Der verschwundene König

"Was machen wir jetzt damit?" fragte Jonah, während er den Beutel mit Spielzeug misstrauisch betrachtete.

Aus der Ferne gesehen wirkten sie wie harmlose kleine Spielzeuge. Doch mit jenen Kristallen darin konnte man nicht sagen, zu was sie fähig sein könnten, wenn sie in die Hände einer finstereren Person als eines Kindes gerieten. Während es zwar stimmte, dass nur der Adel die Fähigkeit zur Magie hatte, gab es auch viele vernachlässigte Kinder, die aus flüchtigen Affären gezeugt und auf Abwege geführt wurden.

"Lassen wir erst mal schauen, ob der Mann seine Steine zurückhaben will", sinnierte Atticus und kratzte sich am Kinn.

"In Ordnung." Jonah nickte. "Ich werde auch ein paar Leute schicken, um das zu überprüfen."

"Seid diskret dabei. Wir können es uns nicht leisten, zu viel Aufsehen zu erregen."

Jonah schnaubte. "Für wen hältst du mich?" Er verschränkte die Arme und sagte weiter: "Bei allem Respekt, mein Herr, ich bin nicht du. Ich kenne die notwendigen Vorsichtsmaßnahmen und werde sie ergreifen."

"Ach, hör doch auf." Atticus gab Jonah spielerisch einen Klaps auf den Hinterkopf, woraufhin Jonah finster blickte und mit den Augen rollte.

"Erst wenn du gelernt hast, dein Wort zu halten", gab er zurück. Dann zeigte er auf das Kinderspielzeug auf dem Tisch. "Was tun wir also damit? Sollen wir es bearbeiten und in die Schatzkammer legen?"

Der König ließ seinen Blick in die Richtung schweifen, in die Jonah zeigte, und sah das Spielzeug. Sofort tauchte das Bild von Daphne auf, wie sie das Spielzeug in ihrer Hand hielt und freudig lächelte. Sogar das Spielzeug, das sie zuerst interessiert hatte, war zu dem Stapel hinzugekommen. Am Ende wurde alles im Rahmen einer Untersuchung eingezogen.

Doch etwas in Atticus' Herzen regte sich.

"Lasst es besser sein", sagte er. "Ich... habe eine Verwendung dafür."

Jonah hob zweifelnd die Augenbraue. "Welche denn?"

"Verzieh dich." Atticus runzelte die Stirn. "Warum sollte ich dir über alles Rechenschaft ablegen? Bin ich der König oder bist du es?"

Jonah verdrehte die Augen. "Wie Ihr wünscht, Majestät."

Wäre Jonah nicht aus dem Zimmer geschlichen und schnell geflohen, hätte ihm vielleicht ein Spielzeug ins Gesicht treffen können. Aber die Waffe traf nur die Tür, die sich gerade eine Sekunde zuvor geschlossen hatte und Jonah vor dem Aufprall schützte. Sogar durch die Holztür hindurch konnte Atticus Jonahs Lachen hören, das langsam leiser wurde, während er sich entfernte.

***

Seit Daphne und Atticus allein zum Wintermarkt gegangen waren, waren fünf Tage vergangen. Dies bedeutete auch, dass es fünf Tage her war, seit Daphne Atticus gesehen oder gar mit ihm gesprochen hatte.

Seit er mit Jonah beim Zurückkehren in den Sonnenuntergang davongaloppiert war, hatte Daphne nicht einmal mehr den Schatten des Königs erblickt. Daphne hatte ein paar Mal versucht, von Maisie herauszufinden, wo der König steckte, aber das Dienstmädchen konnte nie mehr als ein ratloses Kopfschütteln zeigen.

Seltsamerweise waren die Tage für ihren Geschmack zu still. So war das Leben für sie damals im königlichen Palast in Reaweth gewesen. Und doch hatten die letzten Tage so viel Trubel mit sich gebracht, dass sie bereits die Routine, an die sie ihr gesamtes Leben lang gewöhnt war, durchbrochen hatten.Dennoch bedeutete die Stille ihres jetzigen Lebens nicht, dass es etwas Schlechtes war. Ohne ihren äußerst lästigen Ehemann hatte sie nun weitaus mehr Freiheit, zu tun, was sie wollte. Ihre Zeit war jetzt ihre eigene und nicht mehr unter der Kontrolle ihres Entführers.

Zeit bedeutete, dass sie ihren großen Fluchtversuch erneut wagen konnte.

"Wenn Ihr noch etwas benötigt, Eure Hoheit, zögert bitte nicht, mich wissen zu lassen", sagte Maisie und eilte zur Tür. Sie war gerade hereingekommen, um Daphne das Frühstück zu bringen und machte sich schon wieder auf den Weg. Das arme Mädchen hatte nicht einmal mehr die Zeit, um zu verweilen und zu plaudern.

"Habt ihr zu tun?", fragte Daphne und spießte mit ihrer Gabel eine saftige Kirschtomate auf. Es war erstaunlich, dass es in Vramid so frische Früchte und Gemüse gab, obwohl das Land von ewiger Kälte erfüllt war.

"Ich bedaure, dass ich so eilends fort muss. Nicht nur ich bin in diesen Tagen sehr beschäftigt", antwortete Maisie, schüchtern. "Das ganze Schloss ist gerade mit den Vorbereitungen für den Winterball beschäftigt. Er findet in wenigen Tagen statt. Gewöhnlich wird diese Veranstaltung parallel zum Markt abgehalten, einen für das Volk und einen für den Adelskreis."

Daphnes Augen weiteten sich.

"Ein Ball?", wiederholte sie. "So bald schon?"

"Hat ... Hat Seine Majestät Euch das nicht mitgeteilt?" fragte Maisie. Ihr Gesicht wurde um mehrere Nuancen bleicher. "Oh nein... hätte ich das nicht erwähnen sollen?"

In Daphnes Kopf begannen sich die Zahnräder zu drehen. Kein besserer Zeitpunkt zur Flucht bot sich an, als wenn alle durch Tanz und Musik abgelenkt waren. Atticus wäre zu sehr damit beschäftigt, seine Gäste zu unterhalten, und das restliche Personal würde im Schloss herumwirbeln, um sicherzustellen, dass alles reibungslos verlief.

"Ich bin sicher, es ist in Ordnung, Maisie." Daphne winkte mit einem Lächeln die Sorge der Zofe ab. "Schließlich bin ich seine Frau. Früher oder später hätte ich es sowieso erfahren."

"Das ist wahr..." murmelte Maisie leise vor sich hin. "Nun, ich sollte besser gehen, Eure Hoheit. Meldet Euch, wenn Ihr mich noch braucht."

Mit diesen Worten eilte sie davon und die Tür schloss sich sanft hinter ihr.

Ein langsames Lächeln bildete sich auf Daphnes Lippen, als sie sicher war, dass Maisie fort war. Die Arme. Sie war definitiv zu naiv für ihr eigenes Wohl. Doch Daphne konnte es sich nicht leisten, auf andere Acht zu geben, wenn sie sich kaum selbst sorgen konnte.

Für die Flucht benötigte sie die richtigen Werkzeuge und die passende Kleidung.

Von ihrem Bett aufspringend, ging Daphne zum Kleiderschrank und riss die Türen auf. Darin befanden sich eine Reihe verschiedener Kleider, alle prächtig, farbenfroh und viel zu auffällig, um unbemerkt zu bleiben. Daphne stand nun vor zwei Möglichkeiten. Sie könnte sich in Schale werfen und am Ball teilnehmen, um sich später als Teil der Menge getarnt herauszuschleichen. Oder sie konnte zu ihrer Magdkleidung zurückkehren und durch den Hinterausgang verschwinden.

Ihr war bereits einmal der Weg gezeigt worden. Diesmal sollte es nicht allzu schwer werden, den Ausgang zu finden, nicht wie beim letzten Mal. Und Atticus würde sicherlich nicht erwarten, dass sie zweimal hintereinander dieselbe Strategie anwendete, oder?

Entschieden zog Daphne die Magdkleidung hervor, die sie hinter den Kleiderstapeln versteckt hatte, und bewunderte den schlichten Stoff.

Freiheit lag nun greifbar nahe.