Die Tage nach dem Erwachen des Feuers in mir verliefen in einem merkwürdigen Schwebezustand.
Nicht, weil sich die Welt verändert hatte – sie war noch immer rau, wild, voller Nebel und uralter Pfade.
Sondern weil ich mich verändert hatte.
Und Fenris spürte es mit jeder Berührung, jedem Blick, jedem Atemzug.
Wir redeten kaum über die Prüfung im Steinkreis.
Nicht, weil wir sie verdrängten – sondern weil wir beide wussten, dass das, was in mir erwacht war, noch keinen Namen hatte.
Aber seine Gegenwart war überall.
In meinem Blut. In ihrem Blick. In den Reaktionen des Rudels.
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Ein neues Gleichgewicht
Fenris hatte ihr Verhalten mir gegenüber kaum verändert – nach außen.
Doch in den stillen Momenten…
Wenn wir zusammen im Gras lagen, wenn ihr Kopf auf meiner Brust ruhte, wenn ich ihr Haar durch meine Finger gleiten ließ…
…da war etwas neu: ein sanftes Innehalten.
Ein vorsichtiges Staunen.
Ein Hauch von Ehrfurcht.
Und ich?
Ich liebte sie noch immer. Doch ich hatte begonnen, sie mit anderen Augen zu sehen.
Nicht weniger nah – im Gegenteil.
Aber tiefer.
Fenris war nicht nur die Frau, die mich gerettet hatte. Nicht nur die Alpha. Nicht nur die Wölfin.
Sie war… Zuhause.
Inmitten all der inneren Stürme.
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Der Ruf
Es war in einer Nacht, als der erste Frost über die Hügel zog und das Rudel sich eng aneinanderschmiegte, dass der Ruf kam.
Nicht als Stimme.
Nicht als Geräusch.
Sondern als Gefühl.
Ein Ziehen.
Tief unter der Erde, unter den Bergen, unter dem, was der Mensch begreift.
Etwas Uraltes.
Etwas, das mich zu sich rief.
Ich erwachte mit rasendem Herzschlag, schweigend.
Fenris öffnete langsam die Augen, sah mich an, ohne zu sprechen.
„Du hast es gespürt“, sagte sie nur. Keine Frage. Eine Feststellung.
Ich nickte.
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„Es ist tiefer als die Wurzeln der Bäume“, flüsterte sie. „Ein Ort, an dem selbst unsere Ältesten nicht mehr sicher gehen. Die Tiefe. Die Höhle unter dem alten Blutbaum.“
Ich schluckte.
> „Warum ruft es mich?“
> „Weil du jetzt einer von ihnen bist.“
> „Ihnen…?“
Sie sah hinaus in die Dunkelheit.
> „Denjenigen, die das Feuer einst trugen. Die das Gleichgewicht hielten – bis sie verschwanden.“
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Der Aufbruch
Noch vor Sonnenaufgang schnürten wir unsere Sachen.
Diesmal kamen nur wir zwei. Kein Rudel. Keine Wölfe.
Nur Fenris. Und ich.
Wir verließen das Lager wortlos.
Hinter uns lag die Wildnis Norwegens.
Vor uns: das Unbekannte, das unter dem uralten Gebirge lauerte.
Die Reise führte uns über schroffe Hänge, durch Schluchten, in denen kein Laut zu hören war.
Die Kälte nahm zu, je höher wir kamen, doch wir hielten nicht an.
Denn wir wussten beide: Wer den Ruf ignoriert, zahlt mit dem Verstand – oder mit der Seele.
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Die Schwelle
Am dritten Tag standen wir schließlich vor dem Eingang.
Der Blutbaum war wirklich da – wie aus alten Legenden gehauen:
Ein riesiger, knorriger Baum mit rot verfärbtem Stamm, von Moos bedeckt, von Raben umkreist.
Er wuchs an einem Ort, der sich falsch anfühlte.
Nicht böse. Aber… älter als Zeit.
Fenris trat vor. Ihre Finger glitten über die Rinde.
> „Hier begann unsere Linie.“
> „Und was liegt darunter?“ fragte ich.
> Sie zögerte.
„Die Quelle. Die Tiefen. Das, was in dir erwacht ist.“
Dann blickte sie mir fest in die Augen.
> „Bist du bereit?“
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Ich atmete tief ein.
Dann trat ich durch den schmalen Spalt zwischen den Wurzeln.
Hinter mir folgte Fenris.
Keine Fackel. Kein Licht. Nur das Glühen, das in mir aufflammte, sobald der Fels mich umschloss.
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Wir stiegen tiefer.
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Der Gang senkte sich spiralförmig abwärts, gefasst von schwarzem Stein, durchzogen von leuchtenden Linien – nicht wie Adern, sondern wie flüssige Zeichen, die mich zu erkennen schienen.
Meine Schritte hallten seltsam gedämpft, Fenris ging dicht hinter mir.
> „Spürst du es?“ fragte ich.
> „Alles in mir ruft zurück“, antwortete sie.
„Als würde der Fels selbst atmen.“
Nach Stunden – oder waren es Minuten? – öffnete sich der Gang zu einer riesigen Halle.
Der Boden war glasartig, als bestünde er aus Obsidian.
In der Mitte ein kreisrunder Schacht – und darin: Licht.
Nicht wie Feuer.
Sondern wie… reines Bewusstsein.
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Der Spiegel des Erbes
Ich trat näher, und das Licht spiegelte mein Gesicht.
Doch es war nicht nur meines.
Ich sah einen Wolf.
Ich sah Flammen.
Ich sah Fenris.
Dann ein Kind.
Dann… mich selbst – mit goldenen Augen.
Ich wich zurück.
Doch Fenris legte eine Hand auf meine Schulter.
> „Du siehst, was sein könnte.“
> „Oder was sein wird?“ fragte ich.
Sie antwortete nicht.
Aber sie blieb.
Und das war mehr, als jede Antwort hätte sagen können.
Wir saßen stumm am Rand des Lichts, das aus dem kreisrunden Schacht drang.
Kein Geräusch, kein Windzug, kein Tropfen, der von den steinernen Wänden fiel.
Nur dieses sanfte Leuchten, das nicht die Dunkelheit vertrieb, sondern sie durchdrang, als gehörten beide zusammen.
Fenris hatte die Beine angezogen, ihre Arme um die Knie gelegt, und blickte schweigend in das Leuchten.
Es war selten, sie so ruhig zu sehen. So offen. So verletzlich.
Ich rückte näher zu ihr.
> „Du hast nie erzählt, ob du diesen Ort kanntest.“
Sie antwortete nach einer Weile, ohne den Blick vom Licht zu nehmen:
> „Ich kannte ihn nicht. Aber ich habe von ihm geträumt. Als Kind. Als Wölfin. Als Frau. Immer wieder.
Ein Ort, an dem alles beginnt. Und alles endet.“
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Ich legte meine Hand auf ihre. Sie war kalt.
> „Hast du Angst?“
Sie sah mich an – endlich.
Ihre silbernen Augen wirkten dunkler hier unten, wie ruhige Wasserflächen, in denen sich Monde spiegeln.
> „Nicht vor dem, was kommt. Sondern davor, was es aus dir machen könnte.“
> „Und wenn ich mich verliere?“
> „Dann hole ich dich zurück. Notfalls mit Zähnen und Klauen.“
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Ein leises Lächeln, schwach, aber echt, zuckte über ihre Lippen.
Es war dieser Moment, dieser winzige, kostbare Moment der Nähe, der uns beide wieder erdete.
> „Ich dachte nie, dass ich mich so an jemanden binden würde“, sagte sie leise.
„Nicht aus Schwäche. Sondern weil ich nicht wusste, dass es möglich ist.“
Ich sah sie schweigend an. Und ich wusste:
Diese Frau, diese Wölfin, diese Kriegerin – sie ließ mich tiefer in ihr Herz blicken als jeden anderen zuvor.
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Der Sprung
Schließlich war es so weit.
Wir wussten, dass der Weg nicht endete, wenn wir auf der Kante saßen.
Ich richtete mich auf, blickte in das Licht hinab.
> „Du musst allein gehen“, sagte Fenris.
„Nur du wirst erkannt werden.“
> „Und wenn ich nicht zurückkehre?“
> „Dann brennt der Wald“, sagte sie, ihr Blick plötzlich wild.
„Dann reiße ich Himmel und Erde auf, bis ich dich finde.“
Ich küsste sie.
Sanft, aber tief.
Dann drehte ich mich um – und sprang.
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Der Sturz dauerte keinen Herzschlag lang.
Oder vielleicht ein ganzes Leben.
Ich schlug nicht auf. Ich landete nicht.
Ich… schwebte.
Fiel durch Licht.
Durch Erinnerungen.
Durch Stimmen.
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> „Er trägt das Feuer…“
„…aber er kennt den Preis nicht…“
„…seine Liebe ist sein Schild…“
„…seine Angst sein Fluch…“
„…wird er es führen – oder von ihm geführt werden?“
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Und dann landete ich.
Sanft.
Knie im feinen Sand.
Luft, warm wie eine Umarmung.
Ich war… irgendwo.
Ein offener Raum.
Keine Wände. Keine Decke.
Nur Weite.
Und vor mir:
Ein Spiegel aus Wasser.
Ruhig. Klar.
Tief.
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Die Prüfung
Ich trat näher.
Mein Spiegelbild war dort.
Doch es war… anders.
Es war ich – mit goldenen Augen.
Mit Flammen, die aus meiner Haut loderten.
Mit einem Blick, der nicht fragte, sondern entschied.
> „Wer bist du?“ fragte ich mein Spiegelbild.
> „Ich bin das, was du sein kannst. Was du wirst. Was du fürchtest.“
> „Und wenn ich das nicht will?“
> „Dann wirst du kämpfen. Und verbrennen. Oder lernen, zu leiten.“
Ich streckte die Hand aus.
Der Spiegel zitterte.
Dann stieg aus ihm ein Wolf empor.
Nicht irgendeiner.
Ein brennender Wolf.
Flammenleckend.
Die Hitze war nicht zerstörerisch – sie war Leben. Bewegung. Kraft.
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Der Wolf umrundete mich.
Kein Knurren. Kein Angriff.
Er prüfte. Roch. Lauschte.
Dann sprach er.
Nicht mit Stimme – mit Gefühl.
> „Du bist nicht auserwählt. Du bist erwacht. Es ist ein Unterschied.“
> „Du trägst das Feuer. Aber du bist nicht allein. Du hast Herz, Rudel, Liebe. Diese drei entscheiden, was du wirst.“
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Der Wolf trat in mich hinein.
Ich spürte kein Schmerz. Nur Klarheit.
Meine Augen brannten.
Mein Herz schlug schneller.
Und dann wurde alles Licht.
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Die Rückkehr
Ich kam zurück mit einem Ruck.
Fenris kniete über mir.
Tränen liefen ihre Wangen hinab, doch ihr Blick war ruhig.
Ihre Stimme bebte kaum hörbar:
> „Du bist zurück.“
Ich setzte mich auf.
Meine Brust glühte – nicht sichtbar, aber fühlbar.
Ich war nicht mehr derselbe.
Ich war… vollständig.
> „Ich weiß jetzt, was ich bin“, sagte ich leise.
„Ich bin nicht das Feuer.
Ich bin der, der es trägt.“
Fenris lächelte, voller Stolz.
> „Dann war es nicht umsonst.“
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Doch tief unter der Erde bewegte sich etwas.
Nicht in uns – außerhalb.
Ein leises Grollen.
Ein uraltes Zittern.
Die Tiefe hatte uns angenommen.
Aber nicht alle waren froh darüber.
Wir verließen den Raum der Tiefe schweigend.
Nicht aus Angst, sondern aus Respekt.
Man verlässt keine uralte Macht mit leichten Worten.
Der Weg zurück führte uns nicht über denselben Pfad – die Höhle hatte sich verändert.
Neue Gänge, andere Luft, anderes Licht.
„Die Tiefe lässt einen nicht zweimal gleich zurückkehren“, sagte Fenris, als hätte sie es immer gewusst.
Und ich verstand:
Nicht nur ich hatte sich gewandelt – die Welt tat es mit mir.
Oder ich mit ihr.
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Die Rückkehr zum Rudel
Als wir das Licht des Morgens durch die schmale Spalte des Blutbaums sahen, war die Welt still.
Der Schnee hatte sich über Nacht auf die Hänge gelegt, als würde er die Erde neu kleiden.
Ein Anfang.
Fenris trat zuerst ins Freie.
Der Wind zerrte an ihrem Haar, doch sie bewegte sich wie jemand, der weiß, wohin er gehört.
Ich folgte ihr.
Mein Blick ging zu ihr – und sie sah zu mir.
Und in diesem einen Blick lag alles:
Kampf.
Würde.
Hoffnung.
Liebe.
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Das Rudel erwartete uns bereits.
Kein Zufall.
Sie hatten es gespürt – das Aufbrechen des alten Siegels, das Echo des Erwachens.
Sie standen auf der Lichtung, stumm, aufrecht, wie Wächter eines vergessenen Reiches.
Und ich trat vor sie, nicht mehr nur als der, der gekommen war.
Sondern als der, der zurückgekehrt war.
Fenris stellte sich nicht vor mich.
Nicht neben mich.
Sondern trat einen halben Schritt zurück.
Ein Zeichen.
> Er steht für sich. Er steht mit mir. Aber er ist nun auch selbst ein Pfeiler.
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Der Beta trat vor, verbeugte sich leicht.
> „Du bist der Flammenträger.“
Ich antwortete mit einer ruhigen Stimme, die ich kaum als die meine erkannte:
> „Ich bin, wer ich geworden bin.“
Ein altes Ritual begann.
Ein Kreis.
Runen wurden in den Schnee gezogen, Kräuter verbrannt, Rauch stieg auf.
Ich kniete nieder – und Fenris kam zu mir.
Sie legte ihre Hand auf mein Herz.
Ein altes Lied erhob sich, gesungen vom Rudel – rau und fremd, doch irgendwie vertraut.
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> „Er kam als Fremder
Und ging durch Schatten
Er fiel und brannte
Und stieg als einer von uns
Er trägt das Feuer
Nicht um zu herrschen
Sondern um zu hüten
Er ist Blut
Er ist Bund
Er ist unser – wie wir sein sind“
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Als das Lied verklang, war da Stille.
Aber nicht leer.
Voll.
Voll von etwas, das sich anfühlte wie ein neues Kapitel.
Ich stand auf.
Fenris nahm meine Hand.
Die Wölfe senkten die Köpfe.
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In der Nacht
Wir saßen später am Feuer, abseits der anderen.
Fenris hatte ihr Haar geöffnet, es fiel weich über ihre Schultern.
Sie trug wieder das weite Fell, doch es war lose übergeworfen, nicht als Rüstung – sondern als Wärme.
Ich betrachtete sie eine lange Zeit.
> „Du hast mich nicht geführt. Du hast mich begleitet.“
Sie lächelte.
> „Und das werde ich weiter tun – bis du selbst ein Führender bist.“
> „Glaubst du… dass wir… ein eigenes Rudel haben könnten?“
Sie hob den Blick.
Ihre Augen wurden weicher.
> „Du meinst… eine Familie?“
> Ich nickte.
„Ich weiß nicht viel vom Leben. Aber ich weiß, dass ich es nicht ohne dich leben will. Und… vielleicht mit kleinen Pfoten, die unseren Spuren folgen.“
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Fenris schwieg.
Dann zog sie ihre Beine an, legte den Kopf auf meine Schulter.
> „Ich habe mir nie erlaubt, davon zu träumen“, flüsterte sie.
„Nicht, weil ich es nicht wollte. Sondern weil ich dachte, es sei nicht möglich.
Ich bin Kriegerin. Alpha. Wölfin. Und doch… in deinem Blick sehe ich etwas anderes.“
> „Was denn?“ fragte ich sanft.
> „Heimat.“
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Sie legte eine Hand auf meinen Bauch, dort, wo mein Herz schlug.
> „Wenn wir Kinder hätten… sie wären nicht nur wie ich.
Nicht nur wie du.
Sie wären etwas Neues. Etwas, das beide Linien vereint.
Wandler zwischen Licht und Glut.“
> „Wie viele?“ fragte ich flüsternd.
Fenris lächelte.
> „Zwei. Vielleicht drei. Ich habe keine Zahl im Blut. Nur ein Gefühl…
Dass ich bereit wäre. Bald. Wenn du es bist.“
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Ich küsste ihre Stirn.
> „Ich bin es. Wenn du mich willst.“
> „Immer.“
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In der Nacht schliefen wir nicht.
Nicht aus Leidenschaft – sondern aus Nähe.
Wir lagen eng beieinander, Herz an Herz, Wort an Wort, Atem an Atem.
Der Ruf der Tiefe hatte uns verändert.
Doch nun war es unsere Tiefe.