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Kapitel 1 – Ankunft in Moonvale

Der Himmel über Moonvale brannte in jenen Farben, die nur zwischen Tag und Nacht existierten – als hätte die Sonne selbst den Atem angehalten, um nicht zu stören. Der Regen fiel leise. Kein Prasseln, kein Tropfen auf Blech. Nur ein feines Rieseln, das die Blätter streichelte und den Asphalt wie mit Schleiern überzog. Zwischen all dem: ein Auto. Schwarz, klein.

Die Straßen hatten sich verändert. Nicht nur in ihrer Form, sondern in dem Gefühl, das sie auslösten. Je weiter sie fuhr, desto mehr schien das Leben, das sie gekannt hatte, hinter dem Nebel zu verschwinden.

Ihr Blick glitt über den Rückspiegel. Der Himmel dort war heller, klarer – fast fremd in seiner Weite. Sie zwang sich, nicht zurückzudenken. An die Wohnung mit den weißen Wänden. An die Stimme, die sie zuletzt gehört hatte. An das, was sie nicht ausgesprochen hatte, bevor sie ging.

Auf dem Beifahrersitz lag ein zerfledertes Notizbuch, die Ecken vom Regen gewellt, obwohl es nie draußen gelegen hatte. Zwischen den Seiten klemmte ein altes Foto – nicht eingerahmt, nicht einmal gerade geschnitten.

Sie selbst war darauf zu sehen, vielleicht sechzehn, mit einem halb verschwommenen Lächeln. Neben ihr: eine Frau mit wilden dunklen Haaren und jenem Lachen, das man spürt, bevor man es hört.

Lyra hatte das Bild mitgenommen, ohne hinzusehen. Einfach, weil es noch da gewesen war.

Sie erinnerte sich nicht an den Tag. Nur an das Gefühl, dass jemand ihre Hand gehalten hatte.

Am Stadtrand hatte sie kurz angehalten. Nicht bewusst – es war, als hätte etwas ihre Aufmerksamkeit gefangen.

Eine Frau stand einfach da. Zwischen zwei knorrigen Bäumen, regungslos wie eine Statue aus Nebel. Ihre Kapuze war tief ins Gesicht gezogen, das Profil kaum erkennbar. Doch unter dem Stoff quollen Haarsträhnen hervor – nicht einfach nur ungewöhnlich, sondern von einem beinahe übernatürlichen Blaugrün, das selbst im Dämmerlicht zu leuchten schien. Es war kein klar definierbarer Ton, sondern etwas zwischen tiefem Wasser und verwelktem Blatt, lebendig und ungreifbar. Die Haare wirkten nicht zerzaust, sondern gezähmt und doch wild – wie etwas, das seine eigene Sprache sprach. Ihre Bewegung war so fein, dass Lyra nicht sagen konnte, ob es der Wind war, der sie berührte – oder etwas anderes.

Und da war noch etwas: ein Innehalten in der Luft.

Lyra hatte nicht aussteigen wollen. Und doch umfassten ihre Finger den Türgriff für einen Moment zu lange.

Ein Windstoß wirbelte nasses Laub über die Straße. Die Frau bewegte sich nicht. Kein Zittern, kein Schritt. Nur ihr Kopf, der sich ein kleines Stück neigte – nicht zu ihr, sondern… zur Straße, als würde sie etwas sehen, das Lyra verborgen blieb.

Dann dieser Geruch: Eisenkraut und etwas Süßes. Wie warmer Tee, der zu lange gestanden hatte.

Gänsehaut zog sich über Lyras Arme. Sie wusste nicht, warum.

Als sie wieder aufschaute, war die Frau verschwunden. Kein Geräusch. Kein Schritt. Nur eine leere Stelle im Nebel – und das Gefühl, dass jemand noch immer da war.

Jetzt war sie hier. Und obwohl ihr Herz raste, fühlte sich jeder Meter näher wie eine Art Heimkehr an, die sie nie erklärt bekommen hatte.

Die Straßen wurden schmaler. Alte Laternen warfen weiches Licht in den Nebel. Häuser mit Spitzdächern, Mauern aus grauem Stein, eingewachsene Zäune – alles wirkte, als würde es Geschichten kennen, die niemand laut aussprach. Lyra schaltete das Radio aus. Die Stille in ihrem Auto war angenehmer als jedes Lied.

Sie parkte vor dem alten Haus mit den moosbedeckten Stufen. Ihre neue Wohnung war klein, aber über der Eingangstür rankte wilder Wein, und irgendwo im Hinterhof schnurrte ein Kater, den sie noch nie gesehen hatte.

Er saß auf der dritten Stufe, als hätte er auf sie gewartet – regungslos, nur die Augen bewegten sich, bernsteinfarben und aufmerksam. Seine Fellzeichnung war grau getigert mit einem leichten Stich ins Bläuliche, als hätte der Nebel ihn selbst erschaffen. Als Lyra ausstieg und sich langsam näherte, bewegte er sich nicht, nicht einmal mit dem Schwanz.

„Gehörst du hierher?“ murmelte sie leise, fast als würde sie den Ort selbst fragen.

Der Kater blinzelte. Nicht träge, sondern prüfend. Dann stand er auf, streckte sich und verschwand im Dunkel hinter dem Haus – lautlos.

Sie zog ihre Kapuze tiefer ins Gesicht, als sie die Kisten aus dem Auto hob. Das Licht der Laterne flackerte – nur für einen Moment – aber es reichte, um einen Schauer über ihren Rücken zu jagen. Nicht aus Angst. Eher aus… Erwartung.

Etwas in der Luft vibrierte.

Im Inneren der Wohnung war alles bereits vorbereitet. Holzfußboden, leicht verzogen. Ein Fenster mit Blick in den Nebelwald. Und überall dieser Geruch von altem Staub, Regen, Kräutern und… Wärme.

Ein vertrautes Gewicht lag an ihrem Hals – das Medaillon, das sie immer trug. Sie wusste nicht, woher sie es hatte. Es war nie bewusst gekommen, nie gefunden worden. Es war einfach da gewesen, so lange sie denken konnte. Unauffällig, fast schlicht – und doch hatte sie es nie abgelegt. Manchmal wirkte es wie ein Teil von ihr. Etwas, das mehr wusste, als es zeigte.

Sie ließ die Tür leise ins Schloss fallen und stand einen Moment einfach nur da. Kein Geräusch, keine Bewegung, nur das leise Tropfen des Regens gegen das Fenster.

Lyra schloss die Augen. Ihre Finger glitten über den Türrahmen, als müsste sie sich vergewissern, dass alles wirklich da war – dass sie angekommen war. Sie atmete ein, tief und vorsichtig, als hätte die Luft selbst eine Geschichte, die man nicht stören durfte.

Ein Uhrzeiger tickte irgendwo im Raum, obwohl sie keine Uhr sah. Ihr Blick fiel auf eine kleine, verbeulte Teekanne, die jemand auf der Fensterbank zurückgelassen hatte. Daneben ein getrockneter Zweig Lavendel – alt, aber duftend.

Für einen kurzen Moment war da Frieden. Kein Gedanke an Flucht, kein Ziehen im Brustkorb. Nur der Regen, der leise wie Seide über das Glas strich.

Dann, fast unhörbar, knackte irgendwo ein Dielenbrett.

Nicht laut. Nicht bedrohlich. Aber genug, um die Stille zu brechen – und sie wieder daran zu erinnern, dass Moonvale kein gewöhnlicher Ort war.

Es war nicht viel. Aber es war ihr Anfang.

Sie stellte eine Tasse auf den Fensterrahmen und sah hinaus. Der Regen glitzerte in der untergehenden Sonne wie Goldfäden. Ein Reh stand am Waldrand – still, reglos – und sah zu ihr hoch. Ihre Finger ruhten an der Scheibe. Es rührte sich nicht. Dann senkte es den Kopf, als würde es sie anerkennen, und verschwand im Nebel.

„Was zur Hölle…“, flüsterte sie. Aber es war nicht unheimlich. Es war… schön.

Sie trat hinaus, um durch die Stadt zu streifen. Nur ein paar Schritte, nicht weit – nur ein erstes Gefühl bekommen. Der Regen hatte nachgelassen, aber alles glänzte noch.

Sie bog um eine Ecke und blieb stehen.

Da stand jemand.

Ein Mann. Dunkle Kleidung, reglos, als gehöre er nicht ganz hierher. Seine Augen… Sie waren wie Eis, wie Schatten, wie Wärme und Tod zugleich. Sie trafen ihre – und in diesem Moment brach etwas in ihr auf. Nicht schmerzhaft. Aber absolut.

Etwas in seinem Blick war alt. Älter als jeder Ort, den sie je betreten hatte. Wie ein Sturm, der nie aufgehört hatte, sich zu drehen. Wie Stille, die schneidet.

Ihr Brustkorb spannte sich. Ihre Finger wurden kalt. Und doch konnte sie nicht aufhören zu sehen.

Die Geräusche der Welt verschwanden. Kein Wind, kein Tropfen, kein Vogel. Nur sein Blick.

Sie wollte atmen – konnte nicht. Wollte sich abwenden – schaffte es nicht.

Er rührte sich nicht. Nicht ein Muskel, nicht ein Wimpernschlag. Doch in seiner Haltung lag ein Wissen, das sie ertränkte. Ein Versprechen. Oder eine Warnung.

Und dann… schritt sie rasch davon. Kein panisches Rennen, kein Stolpern – nur schnelles, zielgerichtetes Gehen, als hätte ihr Körper entschieden, bevor ihr Verstand folgen konnte.

Ihre Finger zitterten. Ihr Herz raste.

Sie lief. Nicht planlos, aber mit zu vielen Gedanken im Kopf. Moonvale war schön – zu schön. Und doch wirkte alles… verdreht. Als hätte jemand einen Ort erschaffen, der perfekt sein sollte, aber das Geheimnis im Boden vergessen hatte.

Ihre Schritte führten sie an einem kleinen, umzäunten Basketballplatz vorbei. Das Echo eines aufprallenden Balls schlug gegen ihre Rippen. Lachen. Stimmen. Normalität. Endlich.

Sie blieb stehen. Hinter dem Gitter spielte ein junger Mann, allein. Rote Locken, trotz Nieselregen ungebändigt, und die Art, sich zu bewegen – als würde er nicht spielen, sondern tanzen. Jeder Sprung, jeder Wurf wirkte wie eine Selbstverständlichkeit. Sein Trikot klebte an seinen Schultern. Er bemerkte sie nicht.

Lyra wollte weitergehen, doch ihre Schuhe rutschten auf dem nassen Gehweg – und sie stolperte.

„Whoa! Alles okay?“ Eine Stimme. Warm, hell, präsent.

Er hatte sie doch bemerkt.

„Ja! Also… jetzt wieder. Mein Stolz vielleicht nicht.“

Er grinste, ein leicht schiefes Lächeln, das von seinen Augen lebte. „Moonvale ist nicht bekannt für rutschfeste Bürgersteige. Du bist neu, oder?“

Sie nickte und rieb sich das Handgelenk. „So offensichtlich?“

„Nicht viele Menschen stehen mitten im Regen und beobachten andere beim Basketballspielen.“ Er warf den Ball in die Luft, fing ihn auf. Nicht herausfordernd, einfach beiläufig.

„Ich wollte nicht stören.“

„Tust du nicht.“ Er trat näher ans Gitter. Seine Hände ruhten locker auf dem Metall, aber in seiner Haltung lag eine aufmerksame Ruhe, als könnte er mehr sehen als andere.

„Ich bin Riven.“

Er wartete nicht lange – keine dieser Pausen, die Menschen füllen, um das Schweigen zu meiden. Er ließ es zu. Und das machte ihn irgendwie… echt.

Zögerlich. „Lyra.“

Ein Nicken. „Lyra. Klingt… irgendwie passend.“

„Passend für was?“

„Weiß ich noch nicht.“ Er lehnte sich ans Metallgitter. „Was hat dich nach Moonvale verschlagen?“

„Ein Gefühl. Ein… Ziehen. Ich war mal kurz hier und konnte nicht aufhören, daran zu denken.“

Seine Miene veränderte sich. Nur minimal. Aber spürbar.

„Moonvale hat sowas an sich. Es zieht Leute an. Oder zurück.“

„Und du? Bist du zurückgekommen?“

Ein kurzes Zucken mit den Schultern. „Ich war nie weg. Ich gehöre irgendwie… dazu.“

Sie schwieg. Nicht unangenehm – mehr wie ein stilles Einverständnis.

Dann, ganz plötzlich: „Du hast was an dir. Tiere mögen dich, oder?“

Sie stutzte. „Was? Woher…“

„Der Kater auf deiner Treppe. Der ist normalerweise ein Arschloch.“

Sie musste lachen. „Vielleicht erkennt er eins seiner eigenen.“

„Touché.“

Er grinste, doch in seinem Blick lag nun ein Hauch von Ernst. Nicht unangenehm – eher wie ein Nachhall von etwas, das schwerer wog, als er sagte. Als würde er gerade nicht nur über einen Kater sprechen.

Für einen Moment standen sie einfach nur da – getrennt durch ein Gitter, durch Regen, durch eine Stadt, die zu viele Geheimnisse hatte. Und trotzdem war da dieses kurze Aufblitzen von Verbundenheit. Etwas, das Lyra nicht ganz benennen konnte.

Der Himmel war inzwischen violett. Der letzte Lichtstreifen der Sonne schien zu brennen, als würde er sich gegen das nahende Dunkel stemmen. Lyra war auf dem Rückweg. Ihre Haare klebten leicht vom Nebelregen, aber sie fühlte sich nicht unangenehm. Im Gegenteil. Sie hatte gelacht. Und das war… selten geworden.

Der Weg führte sie durch eine schmalere Seitenstraße. Fast schon Gasse. Die Häuser hier waren älter, mit verschnörkelten Balkonen und dunklen Fensterläden. Sie dachte gerade an nichts Bestimmtes – als ihr Blick ihn streifte.

Ein Mann. Er stand unter einer Laterne, flankiert von zwei anderen. Seine Haltung aufrecht, wie aus Stein gemeißelt. Sein Gesicht sah sie nicht – eine Maske verdeckte es. Aber seine Augen… graublau, kalt, wie gläsernes Wasser. Sie blitzten kurz zu ihr – und gleich wieder weg. Als hätte er sie nicht bemerkt.

Doch die beiden anderen, die bei ihm standen, schienen es sehr wohl getan zu haben. Sie flüsterten. Nicht laut. Nicht verständlich. Aber sie sahen sie an.

Kaelan – sie kannte seinen Namen nicht, aber sein Blick – er hatte sie gesehen. Ganz sicher. Nur für den Bruchteil eines Moments, doch es reichte. Eine unmerkliche Spannung in seiner Haltung verriet es, ehe er sich mit einer übertrieben beiläufigen Geste zu den beiden anderen drehte.

Er sagte etwas – leise, beiläufig, fast zu gewöhnlich für diesen Moment: „Geht schon mal vor. Schaut, ob die Lieferung am Westtor angekommen ist.“

Die Worte wirkten wie Nebel über Klingen – alltäglich, harmlos. Doch in der Tonlage lag eine Zielstrebigkeit, die keinen Widerspruch duldete.

Dabei wandte er den Kopf leicht zur Seite, als hätte er Lyra gar nicht bemerkt – ein absichtliches Übersehen. Und genau darin lag die Bestätigung. Die Art, wie jemand demonstrativ wegschaut, weil er zu genau weiß, was er sieht.

Die beiden anderen, die vorher geflüstert hatten, verstummten augenblicklich. Einer von ihnen senkte den Blick, der andere wich kaum merklich zurück.

Lyra hatte das Gefühl, sie sollte stehenbleiben. Etwas fragen. Oder einfach nur… hinsehen. Aber sie ging weiter. Langsam. Trotzdem blieb ihr Herz zurück.

Die Straßen waren leerer geworden. Nur noch vereinzelt schlenderten Menschen unter den dämmrigen Laternen. Lyras Schritte hallten auf dem Pflaster leise wider, begleitet vom Rascheln nasser Blätter und dem Zirpen der letzten mutigen Grillen.

In einem Schaufenster spiegelte sich kurz eine Gestalt – dieselbe Frau wie zuvor, am Stadtrand. Ein Moment, ein Hauch, nur ein Blick über die Schulter. Lyra hielt inne. Erneut dieses Gefühl – als würde jemand ihre Gedanken berühren.

Ihr Weg führte sie ziellos weiter – ein paar Schritte hier, ein Blick dorthin. Die Straßen wurden schmaler, verschlungener. Lyra bemerkte kaum, dass sie in eine Seitengasse eingebogen war, bis sie vor einem kleinen Laden stand, der ihr zuvor entgangen war. Zwischen zwei Häusern eingeklemmt, fast als wolle er sich verstecken. Nur ein einzelnes Schild hing schief im Regen: „Verlorene Worte“. Als Lyra eintrat, läutete eine alte Türglocke – nicht laut, sondern wie ein Flüstern. Es roch nach altem Leder, Kerzenwachs und Moos. Eine tickende Wanduhr im Hintergrund schlug ungleichmäßig, als wolle sie aus dem Takt geraten. Vielleicht lief irgendwo eine leise Melodie von einem Grammophon – ganz verwaschen, kaum hörbar.

Niemand war zu sehen. Lyra streifte durch die Gänge. Ihre Finger glitten wie von selbst über die Buchrücken. Dann blieb sie vor einem Regal stehen, ohne zu wissen, warum. Ein Buch kippte beinahe heraus – schwarzes, raues Leder, ohne Titel, aber mit Goldkante.

Sie schlug es auf. Auf der ersten Seite: Namen. Manche in verwischter Tinte, andere durchgestrichen, wieder andere eingerahmt. Dann sah sie ihn – oder fast:

„Ka—“ Zwei dicke Striche, eingeritzt, nicht gemalt. Wie mit Wut. Oder Angst.

Für einen Moment roch sie etwas Brennendes. Nicht wirklich. Nur einen Hauch – als hätte jemand versucht, die Seite auszulöschen.

Sie hielt das Buch in den Händen, fast ehrfürchtig, als plötzlich der Buchhändler neben ihr stand. Kein Geräusch, keine Bewegung – er war einfach da. Nicht bedrohlich. Nur präsent.

„Manchmal... versucht jemand, seinen Namen zu löschen. Als wäre er ein Versprechen, das nicht gehalten wurde. Aber Namen... tragen Geschichte. Auch dann, wenn man sie ausradiert.“

Lyra schluckte. „Das... war ein seltsames Buch.“

Der alte Mann lächelte kaum sichtbar. „Die besten Bücher sind das oft.“

„Haben Sie auch irgendwas... Leichteres? Etwas mit Bildern vielleicht?“

„Zweite Reihe links. Zwischen den Märchen und den Rezepten.“

Sie nickte dankend, stellte das alte Buch zurück – beinahe ehrfürchtig –, nahm aber nichts anderes mit.

Am Ausgang drehte sie sich noch einmal um. „Einen schönen Abend.“

Der Buchhändler antwortete nicht. Nur ein stilles Nicken.

Draußen war es inzwischen Nacht geworden. Ein leiser Wind trug den Geruch von Papier und Moos mit hinaus, als hätte der Buchladen selbst einen Atem ausgestoßen.

Lyra sah zurück. Das Fenster war dunkel. Der Buchladen wirkte, als wäre er nie offen gewesen.

Moonvale atmete.

Lyra stand noch einen Moment in der Gasse, den Griff ihrer Jacke zwischen den Fingern. Der Wind spielte mit einer Haarsträhne, die ihr ins Gesicht gefallen war.

Ein Gedanke formte sich langsam, leise, schwer:

Es fühlte sich nicht falsch an, hier zu sein. Aber auch nicht ganz richtig. Eher wie etwas, das auf sie wartete – ohne Eile, ohne Stimme.

Und irgendwo zwischen Schatten und Sternen begann etwas, sich zu regen.