Kapitel 1: Abgelehnt

"Sie ist die Tochter des Alphas?"

Die Worte drangen durch den dichten Nebel, der Lilys Kopf umhüllte. Zuerst waren sie schwach – wie Echos, die von Stein abprallten.

"Sieht aus, als hätte sie seit Tagen nichts gegessen."

"Sie ist zu klein... kann nicht glauben, dass sie der Grund ist, warum die Hälfte unseres Rudels tot ist."

Die Stimmen wurden schärfer, deutlicher.

"Sie sieht nicht einmal wie ein Wolf aus."

"Sie hat keinen. Sie hat sich nie verwandelt."

Lily Brightpaw regte sich schwach in der Ecke der Zelle, den Rücken gegen die feuchte Steinwand gepresst. Ihr Körper zitterte, fiebrig und kalt zugleich. Ketten klirrten an ihren Handgelenken, als sie versuchte, sich zusammenzurollen. Jeder Zentimeter ihres Körpers schmerzte. Die Wunden an ihren Armen, Beinen und am Rücken pochten bei jedem Herzschlag.

"Sie ist einfach... kaputt."

Sie musste nicht jedes Wort verstehen. Ihr Tonfall sagte genug.

Die Zellentür quietschte auf.

Das plötzliche Licht aus dem Gang brannte in ihren Augen. Sie zuckte zusammen und versuchte, ihr Gesicht zu schützen, aber die Wachen waren bereits bei ihr. Raue Hände packten sie, Nägel gruben sich in ihr blaues Fleisch. Ihre nackten Füße schrammten über den kalten Boden, als sie sie vorwärts zerrten.

"Los geht's. Der Alpha will sie sehen."

Alpha Zayn Knightmoon.

Der Mann, den ihr Vater einst in Ketten durch das Thunder Paw Territorium geführt hatte. Der Mann, über den ihr Bruder mit lachenden Augen zu spotten pflegte.

Der Mann, der jetzt über alles herrschte.

Sie kämpfte nicht. Konnte nicht. Ihre Glieder waren zu schwach. Ihre Kehle zu trocken. Ihre Stimme... verschwunden.

Der Aufstieg aus den Kerkern war ein verschwommenes Bild aus Schmerz und flackerndem Fackellicht. Als sie die großen Türen zu den Gemächern des Alphas erreichten, konnte Lily kaum noch stehen.

Sie stießen die Türen auf und schubsten sie hinein.

Sie brach auf dem kalten Steinboden zusammen, ihre Handgelenke in silbernen Manschetten gefesselt.

Lily war seit Tagen – vielleicht Wochen – kalt gewesen. Zeit ergab keinen Sinn mehr, nicht in der Dunkelheit, nicht wenn ihr Körper ständig schmerzte und ihr Magen nie aufhörte zu knurren. Aber als die Wachen sie aus dem Kerker zerrten und in den hellen, unbekannten Raum stießen, veränderte sich etwas.

Sie blinzelte langsam und gewöhnte sich an das Licht. Alles wirkte zu groß, zu sauber. Sie fühlte sich wie ein Schatten, der sich an einen Ort verirrt hatte, an den er nicht gehörte.

Und dann sah sie ihn.

Zayn stand mit dem Rücken zur Tür und blickte zu den hohen Fenstern seines Zimmers. Das Mondlicht strömte herein, kühl und still, und ergoss sich über den Boden wie verschüttete Milch. Er drehte sich nicht um, als die Wachen sie hereinschleppten. Er wusste, wer es war.

Lily Brightpaw.

Die Tochter des Mannes, der sein Leben ruiniert hatte.

Seine Finger zuckten an seinen Seiten, sein Kiefer war angespannt. Selbst nach all diesen Jahren fühlten sich die Erinnerungen noch roh an – als wären sie erst gestern passiert.

Die Ketten.

Das Halsband um seinen Hals.

Die Schläge.

Die kalten Böden der Kerker von Thunder Paw.

Die Schreie seiner Gefährtin.

Er war einst der Sohn eines stolzen Alphas gewesen, der zukünftige Anführer von Obsidian Moon. Und dann, ganz plötzlich, wurden sie überrannt – verraten und abgeschlachtet von Grayson Brightpaw.

Er erinnerte sich daran, wie er zusah, wie sein Vater auf dem Boden verblutete. Er erinnerte sich an den Geruch von verbranntem Fell. Das Knacken brechender Knochen. Aber nichts verfolgte ihn mehr als der Tod seiner Schicksalsgefährtin, Irene.

Sie fesselten sie. Folterten sie. Und als sie zu schwach war, um zu schreien, schnitten sie sie auf und rissen ihr ungeborenes Kind aus ihrem Bauch.

Der Schmerz war unerträglich. Sein Wolf trauerte tagelang in ihm. Er wünschte sich den Tod.

Aber Grayson gewährte ihm diese Gnade nie.

Stattdessen hielt er ihn am Leben. Als Beispiel. Als Unterhaltung.

Zayn lernte, Schmerz zu schlucken. Wut zu begraben. Abzuwarten.

Jetzt fügte sich alles zusammen.

Er hatte sein Rudel zurückerobert. Grayson mit eigenen Händen getötet. Und jetzt war sie hier. Das letzte Stück dieser verfluchten Blutlinie.

Er drehte sich langsam um.

Dann nahm er einen Duft wahr – und alles hielt an.

Süß. Zart. Wie Wildblumen nach Regen. Ein Duft, den er noch nie gerochen hatte, aber der ihn hart traf. Vertraut auf seltsame Weise. Tröstlich. Rein.

Seine Brust zog sich zusammen.

Nein!

Nein, das konnte nicht passieren!

Die Bindung traf ihn wie ein Schlag in den Magen.

Sein Wolf knurrte und drängte in ihm nach vorne, erwachte schlagartig mit einem Wort, das laut und deutlich in seinem Kopf widerhallte.

Gefährtin!

Seine zweite Chance auf eine Gefährtin.

Zayn stockte der Atem. Für einen Moment starrte er sie einfach an – gebrochen, schmutzig, zitternd auf dem Boden wie ein Blatt im Wind.

Es ergab keinen Sinn.

Es war nicht fair.

Dieses Mädchen – die Tochter des Mannes, der alles zerstört hatte – sie war seine zweite Chance?

Ihm wurde übel.

Sie blickte zu ihm auf, mit weit aufgerissenen Augen. Sie roch es auch. Fühlte es. In ihren Augen lag Hoffnung, schwach und zerbrechlich.

Es machte ihn wütend.

"Du?" höhnte er, seine Stimme rau und bitter.

Er trat näher. Sein Wolf heulte erneut protestierend auf, kämpfte gegen ihn, aber Zayn brachte ihn zum Schweigen.

"Nein," knurrte er. "Nein, nein, nein – das kann nicht sein. Von allen Wölfen, die die Göttin für mich ausgewählt hat, hat sie dich gewählt?"

Er wollte lachen. Wollte schreien.

Stattdessen sah er ihr direkt in die Augen. Er packte ihre Ketten und zog sie zu sich.

"Ich, Zayn Knightmoon, lehne dich, Lily Brightpaw, als meine Gefährtin ab."

Sie brach sofort zusammen, als wäre sie erschossen worden. Ihr Körper krümmte sich. Blut tropfte von ihren Lippen, als sie hustete und zitterte, verzweifelt am Boden kratzend.

Er beobachtete sie ungerührt.

"So fühlt sich Ablehnung an," sagte er, seine Stimme kalt und emotionslos. "Jetzt weißt du es."

Sie blickte auf, ihre Lippen bewegten sich. Kein Ton.

Zayn runzelte die Stirn. "Du bist stumm?"

Natürlich war sie das.

Keine Stimme. Kein Wolf. Einfach nur schwach, gebrochen und völlig nutzlos.

Sein Magen verkrampfte sich.

Sollte das Schicksal sein?

Er hockte sich vor sie und packte ihr Kinn, zwang sie, ihn anzusehen.

"Dein Vater hat mein Leben ruiniert. Er hat meine Gefährtin gefoltert. Zwang mich zuzusehen, wie sie mein Kind ermordeten. Er benutzte mein Volk als Sklaven, und jetzt hat die Mondgöttin die Dreistigkeit, mich an dich zu binden?"

Sie wehrte sich nicht. Blinzelte nicht einmal. Weinte nur.

Zayn stand auf, angewidert.

Er ging in die Ecke des Raumes, öffnete die Truhe und holte den einzigen Beweis hervor, den er hatte, dass Rache real war.

Graysons abgetrennter Kopf.

Er warf ihn ohne zu zögern in ihre Richtung.

Er landete mit einem dumpfen Rollen zu ihren Füßen.

Sie keuchte lautlos, wich schnell zurück und kauerte sich zusammen, als wolle sie verschwinden.

Gut.

"Dein Vater ist tot. Dein Bruder ist in den Kerkern unten angekettet. Dein Rudel gehört jetzt mir."

Ihre Lippen bewegten sich wieder.

Warum?

Zayn trat vor und riss die Ketten von ihren Handgelenken.

"Weil deine Blutlinie jedes bisschen Leid verdient, das ich ertragen habe – und mehr."

Er warf sie aufs Bett, als würde sie nichts wiegen. Sie landete auf der Matratze und starrte zu ihm hoch, die Augen weit aufgerissen und verängstigt.

"Zieh dich aus," sagte er.

Sie bewegte sich nicht.

"Ich sagte, zieh dich aus!"

Ihre zitternden Hände gingen zu ihrem Kleid. Sie formte mit den Lippen ein Wort.

Bitte.

Aber er war fertig mit Zuhören.

Er kletterte über sie, drückte ihre Handgelenke nach unten und beugte sich nah zu ihr.

"Hier gibt es keine Gnade," sagte er leise, Gift in jedem Wort. "Du wirst für jedes Leben bezahlen, das dein Vater zerstört hat. Ab jetzt."

Sein Wolf wimmerte tief in ihm, verwirrt. Zerrissen.

Aber Zayn war das egal.

Lily Brightpaw mochte seine Gefährtin sein.

Aber sie war auch die letzte Erinnerung an alles, was er verloren hatte.

Und er würde sie zerbrechen – genau wie ihre Familie ihn zerbrochen hatte.