Ein komischer Butler

Tsuyoi, Delia und Utopius fuhren zehn Tage lang, ohne eine einzige Pause zu machen, bis sie in Utara ankamen. Die Sonne stand hoch im Himmel, aber sie brannte nicht. Es war zwar noch immer Sommer, jedoch wechselte die Jahreszeit langsam zu Herbst. Am Tor der Stadt Utara, die von einer riesigen Mauer, die sich zwanzig Meter in die Höhe erstreckte, umringt war, warteten Wachen, welche das Tor kontrollierten, damit keine ungewollten Gäste in die Stadt eindrangen. Die Stadtmauer war bestückt mit riesigen Bannern, auf denen das Zeichen der Adelsfamilie, die hier residierte und der die Stadt gehörte, aufgemalt war. Das Zeichen der Adelsfamilie und somit auch die Flagge der Stadt war ein Drache mit vier Beinen und großen Flügeln. 

Herr Kampke hielt an. 

“Schönen Tag!”, begrüßte einer der zwei Wachen den Kutscher. “Können Sie sich ausweisen?”

“Natürlich!”, erwiderte Herr Kampke.

Er griff in seine Brusttasche. Daraus holte er ein zusammengefaltetes Blatt, das ihn auswies. Langsam übergab Herr Kampke dem Wächter das Blatt, während ein leichtes Lächeln auf seinen Lippen lag.

“Hm …” Der Wächter las das Dokument. Einige Minuten vergingen, bis er es Herr Kampke wiedergab. “Was ist der Grund für Ihren Besuch, Herr Kampke, und was haben Sie in Ihrem Wagen? Wollen Sie Ihre Güter verkaufen?”

Herr Kampke stieg von seinem Sitz ab. Mit einer kleinen Geste bedeutet er dem Wächter, ihm zu folgen. Dann, als sie sich dem hinteren Teil des Wagens näherten, öffnete Herr Kamkpe ihn. 

“Warum haben Sie Kinder in Ihrem Wagen? Und wieso haben diese Kinder Waffen? Ich befürchte, dass ich Sie verhaften muss, wenn Sie sich nicht sofort erklären können.”, sagte der Wächter mit bedrohlicher Stimme.

Herr Kampke griff wieder in seine Tasche. Diesmal holte er ein Dokument von der Yezhu Nanhai heraus. Es war ein Schreiben, das Herr Kampke, Tsuyoi, Utopius und Delia, als Mitglieder der Yezhu Nanhai bezeichnete. Es war also ihr Ausweis, um in diese Stadt zu kommen. 

“Ich verstehe …”, sagte der Wächter, nachdem er das Dokument von Herr Kampke erhielt und las. “Walter! Mach das Tor auf!”

Als der Wächter laut schrie, zuckte der zweite leicht. 

“In Ordnung!” 

Langsam öffnete sich das eiserne Tor, das ihnen den Eintritt versperrt hatte. Herr Kampke stieg wieder auf seinen Sitz auf, griff nach den Zügeln, woraufhin die Pferde los liefen und wieherten. Währenddessen plauderten die beiden Wächter.

“Warum haben wir die jetzt eigentlich durchgelassen?”, fragte der Wächter namens Walter nervös.

“Die sind von der Yezhu Nanhai. Das hätten die aber auch wirklich eher sagen können.”, seufzte der zweite Wächter. 

“Die Yezhu Nanhai?”, murmelte Walter. 

Das war das Letzte, das die drei Passagiere in dem Wagen hören konnten. Daraufhin spürten die Drei nur noch den Boden, der mit Pflastersteinen erbaut wurde. Er war genauso uneben wie der Boden, den sie auf dem Weg nach Utara erleiden mussten. 

“Wir sind da!”, rief Herr Krampe, als er unvermittelt anhielt. Danach öffnete er die Klappe. Das Geräusch von aneinander reibendem Holz hatte sich schon lange in die Köpfe der Drei eingeprägt. Deswegen konnten sie es schon langsam gut ausblenden. 

“Yaay! Wir sind da!”, freute sich Tsuyoi. “Findest du das nicht voll schön? Wir sind endlich angekommen und können uns die Stadt anschauen!”

“Vergiss nicht, wieso wir hier sind, Tsuyoi.”, mahnte Utopius. “Wir sollten uns hier nicht zu wohl fühlen und uns stattdessen schnell um das Problem kümmern. Dafür sind wir schließlich hier, oder nicht?”

“Ooh … Utopius, du Spaßverderber!”

Delia, die sich das nur ansah, lachte leise. Tsuyoi schaute langsam zu ihr herüber. Lachen war für Delia zwar nicht unüblich, da sie auch schon Alexander ausgelacht hatte, jedoch sah Tsuyoi die letzten zehn Tage nur die Delia, die einen genauso kalten und gleichgültigen Blick hatte wie der Winter im Norden. 

“Hm? Warum schaut ihr mich beide so an?”

Utopius dachte wohl dasselbe, dachte Tsuyoi.

“Na ja,”, setzte Utopius an, "Dein Blick war die gesamte Fahrt lang ziemlich kalt und du sahst aus, als wärst du in Gedanken versunken. Uns ist klar, weshalb du so bist und es stört uns auch nicht. Aber dich jetzt lachen zu hören, war ungewohnt. ‘Tschuldigung, Delia.”, erklärte Utopius mit ehrlichem Ton. 

Delias Herz wurde erwärmt, als Utopius das sagte. Besonders herzerwärmend war die Entschuldigung. Sie kam aus tiefstem Herzen, das konnte Delia spüren. 

Als Utopius verstand, was er da gesagt hatte, packte er Tsuyoi, der sich vor ihn stellte, an den Schultern und zwang ihn wieder auf seinen Platz. Ohne Tsuyoi zu beachten, sagte er dann: “Wollen wir nun raus? Immerhin müssen wir nach dem Untergebenen suchen.”

“Das ist eine gute Idee.”

Alle drei Passagiere stiegen aus dem Wagen aus. Das erste, was sie traf, war die Luft. Sie war anders als die bei der Yezhu Nanhai, frischer, feuchter und kälter. Der Wind strich sanft durch Tsuyois schwarze Haare und führte einen leicht salzigen Geruch an die Nasen der drei Xiongshou. 

“Das … Ist ganz anders, als ich gedacht habe.”, staunte Tsuyoi. “Ich wusste nicht, dass die Luft hier so anders ist. Und dann noch dieser Geruch. Was ist das?”

“Diese Luft ist wirklich anders. Ich könnte mich glatt daran gewöhnen.”

Delia teilte dieselbe Meinung wie Tsuyoi. Sie waren begeistert von diesem neuen Ort. Utopius war es jedoch nicht.

“Das ist der Geruch des Salzwassers. Wir sind sehr nah am Meer, weshalb du diesen besonderen Geruch riechst, Tsuyoi.”

“Wirklich?”, Tsuyoi schaute Utopius tief in die Augen. “Woher weißt du sowas? Bist du ein Gelehrter oder doch ein Allwissender?”

“Nee. Ich bin einfach nur weit gereist. Ich gehöre einer Adelsfamilie an, weißt du? Wir sind zwar nicht bekannt, da wir nur ein Zweig einer größeren Familie sind, das hieß aber nicht, dass wir arm waren. Wir hatten Geld.”

Tsuyoi nickte so, als würde er ihm sagen wollen: “Ich verstehe, was du meinst." Doch das tat er nicht. Nicht eine Zelle in seinem Körper konnte dieses Gefühl verspüren, denn seine Familie konnte sich keine Reisen leisten. Sie musste stattdessen schuften, bis sie eines Tages umfallen. 

“Ich muss euch leider stören.”, unterbrach Herr Kampke. “Wir haben die Kontrolle zwar überstanden, doch jetzt ist noch nicht die Zeit, um Spaß zu haben. Ihr werdet jetzt mit der Adelsfamilie, die diese Stadt regiert, sprechen. Deshalb folgt mir bitte.”

So liefen alle gemeinsam los, um ins Stadtzentrum zu gelangen. Im Stadtzentrum befand sich das Residenzhaus der Adelsfamilie. Ein kleiner Palast, der ihr als Wohnort dient. Doch bevor sie dort ankommen würden, durchstreiften sie die Stadt. Dabei sah Tsuyoi einige Dinge, die er so nicht kannte.

Da er ein Dorfkind war, sah er den ganzen Tag nur Hütten und kleine Holzhäuser mit Strohdächern. Doch in Utara gab es Häuser mit Steinmauern und Dächer aus Dachziegeln, Fenster aus Glas und Läden, die alle möglichen Dinge verkauften. Mal waren es Kaffees, wo man eine kleine Süßspeise genießen konnte und sich mit Freunden oder Bekannten unterhielt, dann waren es Schneidereien oder Bekleidungsläden, die jede nur erdenkliche Art von Kleidung verkauften. Schmieden, dessen Hitze die Luft so stark erwärmten, dass man leicht schwitzte, selbst wenn man sich mehrere Meter davon entfernte, schmückten das gesamte Stadtbild. Tsuyoi war beeindruckt, doch im selben Moment, in dem er beeindruckt wurde, schlug ihm die Realität ins Gesicht. Bettler, die wortwörtlich am Hungertuch nagen, waren über die gesamte Stadt verteilt. Tsuyoi konnte nicht verstehen, wie die Menschen das einfach nicht beachten können. Vielleicht ist es einfach, die schlechten Seiten einer Gesellschaft, die einen nicht selbst betrafen, zu ignorieren. 

Nach langem Bewundern erreichten sie das Ziel. Ein Schloss, geschmückt mit goldenen Figuren, einem Garten, der perfekt aussah und einem Tor, das einem das Gefühl gibt, man müsse nur für das Anschauen bezahlen. 

Einige Meter vor dem Tor blieb Herr Kampke stehen, Delia, Tsuyoi und Utopius taten es ihm gleich. Verwirrung stieg in den Dreien auf. Fragen wie "Wieso bleibt er stehen?" oder “Was kommt wohl jetzt?" gingen ihnen durch den Kopf. 

“Hallo …”

“Ah!”

Vor Herr Kampke und den Dreien tauchte eine Person in schwarzem Anzug auf. Diese Person erschreckte Delia, Tsuyoi und Utopius, sie begaben sich in eine Angriffsposition und legten ihre Hände an den Griff ihrer Klinge. Die Spannung in der Luft stieg sofort. Die Drei waren bereit zu kämpfen, um sich selbst zu verteidigen, schließlich tauchte irgendeine fremde Person einfach vor ihnen auf. Und es schien so, als hätte er Vi benutzt, um sich zu teleportieren. 

“Wer zur Hölle bist du?”

Die Menschen, die auf der Straße vor dem Tor liefen, schauten auf Tsuyoi und lachten dabei. Diese fremde Person tat dasselbe. Sie hielt ihre Hände hinterm Rücken und lächelte, ohne sich in Kampfposition zu begeben. 

“Sie heißen Tsuyoi, nicht wahr?”

Wer ist er? Woher kennt er meinen Namen?

Tsuyoi war verwirrt. Er blieb trotzdem bereit, um sich keine Blöße zu geben. 

“Wieso kennst du meinen Namen?”, zischte Tsuyoi vorsichtig.

“Ich glaube, das sollte ich übernehmen …”, sagte Herr Kampke und rotierte seinen Körper. “Beruhigt euch wieder. Dieser Mann ist der Butler der Adelsfamilie. Er ist nicht unser Feind.”

Alle drei lockerten sich wieder, während ihre Wangen rot wurden. Daraufhin räusperte sich Delia.

“Es tut uns aufrichtig leid.”, entschuldigte sie sich verbeugend. 

Als Tsuyoi und Utopius das sahen, folgten sie hastig Delias Beispiel und verbeugten sich ebenfalls. Der Butler kicherte kurz in sein Fäustchen. Die Leute, die dieses Geschehen miterlebten, liefen enttäuscht weiter und murmelten Dinge wie “Schade …” oder “Ich habe gehofft, dass endlich mal etwas Lustiges passiert.”

Bei genauerem Hinsehen erkannte man, dass dieser Butler blaue Flecken, Wunden und Narben im Gesicht hatte, die noch ganz frisch schienen. So als wären sie gestern oder vorgestern passiert. 

“In Ordnung.”, sprach der Butler. “Ich werde Sie nun zur Familie Utara bringen. Folgen Sie mir bitte …”

Der Butler sprach höflich zu ihnen. Er drehte sich um und führte sie dann durch das Tor in den Garten. Er war wunderschön und bestückt mit Blumen, die in allen erdenklichen Farben blühten und Büsche, die wie Statuen aussehen. Tsuyoi kam kaum aus dem Staunen raus. Delia konnte ebenfalls nicht aus dem Staunen herauskommen. Utopius hatte wie immer denselben Blick im Gesicht. 

Von dem Tor aus konnte man den mächtigen Haupteingang schon sehen. Er war auch so schon außerordentlich schön und beneidenswert, doch wenn man direkt davor steht, fühlt er sich noch mächtiger an. Eine Treppe, die aus Marmor war, führte hoch. Als man über die letzte Treppenstufe lief, stand man direkt vor dem Eingang. Er war verziert mit Gold, Silber, Rubin, Smaragd und vielen anderen Stoffen. Dann öffnete sich das Tor langsam. 

“Wow! Das ist …”

Tsuyoi blieben die Worte im Hals stecken. 

Der Butler der Familie gab Delia, Tsuyoi, Utopius und her Kampke einen Wink, um zu symbolisieren, dass sie durch das Tor laufen dürfen. Sie betraten das Schloss der Familie. Vor ihnen breitete sich ein roter Teppich aus, der den Weg wies. Er führte geradeaus, in Richtung einer weiteren Treppe, die höher führte und nach rechts und links führte er in weitere riesige Räume. Zusammen mit dem Butler liefen sie jedoch die Treppe hoch.

Die Treppe war in Mitten im Raum platziert worden. Nach einigen Stufen spaltete sie sich jeweils nach links und rechts ab. Diese Aufspaltung sorgte aber nicht für Umwege, denn egal wie man hoch lief, man kam immer am selben Ort wieder an. 

“Wer sind denn die Personen auf den Bildern? Die sehen irge…”

“Psst, Tsuyoi!”

Bei Tsuyoi Bemerkung zischte Utopius sofort. Er wusste, dass Tsuyoi sagen wollte, wie komisch die Bilder seien. Utopius war sich sicher, dass der kleinste Fehler Probleme bereiten wird. Man sollte nicht den Groll einer Adelsfamilie auf sich ziehen, egal wie unwichtig sie erscheinen mag. So dachte Utopius. 

“Oh … Dich interessieren also diese Bilder? Dann werde ich dich mal aufklären.”

Der Butler wendete seinen Körper und ließ seinen Blick über die Gruppe schweifen, nur um sich schließlich auf Tsuyoi zu konzentrieren. Ein kleines Lächeln, welches Tsuyoi nicht zu deuten vermochte, strich über seine Lippen. Dann wendete er seinen Körper und lief weiter. Er zeigte auf das erste Bild, das direkt vor ihnen an der Wand hing. Auf dem Bild war eine Frau, die auf einem teuren Sessel saß und ein rotes Kleid an hatte, ein Mann, der einen Anzug trug und seinen Hut vor seiner Brust ausruhte und zwei Kinder zu sehen. 

“Das ist die Familie Utara. Auf diesem Bild sehen sie die Mutter, den Vater und ihre Kinder. Heute sehen sie zwar anders aus, doch ihre Schönheit blieb erhalten.”

Als der Butler erklärte, wer die Personen auf dem Bild waren, lief er zusammen mit der restlichen Gruppe die Treppe weiter hinauf. An der weißen Wand hingen weitere Bilder. Der Butler erklärte, dass diese die Vorfahren der Familie seien. Mal waren es Ölmalereien von Familien wie bei der gegenwärtigen und mal Selbstporträts. 

Die Gruppe lief noch weitere fünf Minuten durch das Schloss, bis sie schließlich vor einer Tür ankam. Sie war klein und unscheinbar, rot und wenig verziert. Sie war so normal, dass sie herausstach, doch niemand würde glauben, dass dort wichtige Personen hausten oder Dinge gelagert würden, die von Wert waren. Das war wohl die Magie dieses Schlosses. 

“Wir sind da!”, sagte der Butler leise. Daraufhin lief er langsam zur Tür. Er klopfte zweimal schnell und dreimal langsam. Dann öffnete sich die Tür langsam. Ein lautes, unangenehmes Quietschen hallte durch den langen Gang, der hinter der Gruppe lag.

“Willkommen bei der Utara Familie, verehrte Gäste.” 

Der Butler legte seine rechte Hand auf die Brust, die Linke hinter den Rücken und verbeugte sich dann. Hinter der Tür erstreckte sich ein riesiger Raum. In der Mitte dieses Raumes befand sich ein langer Tisch. Darauf waren Teller, Gläser und Besteck gelegt. Vier dieser Stühle waren schon besetzt. Falls Tsuyoi richtig getippt hatte, waren es die Mitglieder der Familie.