Es war Mitte Juni, die Sommersonne über Deutschland brannte mir die Zweifel aus dem Kopf. Ich wusste nicht genau, warum ich aufgebrochen war. Nur dass ich musste. Alles in mir zog nach Norden – als rief etwas in der Ferne, dumpf und uralt. Ich wollte weg von allem: von der Stadt, von Erwartungen, vom Lärm in meinem Kopf.
Also fuhr ich los, ohne Plan, ohne Ziel, nur mit einem Zelt, ein paar Notizen aus alten Träumen – und dem Gefühl, dass Norwegen mir Antworten bringen würde.
Tage später, irgendwo zwischen Alta und dem Nordkapp, schlängelte sich die Straße an den Fjorden entlang. Der Himmel glühte in kaltem Silber, als mein Auto plötzlich zu ruckeln begann. Ein dumpfer Knall – Reifenpanne. Ich hielt an, stieg aus. Kein Empfang. Kein Verkehr. Nur das gleichmäßige Atmen der Wellen unter mir.
Ich wechselte den Reifen, fluchend, schwitzend. Und dann sah ich sie.
Im Fjord stand eine Frau.
Barfuß im Wasser. Ihr Haar war Gold blond mit Silber Strähnen, ihre Haare geflochten wie bei einer nordischen Göttin, wie die Nacht am Polarkreis, ihre Haut wirkte beinahe leuchtend im blassen Licht. Sie stand einfach da, regungslos, doch ihr Blick traf mich wie Donner. Goldene Augen. Kein Zweifel: Gold, wie flüssiger Bernstein.
Ich dachte zuerst, sie sei eine Einbildung. Oder vielleicht Teil irgendeines seltsamen Rituals. Doch sie war echt. Und sie lächelte.
"Du hast lange gebraucht", sagte sie.
„Wie bitte?“ fragte ich.
„Du bist nicht zufällig hier. Die Nornir haben dich geführt. Unsere Fäden sind miteinander verknüpft, seit du zum ersten Mal vom Wolf geträumt hast.“
Ich fröstelte. Woher wusste sie das?
Sie trat näher, ohne dass das Wasser ihre Kleidung benetzte – oder hatte sie überhaupt Kleidung an? Ihr Körper war in ein Fell gehüllt, das sich mit dem Licht veränderte.
„Ich bin Fenris. Eine Tochter der Linie, die vom Großen reißenden Wolf stammt. Der, den ihr Fenrir nennt.“
Ich starrte sie an. „Du meinst… du bist… eine Wölfin?“
„Ich bin beides. Wölfin und Frau. Verflucht und gesegnet. Wie du – ein Suchender zwischen den Welten.“
Ein Windstoß fuhr über die Fjorde, trieb Gänsehaut über meine Arme.
„Warum ich?“, fragte ich leise.
„Weil du dein wahres Selbst suchst. Und weil ich meine Vergangenheit begraben muss, um meine Zukunft zu wählen.“
Sie ging an mir vorbei, hinauf zum Straßenrand. Und dann geschah es: Ihre Gestalt verzerrte sich, wurde schlanker, mächtiger – in einem einzigen Herzschlag stand ein riesiger Wolf vor mir. Schwarz wie Schatten, goldenäugig wie zuvor.
Der Wolf berührte meine Hand mit der Schnauze, dann wich er zurück – und mit einem erneuten Aufleuchten stand wieder die Frau vor mir.
„Du wirst noch vieles sehen“, flüsterte sie. „Aber zuerst musst du dich entscheiden, ob du bleibst. Bei mir. In dieser Wildnis. Und ob du den Weg gehst, den nur jene gehen, die mehr sind als nur Mensch.“
Ich sah sie lange an. Dann nickte ich. Und wusste – mein altes Leben war vorbei. Und ein neues hatte begonnen, hier, zwischen Fjord und Fels, an der Seite der letzten Tochter Fenrirs.
Doch es waren ihre Augen, die mich festhielten: golden, wachsam, uralt – wie Sonnenlicht durch Herbstlaub, tief und wissend.
Sie war wunderschön. Aber nicht menschlich schön. Ihre Ausstrahlung war wild, mächtig und gefährlich. Sie war wie ein Sturm, eingefangen in Gestalt.
Ich wagte kaum zu atmen, als sie sprach.
„Du hast lange gebraucht“, sagte sie mit einer Stimme, die in mir zitterte wie der Wind über dem Fjord.
Ich stand noch immer da, halb zwischen Staunen und Furcht, während sie aus dem Wasser trat, tropfenlos, als wäre sie Teil des Elements selbst. Ihr Fell, das eben noch ihre Gestalt wie ein lebendiger Umhang umhüllt hatte, wirkte plötzlich deplatziert – wie ein Relikt aus einer anderen Zeit.
„Fenris…“, begann ich zögernd, während ich versuchte, ihren Blick zu halten. „Warum hier? Allein in der Wildnis? Menschen leben hier nicht mehr so.“
Sie schwieg. Ihre Augen ruhten auf mir, als würde sie hinter meine Gedanken sehen.
„Ich werde hier nicht überleben“, sagte ich, diesmal fester. „Aber du – du könntest es. In meiner Welt. Du müsstest nicht mehr jagen, keine Sorgen mehr wegen Kälte, Hunger, Fremden. Ich kann dir zeigen, wie man in der heutigen Zeit lebt. Es ist nicht alles gut… aber vieles einfacher.“
Sie musterte mich, dann schmunzelte sie. Ein sanftes, fast neugieriges Lächeln.
„Und was willst du dafür?“
Ich trat näher, ließ meinen Blick über das wilde, herrliche Bild wandern, das sie abgab.
„Nichts. Oder alles. Ich weiß es selbst noch nicht. Aber zuallererst…“, ich deutete auf ihr Fell, das im Licht flackerte wie eine lebendige Erinnerung, „…besorgen wir dir moderne Kleidung. Sonst fällt deine Art etwas auf.“
Sie lachte leise, und das Geräusch ging mir durch Mark und Bein.
„Kleidung…“, murmelte sie, als schmecke sie das Wort zum ersten Mal. „Dann los, Menschenmann, zeig mir eure Welt.
Wir verstauten das Fell in den Kofferraum – ein seltsames Gefühl, als würde ich ein heiliges Relikt zwischen Ersatzreifen und Rucksack stopfen. Fenris stieg auf der Beifahrerseite ein, vorsichtig, als sei der Wagen ein Wesen, das sie erst noch verstehen musste.
„Also… Gurt.“
Ich griff zu ihrem Sicherheitsgurt, wollte helfen – doch ehe ich reagieren konnte, hatte sie sich mit einem Knurren reflexartig weggeduckt, ihre Augen flackerten golden auf. Für einen Moment war sie nicht mehr ganz Mensch.
„Berühr mich nicht so plötzlich“, sagte sie ruhig, aber mit Nachdruck.
„Entschuldige“, murmelte ich. „Ein Reflex. Menschen machen das so. Ich will dir nichts.“
Sie entspannte sich, streckte sich dann langsam, wie eine Katze in der Sonne. „Dann zeig mir, wie es geht.“
Ich zeigte es ihr. Und mit einem Klicken war sie festgeschnallt. Fenris blickte an sich hinunter, runzelte die Stirn. „Das ist… eine Art Fessel?“
„Sicherheitsgurt.“ Ich grinste. „Kein Käfig.“
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Die nächste Stadt – wenn man die Ansammlung aus Tankstelle, Supermarkt und einem Second-Hand-Laden überhaupt so nennen durfte – war keine Stunde entfernt. Auf dem Weg dorthin beobachtete Fenris die Welt mit wachsamen Augen.
„So viele Zeichen… Lichter… Geräusche. Diese Welt riecht nach Metall und Eile.“
„Willkommen im Jahr 2025“, sagte ich trocken.
Im Laden war es… ein Erlebnis.
Sie betrachtete alles. Misstrauisch. Faszinierend. Die Verkäuferin wollte ihr helfen, fragte sie auf Norwegisch etwas, Fenris antwortete mit einem Blick, der Wölfe in die Flucht geschlagen hätte. Ich schob mich dazwischen und lächelte entschuldigend.
Wir fanden Jeans, einen warmen Pullover, eine Jacke – schlicht, aber unauffällig. Die Umkleidekabine war ihr ein Rätsel. Als ich draußen wartete, hörte ich plötzlich ein leises Knurren. Dann:
„Wie öffnet man das Ding zwischen den Beinen?“
„Das ist ein Reißverschluss!“ rief ich, halb lachend, halb verlegen. „Ich… äh… ich zeig’s dir gleich.“
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Als sie wieder heraustrat, sah sie plötzlich aus wie jede andere Frau – beinahe. Etwas in ihrer Haltung, in der Art, wie sie sich bewegte, verriet immer noch das Wilde unter der Oberfläche.
„Und?“, fragte sie.
„Du siehst aus wie… eine Göttin auf Städtetrip.“
Sie lachte wieder – kurz, aber ehrlich.
Doch kaum waren wir zurück im Auto, veränderte sich etwas. Die Sonne war inzwischen fast verschwunden, Nebel zog über die Straße. Fenris’ Nase zuckte.
„Da ist etwas in der Luft.“
Bevor ich fragen konnte, war sie aus dem Auto gesprungen. Ich rannte ihr hinterher – nur um zu sehen, wie sie sich mitten im Lauf verwandelte.
In Sekundenschnelle stand da kein Mensch mehr, sondern eine gewaltige Wölfin. Ihr Fell war silberweiß, mit dunklen Strähnen, wie aus Licht und Schatten gesponnen. Sie raste in den Wald, lautlos wie der Wind.
Ich blieb zurück, das Herz hämmernd.
Ich wusste es jetzt.
Ich war nicht mehr nur auf der Reise, mich selbst zu finden.
Ich war hineingeraten in etwas, das größer war als ich – älter, wilder, echter.
Und ich wollte mehr.