne, schmolz langsam, wurde golden. Der Duft war warm, salzig, erinnerte an zu Hause – auch wenn sie nicht wusste, wo genau das war.
Während das Brot in der Pfanne rösch wurde, legte sich ein unerwartetes Gefühl über sie. Kein Hunger. Keine Freude. Etwas Weiches. Etwas, das zwischen den Rippen saß und atmete.
Sie richtete den Teller an, stellte ihn auf den alten Holztisch und setzte sich, aber sie aß nicht sofort. Stattdessen betrachtete sie das Essen, als müsste sie erst wieder lernen, sich daran zu erfreuen. Dann nahm sie den ersten Bissen. Langsam. Bedächtig. Als könnte das, was sie zu sich nahm, sie irgendwie verankern in diesem neuen Leben.
Der Käse zog Fäden, der Toast knusperte zwischen den Zähnen, und der Tee, den sie sich dazu goss, roch nach Kamille und etwas Wildem – vielleicht Fenchel, vielleicht nur der Duft des Landes selbst.
Sie hielt inne. Der Geschmack verschwand nicht, aber er trat zurück – wie eine Bühne, auf der plötzlich jemand anderes stand. Ihre Gedanken wanderten, verloren sich in den Staubfäden, die in den Lichtstrahlen tanzten. Die Stille im Haus war nicht leer – sie war gefüllt mit alten Stimmen, mit gelebtem Leben, das hier einmal stattgefunden hatte. Lyra spürte sie nicht als Bedrohung. Eher als etwas, das sie willkommen hieß, ohne sie zu kennen.
Nach dem ersten Bissen ließ sie den Teller auf der Anrichte stehen und schob einen Stuhl zur Seite. Die Musik war noch da – langsam, fast wehmütig. Einzelne Töne, die sich wie Tropfen in ihr Herz senkten. Sie wusste nicht, was sie dazu brachte, es zu tun. Vielleicht war es der Hunger nach Bewegung, nach Leichtigkeit. Vielleicht war es das Haus, das flüsterte: Tanz. Beweg dich. Atme.
Also schloss sie die Augen. Und sie tat es.
Nicht wild. Nicht elegant. Nur weich. Ihre Füße glitten über das Holz, barfuß, ohne Ziel. Die Musik wurde zur Narbe und zur Nadel – etwas in ihr öffnete sich, das sie lange verschlossen gehalten hatte. Ihre Arme bewegten sich wie von selbst, als würde der Wind durch sie hindurchgreifen.
Sie drehte sich, ließ sich treiben, und für einen Moment vergaß sie alles. Vergessen war die Flucht, das Gewicht ihrer Vergangenheit, das namenlose Ziehen in ihrer Brust. Da war nur sie. Und der Klang. Und das Licht, das ihre Haare wie rötliches Kupfer schimmern ließ.
Ein Lachen kam über ihre Lippen. Es war leise, fast scheu – aber es war echt. Kein Hohn, keine Maskerade. Nur dieser eine Moment, in dem sie sich selbst wieder begegnete.
Dann stoppte sie. Atmete. Und ließ die Musik weiterlaufen.
Sie trat ans Fenster, stützte sich mit beiden Händen auf den Rahmen. Ihre Fingerspitzen spürten die kühle Feuchtigkeit des Morgens. Draußen: Nebel, der sich langsam auflöste. Bäume, die sich reckten. Ein einzelner Vogel, der auf einem Ast saß, als hätte er alles gesehen, was sie getan hatte.
Lyra lächelte ihm zu. „Ich weiß, es sah seltsam aus.“
Der Vogel antwortete nicht. Aber er blieb.
Sie zog sich zurück, goss sich einen Tee ein – das einzige, das sie in Moonvale bisher als beruhigend empfand. Kamille, vermischt mit etwas Unbekanntem. Vielleicht war es das Wasser. Vielleicht der Ort. Vielleicht sie selbst.
Als sie sich an den kleinen Küchentisch setzte, umhüllte sie ein Gefühl, das sie nicht benennen konnte. Keine Angst. Keine Freude. Etwas dazwischen. Etwas Weiches, aber auch Unvertrautes. Als hätte das Haus sie ein Stück weit aufgenommen – aber noch nicht entschieden, ob es sie behalten wollte.
Und sie wusste nicht, ob sie bleiben wollte. Aber in diesem Moment… war es genug.
Dann: ein Kratzen. So leise, dass es fast nur ein Gedanke hätte sein können. Doch es war da. Beharrlich, aber nicht fordernd.
Sie fror ein. Drehte sich langsam um, ihr Atem stockte, als hätte die Luft sich verändert.
Die Katze.
Schwarz wie der hinterste Winkel eines Traums. Ihre Augen glühten nicht – sie schimmerten. Tief, ruhig, uralt. In ihrer Haltung lag nichts von dem, was man erwarten würde. Kein Misstrauen. Kein Bedürfnis nach Nähe. Sie war einfach da. Wie ein Gedanke, der sich selbst denkt.
Sie saß auf der Schwelle zur Veranda, regungslos. Der Wind strich durch ihr Fell, doch sie blinzelte nicht. Ihre Präsenz war so stark, dass Lyra für einen Moment vergaß, wo sie war. Nur die Katze. Nur dieser Moment.
„Na? Schon wieder du“, flüsterte Lyra, ihre Stimme kaum mehr als ein Hauch.
Sie trat langsam näher, ihre nackten Füße hinterließen kaum ein Geräusch auf dem kühlen Holz. Jeder Schritt fühlte sich an, als durchquerte sie eine unsichtbare Schwelle. Dann ließ sie sich auf den Boden sinken, zog die Knie an den Körper, und sah dem Tier in die Augen. Lange. Wortlos.
„Ich dachte, du magst niemanden“, sagte sie leise.
Die Katze bewegte sich nicht. Nur ein Ohr zuckte, kaum wahrnehmbar. Doch ihr Blick war so schwer, dass Lyra das Gefühl hatte, jemand würde ihre Gedanken mitlesen.
„Dann passen wir ja zusammen.“
Draußen rauschte der Wind durch die Bäume. Kein lautes Heulen, nur das gedämpfte Wispern von Blättern, die Geheimnisse austauschten. Das Fenster klapperte leise, und in der Küche zog der Duft von geröstetem Brot und warmem Käse durch die Luft – vertraut, fast heimisch, als wolle das Haus sagen: Bleib.
Nach einer Weile erhob sich die Katze. Langsam. Wie Nebel, der eine Richtung wählt. Sie trat auf Lyra zu. Ihre Bewegungen waren so lautlos, dass selbst der Schatten unter ihr nicht mitzog. Und dann – ganz kurz – streifte sie Lyras Bein. So sanft, dass es wie Einbildung schien. Aber Lyras Haut kribbelte noch lange danach.
Die Katze sprang mit einer eleganten Bewegung auf das Fensterbrett, schaute ein letztes Mal zurück. Kein Abschied. Kein Versprechen. Nur Blickkontakt. Dann verschwand sie – lautlos wie ein Gedanke, den man nicht festhalten kann.
Lyra blieb noch einen Moment auf dem Boden sitzen. Ihre Finger lagen locker auf ihren Knien, ihr Blick verlor sich im Licht. Etwas in ihr hatte sich bewegt – nicht laut, nicht klar. Aber spürbar.
Und sie wusste: Die Katze würde wiederkommen. Vielleicht nicht heute. Vielleicht nicht morgen. Aber sie würde da sein. Wenn es darauf ankam.
Der Nachmittag kam still, als hätte er keine Lust, sich bemerkbar zu machen. Kein Lichtbruch, kein Sonnenstrahl, nur das matte Grau, das durch die Fenster sickerte und das Haus in ein Zwielicht tauchte, das sich wie Staub auf die Gedanken legte. Lyra hatte den Tee längst ausgetrunken. Die Musik war verklungen. Nur der leise Nachhall ihrer Schritte begleitete sie, als sie mit einem kleinen Eimer und einem alten Lappen in der Hand in den Flur trat. Der Keller war ihr gestern Abend kaum aufgefallen – ein Türrahmen im Schatten, mehr Andeutung als Eingang. Heute schien er auf sie zu warten.
Sie öffnete die Tür. Der Luftzug, der ihr entgegenstieg, war feucht und kühl, trug den Geruch von altem Stein und Moder mit sich. Der Lichtschalter knackte, aber das Licht flackerte nur und blieb schwach. Es genügte, um die erste Stufe zu erkennen. Der Rest verschwand in halbdunklem Dunst.
Die Treppen knarrten unter ihren Schritten, als würde das Holz ihren Namen flüstern. Unten angekommen, fröstelte sie. Nicht wegen der Temperatur. Es war etwas anderes. Eine Präsenz, die nicht zu sehen, nicht zu hören war – aber zu spüren. Als hätte jemand gerade erst den Raum verlassen.
Der Keller war größer, als sie gedacht hatte. Alte Möbel, zugedeckte Spiegel, Regale mit eingestaubten Gläsern, deren Inhalt längst nicht mehr zu erkennen war. Sie stellte den Eimer ab, trat vorsichtig zwischen den Schatten hindurch. Ihre Finger glitten über einen alten Lampenschirm, über einen Metallrahmen. Sie hatte nicht vor, lange zu bleiben.
Doch dann sah sie es.
Eine Holzplanke in der hintersten Ecke – lose, nicht wie die anderen. Es war nur ein Spalt, kaum sichtbar. Aber Lyra blieb stehen. Etwas in ihr zog dorthin, ohne dass sie sagen konnte, warum.
Sie kniete sich hin. Ihre Finger tasteten nach einer Kante, fanden sie. Die Planke ließ sich anheben. Dahinter: eine Luke. Alt, mit Eisenbeschlägen, angerostet. Jemand hatte sie versteckt. Nicht gut, aber mit Absicht.
Der Deckel war schwer, aber nicht verriegelt. Als sie ihn anhob, strömte ein Hauch abgestandener Luft heraus, so alt, dass ihr die Augen brannten. Sie hustete leise, rieb sich über die Nase – dann beugte sie sich vor.
In dem kleinen Fach lag ein Bündel. Sorgfältig eingewickelt in dunkles Leinentuch, das an den Rändern ausgefranst war. Kein Staub lag darauf. Es wirkte, als hätte es jemand erst gestern dort platziert. Oder als würde es sich selbst bewahren.
Mit zittrigen Fingern löste sie den Stoff.
Ein Bild. Verbrannt. Halb jedenfalls. Die obere Hälfte war ein schwarzer Rand aus verkohltem Papier, die Linien ausgefranst, als hätte das Feuer sich durch etwas Lebendiges gefressen.
Ein Mann.
Oder vielmehr: der untere Teil eines Mannes. Schwarze, kniehohe Stiefel mit Metallschnallen, die vom Ruß geschwärzt waren. Ein Mantel, schwer, mit einem Saum, der aussah, als hätte er Schlachten gesehen. Und die linke Hand – bleich, aber stark, die Finger umschlossen einen Ring. Alt, geschwärzt, wie aus Obsidian oder vernarbtem Silber.
Sie spürte es sofort. Da war etwas an diesem Bild, das ihr das Herz zusammenzog. Nicht Angst. Nicht einmal Neugier. Sondern ein Echo. Ein Flüstern, das aus ihr selbst zu kommen schien.
Auf der Rückseite des Bildes: Schrift. Doch sie war durchgestrichen. Nicht sorgfältig. Wütend. Mit kratzenden Linien, als hätte jemand Worte vernichten wollen, weil sie zu viel bedeuteten. Die Tinte war verschmiert.
Sie runzelte die Stirn. Etwas an den durchgestrichenen Buchstaben – an der Art, wie sie verwischt, zerkratzt, fast wütend ausradiert waren – kam ihr vertraut vor. Wie die Schrift in dem Buch, das sie im Laden in der Stadt in den Händen gehalten hatte. Dort war ein Name ebenso brutal durchgestrichen gewesen, mit derselben unruhigen, fast verzweifelten Energie. Nicht einfach gelöscht – sondern ausgelöscht. Aus Schmerz. Oder aus Schutz. Die Ähnlichkeit war zu deutlich, um Zufall zu sein. Diese gleiche, unruhige Hand. Diese gleiche Wut im Strich. Als hätte jemand mit Absicht die Vergangenheit auslöschen wollen, obwohl sie längst noch spürbar war.
Lyra drehte das Bild wieder um. In der Ecke des Papiers, fast schüchtern, standen die Initialen:
K. M.
Sie starrte darauf. Nicht weil sie die Buchstaben erkannte – sondern weil etwas in ihr reagierte. Nicht mit Verstand, nicht mit Erinnerung, sondern mit einem Ziehen. Als würde etwas in ihr versuchen, an die Oberfläche zu drängen. Ein Name lag ihr auf der Zunge, aber nicht in Worten. Nur in Bedeutung.
Sie saß noch lange auf dem kalten Boden. Das Bild in der Hand. Die Luft um sie herum unbewegt. Nur ihr Herz pochte. Und irgendwo im Haus – oder war es in ihr selbst? – klang es wie ein Flügelschlag.
Dann wickelte sie das Bild wieder ein. Und ließ die Luke offen.
Der Nebel hatte sich gelichtet, doch die Welt war nicht klarer geworden. Die Bäume standen still wie uralte Zeugen, ihre Stämme dunkel vor der bleichen Luft, und in ihren Zweigen hing Stille. Kein Vogelruf. Kein Rascheln. Nur der gleichmäßige Atem des Waldes – tief, langsam, lauernd. Der Geruch von feuchtem Laub, altem Moos und entferntem Rauch lag in der Luft, als würde irgendwo jemand Holz verbrennen, das längst vergessen war.
Lyra hatte das Bedürfnis verspürt, hinauszugehen – nicht um etwas zu suchen, sondern um sich selbst nicht zu verlieren. Der Fund im Keller hatte etwas in ihr aufgewühlt, etwas Unbestimmtes, etwas, das in ihrer Brust klopfte wie eine Erinnerung, die sich nicht greifen ließ. Also ging sie. Schritt für Schritt über den feuchten Boden, durch das Gras, das sich unter ihren Füßen legte wie eine Verbeugung.
Der Weg, der vom Haus aus in den Wald führte, war schmal, fast verschluckt von der Wildnis. Der Wind strich leise über die Äste, trug mit sich den Duft von Erde und vergessenen Jahreszeiten. Irgendwo knackte ein Ast. Und dann: nichts. Nur ihr eigener Atem, der viel zu laut klang.
Sie blieb stehen, als sie ihn sah.
Der Mann, dessen Blick sie gestern wie eine Flut durchdrungen hatte. Dort, in der Stadt, kaum eine Stunde nach ihrer Ankunft. Damals war sie nur ein paar Schritte gegangen, um Moonvale zu begreifen – und dann war er da gewesen. Dunkle Kleidung, reglos, und ein Blick, der sie durchbohrt hatte, ohne einen Muskel zu bewegen. Kein Wort war gefallen. Kein Lächeln. Nur dieser uralte Blick – schneidend, wissend, wie ein stiller Ruf aus einer Zeit, die sie nie erlebt hatte.
Damals hatte ihr Körper reagiert, bevor sie es verstand. Nicht aus Angst – sondern aus Überwältigung. Jetzt war er wirklich da. Nicht als Erinnerung. Nicht als Erscheinung. Als Gegenwart.
Er stand zwischen zwei knorrigen Bäumen, leicht erhöht, als würde der Wald selbst ihn aus sich herausgeschoben haben. Sein Gesicht war nur halb im Licht, sein Blick jedoch vollständig bei ihr. Und plötzlich war da nichts mehr zwischen ihnen. Keine Entfernung. Kein Boden. Kein Wald. Nur dieses unsichtbare Band, das vibrierte wie eine gespannte Saite.
Ihre Knie fühlten sich leicht an, fast schwebend. Als könnte eine einzige Bewegung dieses fragile Gleichgewicht stören. Ihr Magen krampfte sich zusammen, als hätte jemand ein unsichtbares Band darumgelegt.
Er war groß. Die dunklen Haare bewegten sich kaum im Wind, als hätte selbst der entschieden, ihn zu umkreisen, aber nicht zu berühren. Seine Kleidung war schlicht, aber perfekt an ihn angepasst, als hätte sie keine Naht – nur Absicht. In seinen Augen lag keine Wärme. Aber auch keine Leere. Es war eher… Tiefe. Tiefe wie ein See, in den man sieht – und dann nie wieder auftaucht.
„Du bist neu hier.“
Seine Stimme war wie seine Präsenz: still, aber unvermeidlich. Kein Laut, der den Raum füllte – sondern ein Klang, der ihn veränderte.
Lyra versuchte zu nicken, doch der Impuls blieb in ihrem Nacken stecken. Ihr Herz schlug zu laut. Nicht in Panik – sondern wie ein Echo, das sich auf etwas stimmte, das außerhalb von Zeit existierte.
„Ich…“ Ihre Stimme versagte. Sie räusperte sich, spürte, wie ihre Finger sich ineinander verschränkten, unruhig, suchend.
Er trat ein Stück näher. Kein Geräusch. Nur die Luft, die sich veränderte, als würde sie sich nach ihm ausrichten.
„Ich bin öfter hier. Die meisten meiden den Wald.“
„Warum?“ Sie erschrak über die Schärfe ihrer eigenen Stimme. Wie sie sich festklammerte an einem Wort, weil alles andere zu groß war.
„Weil er einen beobachtet. Und weil man darin Dinge sieht, die man nicht gesucht hat.“
Sie wusste nicht, ob das eine Warnung war. Oder eine Offenbarung.
„Und du?“ fragte sie, leiser.
„Ich suche nichts.“
Sie mochte seine Stimme. Nicht, weil sie gefällig war – sondern weil sie klang wie ein Tor, das sich nur für einen einzigen Atemzug öffnet. Und sie war durchgeschlüpft. Ohne es zu merken.
„Ich wollte nur… Luft holen. Nachdenken.“
„Hier ist gut dafür.“
Ein leises Rascheln. Vielleicht ein Tier. Vielleicht nur ihr Herz.
Er wandte den Blick ab. Nicht abrupt. Eher wie jemand, der etwas in der Ferne spürte. Dann wieder zu ihr. Kein Lächeln. Aber ein Hauch von Weichheit in seinem Blick, wie der Schatten eines Gedankens.
„Ich bin Lyra“, sagte sie schließlich. Ihre Stimme war brüchig. Aber sie wollte, dass er es wusste. Nicht, weil sie sich erklären musste. Sondern weil er es bereits wusste.
Und er sagte: „Ich weiß.“
Etwas in ihr zog sich zusammen. Ihre Lippen teilten sich, aber sie sagte nichts.
„Moonvale ist klein.“
Sie nickte langsam. Doch ihr Blick wich nicht aus.
Er machte einen Schritt zurück. Aber nicht, um zu gehen. Sondern wie jemand, der etwas geprüft hatte – und sich entschloss, es nicht zu zerbrechen.
„Wenn du den Wald betrittst… hör mehr auf dein Gefühl als auf deine Augen.“
Ein Flüstern. Ein Rat. Eine Warnung. Oder alles zugleich.
Sie spürte, wie ihre Hand zuckte, als wolle sie nach ihm greifen. Nicht wirklich – nur mit einem Teil von ihr, den sie selbst kaum verstand.
„Danke.“
„Kein Grund.“
Dann wandte er sich ab.
„Warte“, sagte sie, fast atemlos.
Er blieb stehen. Drehte sich nicht sofort um. Der Wind strich durch das Unterholz, trug den Duft seines Mantels zu ihr – Rauch, Leder, Kälte. Sie sog ihn ein, als könnte sie ihn festhalten.
„Du kennst meinen Namen“, sagte sie leiser. „Aber ich kenne deinen nicht.“
Eine Pause. Der Wald hielt den Atem an. Dann:
„Du wirst ihn erfahren, wenn die Zeit dafür passt.“
Er drehte sich zu ihr um. Und für einen Wimpernschlag lag da etwas in seinem Gesicht – keine Regung, sondern Tiefe. Eine Geschichte. Ein Versprechen. Oder ein Abgrund.
„Manche Dinge verlieren ihre Wahrheit, wenn man sie zu früh ausspricht.“
Und dann ging er.
Nicht eilend. Nicht zögernd. Nur so, als wäre er nie ganz da gewesen.
Lyra stand noch lange da. Der Wald flüsterte wieder. Ihre Brust schmerzte auf eine Weise, die keinen Namen hatte.
Sie wusste nicht, was das war.
Aber sie wusste, dass es wiederkehren würde.
Langsam wandte sie sich ab. Ihre Schritte waren leise auf dem feuchten Waldboden, doch jeder von ihnen hallte in ihr nach wie ein ferner Widerhall. Sie spürte den Blick seiner Abwesenheit noch immer in ihrem Rücken, als würde er zwischen den Bäumen verweilen, dort, wo der Nebel sich erneut sammelte.
Der Weg zurück war derselbe – und doch war alles anders. Die Luft schmeckte nach Eisen und Blättern, und das Knacken der Zweige unter ihren Sohlen klang plötzlich bedeutungsvoll. Als wäre jeder Laut ein Zeichen, das sie noch nicht verstand.
Am Rand ihres Gartens blieb sie stehen. Schaute zurück. Kein Schatten, keine Bewegung. Nur Wald. Und das pochende Echo ihres Herzens.
Drinnen war es still. Sie schloss die Tür mit einer Zärtlichkeit, die sie sich selbst nicht erklären konnte. Im Flur roch es nach sich selbst – nach altem Holz, nach Tee, nach Regen. Aber unter allem lag nun ein anderer Duft. Einer, der nicht zu ihr gehörte.
Sie ging ins Schlafzimmer, ohne das Licht anzuschalten. Im Zwielicht lag das Medaillon auf dem Nachttisch. Wie zuvor. Doch jetzt schien es zu leuchten – nicht mit Licht, sondern mit Bedeutung.
Lyra trat näher. Legte die Finger auf das kalte Metall. Und flüsterte leise, kaum hörbar – als würde sie ein Versprechen in die Dunkelheit senden:
„Ich werde herausfinden, wer du bist.“
Draußen fiel der Wind in die Zweige. Und irgendwo ganz weit entfernt antwortete ein leiser Ruf – oder war es nur das Rauschen der Zeit, die in Moonvale anders floss als überall sonst?