Dax wartete vor Kierans Zimmer wie ein zum Tode Verurteilter. Der Alpha war kaum eine Stunde zuvor zurückgekehrt, Blut an seinen Stiefeln und Wut unter seiner Haut brodelnd.
Aber sein Beta hatte nicht einmal einen vollständigen Bericht über die Verrätersituation erhalten. Kieran war an ihm vorbeigestürmt, stinkend vor Ärger und Ungeduld.
Jetzt, als die schwere Eichentür endlich knarrend aufging, stand Kieran in der Türöffnung, oberkörperfrei, Blut über seine Brust verschmiert, seine goldenen Augen wie geschmolzenes Metall.
"Du siehst aus wie die Hölle," murmelte Kieran, als Dax eintrat.
Dax neigte den Kopf. "Das Gleiche kann ich über dich sagen, aber wir müssen reden. Über etwas Wichtiges."
Kieran griff nach einem Handtuch und wischte seine Hände ab. "Dann sprich."
Dax trat ein und schloss die Tür hinter sich. "Während du weg warst... gab es einen Vorfall."
Kieran schenkte sich einen Drink ein und leerte ihn. "Noch ein Kampf?"
Dax' Stimme wurde leiser. "Schlimmer. Garrick und zwei Omegas haben Herbst in die Enge getrieben. Vera hat es orchestriert."
Kieran hörte auf, sich zu bewegen.
"Sie wurde fast..." Dax atmete aus. "Ich habe Garrick getötet. Vera ist geflohen."
Stille.
Die Art, die die Haare in deinem Nacken aufstellen lässt.
Kieran stellte sein Glas ab. Es zersplitterte.
"Was hast du gesagt?"
"Ich sagte..."
"Du hast sie allein gelassen? Nachdem ich dir gesagt habe, sie mit sicheren Aufgaben zu beschäftigen?" Kierans Stimme war leise, gefährlich.
"Sie war beim Reinigungsdienst..."
"Du hast sie unbeaufsichtigt auf den Boden geschickt?!" Das Knurren riss aus Kierans Kehle. "Du hast zugelassen, dass sie sie anfassen?"
Kieran fegte den ganzen Tisch um, als wäre er aus Papier. Akten und Briefbeschwerer verteilten sich überall, zusammen mit den Stiften und dem Glas.
Dax blieb standhaft. "Ich habe sie gerettet. Ich habe getan, was niemand für meine Schwester getan hat. Dreh das nicht gegen mich, Kieran."
Die Augen des Alphas blitzten auf. "Wo ist sie?"
"Bei Mango. Erschüttert. Mit blauen Flecken."
"Ich werde sie alle töten."
"Sie braucht Frieden, kein Blutvergießen. Nicht mehr Chaos. Wenn du das tust, wird es auf sie zurückfallen. Auf dich. Lass es etwas abkühlen, Kieran. Das Rudel ist im Moment nicht gerade stabil... Du kannst nicht..."
Kierans Fäuste zitterten. "Sie ist mein Eigentum, Dax."
"Ich weiß."
Wieder legte sich Stille über den Raum.
Dann fragte Kieran sanfter: "Haben sie...?"
"Nein. Du warst nur Minuten davon entfernt, sie zu verlieren, aber nein. Ich bin rechtzeitig gekommen. Sie haben ihre Kleidung zerrissen, sie betatscht, aber nein... nichts weiter... zum Glück..."
Kierans Kiefer spannte sich an und diesmal zerbrach die ganze Flasche.
***
Herbst schlief nicht.
Sie saß zusammengekauert am Kopfende ihres geliehenen Bettes, die Knie an die Brust gezogen, die Finger so fest in ihre Arme gegraben, dass es blaue Flecken geben würde.
Das Zimmer war dunkel, sie hatte alle Lichter ausgeschaltet. Die Luft war schwer vom Duft der Kräuter, die Mango verbrannt hatte, um sie zu beruhigen... Lavendel, Kamille, etwas Bitteres darunter.
Aber diesmal hatte sie verloren. Sie hatten nichts getan.
Jedes Mal, wenn sie die Augen schloss, spürte sie Hände.
Garricks ranziger Atem. Veras Lachen. Das Gewicht, mit dem sie sie niederdrückten... sie fühlte sich... schmutzig.
Eine Diele knarrte vor ihrer Tür.
Herbsts Atem stockte. Ihre Finger zuckten zu dem stumpfen Buttermesser, das sie vom Abendessen gestohlen hatte (besser als nichts. Eine psychologische Unterstützung, obwohl ihre Krallen zumindest nützlicher waren als das). Die Tür schwang ohne Klopfen auf.
Natürlich.
Kieran stand in der Türöffnung, von hinten beleuchtet vom schwachen Fackelschein des Flurs.
Er sprach nicht. Trat nur ein und schloss die Tür hinter sich mit einem leisen Klicken.
Herbsts Griff um das Messer verstärkte sich. "Verschwinde."
Er ignorierte sie und schlich vorwärts, bis das Mondlicht vom Fenster die scharfen Winkel seines Gesichts einfing. Sein Ausdruck war unlesbar... immer noch kalt und distanziert. Aber sein Geruch... Rauch. Kiefer. Blut.
Und etwas anderes, etwas Dunkles und Ruheloses, das ihren Wolf trotz allem aufhorchen ließ.
Kierans Blick fiel auf das Messer in ihrer Hand. Seine Lippe kräuselte sich. "Planst du, mich im Schlaf zu erstechen, kleine Diebin?"
Herbst fletschte die Zähne. "Wenn ich das vorhätte, würdest du bereits bluten."
Er schenkte ihr ein langsames, gefährliches Grinsen. "Versuch es. Ich würde den Kampf genießen."
Sie bewegte sich nicht. Er auch nicht.
Für einen langen Moment starrten sie sich nur an, die Luft zwischen ihnen knisternd vor etwas Unausgesprochenem.
Dann seufzte Kieran, rollte mit den Schultern, als wäre er gelangweilt, und schritt zum Stuhl in der Ecke. Er ließ sich darauf fallen, streckte seine langen Beine vor sich aus, die Arme verschränkt.
Herbst blinzelte. "Was machst du da?"
"Sitzen."
"Warum?"
Er betrachtete seine Krallen und täuschte Desinteresse vor. "Mein Zimmer. Mein Rudel. Ich tue, was ich will. Hast du ein Problem damit?"
"Das ist nicht dein Zimmer."
"Alles in diesem Territorium gehört mir." Seine goldenen Augen hoben sich und fixierten sie. "Auch du."
Herbsts Magen verkrampfte sich. Sie öffnete den Mund, um eine weitere Beleidigung auszustoßen...
Aber die Diele ächzte irgendwo im Flur.
Kierans Kopf schnellte zur Tür, sein Körper spannte sich wie eine Feder. Ein tiefes Knurren grollte in seiner Brust.
Herbst erstarrte. "Was ist das?"
Er antwortete nicht. Lauschte nur, die Nasenlöcher gebläht, während er die Luft witterte. Nach einem angespannten Moment entspannte er sich leicht, aber seine Augen blieben wolfscharf.
"Nichts," murmelte er. "Nur Ratten."
Herbst glaubte ihm nicht.
Wieder legte sich Stille über den Raum, diesmal schwerer.
Kieran lehnte sich im Stuhl zurück, sein Blick wanderte zum Fenster. Mondlicht malte silberne Streifen über seine Narben, seine Tätowierungen, die harte Linie seines Kiefers. Er sah aus wie eine Statue... schön und brutal und völlig gefühllos.
Herbst schluckte. "Du kannst jetzt gehen. Ich will allein sein."
"Ich könnte. Aber ich werde nicht." Er bewegte sich nicht.
Sie schnaubte. "Ist das eine Art Bestrafung? Hier zu sitzen und mich anzustarren, als wäre ich..."
"Du redest zu viel."
"Und du bist ein Bastard."
Ein Funken Belustigung in seinen Augen. "Es braucht einen, um einen zu erkennen."
Herbst runzelte die Stirn und zog die Decke höher über ihre Kleidung. Irgendwie fühlte sie sich selbst darunter entblößt.
Sie zog sie noch fester um sich. Sie würde ihm nicht die Genugtuung geben, sie zittern zu sehen.
Die Minuten zogen sich.
Das Feuer im Kamin brannte niedrig und warf lange Schatten über den Boden. Herbsts Augenlider wurden trotz allem schwer, Erschöpfung zerrte an ihren Knochen.
Plötzlich begannen der Lavendel und die Kamille zu effizient zu wirken.
Sie bemerkte nicht, dass sie eingedöst war, bis eine raue Hand ihr Kinn packte.
Ihre Augen flogen auf.
Kieran war direkt vor ihr, vor ihr hockend, sein Gesicht nur Zentimeter von ihrem entfernt. Sein Daumen strich über den blauen Fleck auf ihrer Wange... zu sanft, als wäre er nicht derselbe Mann, der sie erst gestern quer durch den Raum geschleudert hatte.
Herbst zuckte zurück. "Fass mich nicht an."
Seine Hand sank. "Du hast gewimmert."
Ihr Gesicht brannte. "Habe ich nicht."
Er stand auf und wandte sich ab, als würde ihn ihr Anblick anwidern. "Du bist erbärmlich."
Herbsts Nägel gruben sich in ihre Handflächen. "Warum bist du dann noch hier?"
Kieran hielt am Fenster inne, den Rücken zu ihr gewandt. "Weil ich Lust dazu habe."
Bullshit.
Sie wollte schreien. Etwas nach seinem Kopf werfen. Aber das Gewicht des Tages lastete auf ihr, und plötzlich war sie einfach nur... müde.
So müde.
Die Stille dehnte sich aus. Der Wind heulte draußen und rüttelte an den Fensterläden. Herbst kauerte sich noch enger zusammen und lauschte dem gleichmäßigen Rhythmus von Kierans Atem. Er war so laut.
Und irgendwie, gegen jede Logik, war es... beruhigend.
Sie erinnerte sich nicht daran, wann sie in tiefen Schlummer glitt.
***
Im Morgengrauen, als Herbst aufwachte, war der Stuhl leer.
Für einen dummen, verräterischen Moment schmerzte ihre Brust.
Dann entdeckte sie es... einen Dolch, der in das Holz ihres Nachttisches gestoßen war, ein Stück Pergament darunter festgepinnt.
Sie riss es frei.
Wenige Worte, scharf und klar geschrieben. Mit Blut. Seinem Blut?
"Nächstes Mal benutze diesen statt eines Buttermessers."
Herbsts Atem stockte.