Hier kommt die Königin

Die Kutschen begannen einzutreffen, als die Sonne unterging, und Daphne betrachtete mit nicht geringem Interesse die unterschiedlichen Designs der Fahrzeuge. Über jeder Kutsche prangte ein Siegel, das an Tiere erinnerte. Von ihrem Zimmer aus konnte sie einen Falken, einen Bären und sogar einen Fuchs erkennen.

Wie interessant. So etwas gab es in Reaweth nicht.

Der Anblick der endlos scheinenden Kutschenreihe, die sich ihren Weg bahnte, ließ in ihrer Magengegend ein Loch entstehen. Das waren Atticus' Leute, und sie würden bald auch ihre Leute sein.

Alle Augen würden auf sie gerichtet sein. Wie sollte sie sich fassen, wenn sie den Großteil ihrer Jugend in den Ecken der Ballsäle verbrachte? Was, wenn Atticus' Adlige ihm glichen - rücksichtslos, schlau und spottlustig?

Wie sollte sie dann fliehen?

"Geht es dir gut?" fragte Atticus.

Erschrocken zuckte Daphne zusammen, wandte den Kopf, um ihn anzusehen. Ihre Hand lag in seiner, auf seiner Armbeuge ruhend.

"Natürlich", erwiderte sie. "Warum sollte es mir nicht gut gehen?"

"Weil du gleich in das Herz des Löwen geschickt wirst", entgegnete Atticus mit einem Funkeln in den Augen. Ein zartes Rot stieg in seine Wangen. "Nun, zumindest bist du für die Schlacht gekleidet."

Daphnes Hand fuhr hoch zu ihren Haaren.

Maisie war in ihr Zimmer gekommen, nachdem sie bereits angekleidet zurückgekehrt war. Das Dienstmädchen hatte sich schluchzend und weinend für ihre Verspätung entschuldigt, bevor sie sich ans Werk machte. Maisie hatte beschlossen, Daphnes Haare zu einem eleganten, aufwendigen Chignon zu flechten, der die Funkeln ihrer Ohrringe sowie die Zierlichkeit ihres Halses und die sie schmückende Halskette hervorhob. Sie hatte rote Blumen verwendet, um beim Thema des Kleides zu bleiben und bestand darauf, die Vision des Königs zu wahren, da er sich die Zeit genommen hatte, ein so wunderbares Outfit für Daphne auszuwählen.

"Lass uns gehen."

Ihre Ohrringe klingelten bei jeder Bewegung. Sie müsste sie ablegen, sollte sie ihren großen Fluchtversuch wagen, für den Fall, dass jemand das Geräusch wahrnehmen würde. An ihrer Verarbeitung zu urteilen, würden sie ihr in einer Notlage einen ordentlichen Betrag einbringen.

Sollten die Ohrringe nicht ausreichen, müsste sie wohl auch die Halskette verkaufen. Instinktiv umschloss ihre Hand den Granat-Anhänger, ein seltsames Gefühl des Verlustes spürend. Sie besaß diese Kette seit weniger als einem Tag, doch fühlte sie bereits eine starke Verbundenheit, als würde sie ihr eine Kraft geben, von der sie nicht wusste, dass sie sie brauchte.

Daphne erinnerte sich an die sanfte Berührung seiner Finger an ihrem Hals, als er ihr die Kette umlegte. Dieselben von Blut befleckten Hände, die Assassinen ohne Gnade getötet hatten. Sie schauderte.

Bevor sie es realisierte, stand sie vor den großen Türen des Ballsaals, ihren Arm in den von Atticus eingehakt. Die Türen schwangen auf und Daphne war kurzzeitig von den hellen Lichtern geblendet.

"Meine Damen und Herren, ich präsentiere Ihnen König Atticus Heinvres und seine Gattin, Königin Daphne Molinero von Reaweth!", verkündete der Herold.

In diesem Moment wurde es still unter den Adligen, die im Ballsaal versammelt waren und an ihren Weingläsern nippten, als sie endlich einen Blick auf die auserwählte Braut ihres Königs werfen konnten. Instinktiv verstärkte sich Daphnes Griff um Atticus' Arm.

Daphne blickte hinunter und schluckte. Eine lange, gewundene Treppe führte hinunter zum Ballsaal, und ihre Hände begannen zu schwitzen, als sie die zahlreichen urteilenden Blicke bemerkte, die ihr entgegengeworfen wurden.

Mehr als ein paar spöttische Blicke trafen sie, doch sie zwang sich, nicht zu reagieren.

Sie hatte erwartet, dass heute Abend viele Menschen anwesend sein würden, aber dass es so viele sein würden, hatte sie nicht gedacht.Wie sollte sie so entkommen können?

Als hätte er ihre Gedanken gelesen, neigte sich Atticus zu ihr und flüsterte: "Denk nicht einmal daran, zu fliehen, mein Sonnenschein. Sable war heute früher nicht gerade kooperativ, und jetzt wird sie es sicherlich auch nicht sein."

Daphne schnaubte, entgegnete aber ansonsten kein Wort.

Der König führte sie die Treppe hinab und in die Mitte der Tanzfläche. Während sie durch die Menge schritten, wich diese auseinander wie das Rote Meer, und ein gedämpftes Gemurmel lag in der Luft. Daphne konnte hier und da flüstern hören – Worte, die ihre Nervosität nur steigerten.

"Ist das die neue Königin?"

"Ich habe gehört, sie kann keine Magie benutzen."

"Adel ohne magische Fähigkeiten? Wie schwach."

"Sie wird des Königs Untergang sein."

Jedes weitere Geraune ließ Daphnes Herz noch heftiger schlagen. Es kümmerte sie kaum, wie gut sie als Königin für Atticus sein würde – sie hatte ohnehin nicht vor, lange zu bleiben –, aber dass sie so unverhohlen über sie sprachen, während sie anwesend war, störte sie immens.

Es mochte sein, dass an ihren Worten Wahrheit war, aber sie war immer noch eine Prinzessin, und in diesem Augenblick ihre Königin. Wie konnten sie es wagen?

"Welch Schande", spottete die Frau, die Daphne am nächsten stand. Ihre Begleiterin nickte vehement zustimmend.

Daphne warf den Frauen einen finsteren Blick zu. Hätten Blicke töten können, wären sie bereits tot.

Als sich ihre Blicke trafen, vertiefte sich das finstere Gesicht der Frau. Sie presste verächtlich die Lippen zusammen und versuchte, Daphnes Blick standzuhalten. Doch für einen Moment schweifte ihr Blick hinter Daphne, und ihr Gesicht erblasste sofort um einige Nuancen. Ihre Begleiterin tat es ihr gleich, und beide wandten sich schändlich zum Boden blickend ab.

Daphne war nicht naiv. Sie wusste, dass es Atticus' Zutun gewesen sein musste. Und tatsächlich hörte sie Atticus' leise Stimme direkt neben ihrem Ohr: "Stört dich jemand, mein Sonnenschein?"

"Nur ein paar lästige Fliegen, Liebster. Nichts, worüber du dir Sorgen machen müsstest." Die Koseworte kamen ihr leicht über die Lippen. Sie hasste es, Atticus so zu nennen, aber der Anblick der enttäuschten und wütenden Gesichter der Frauen war es wert.

Niemand hatte behauptet, sie könne nicht auch kleinlich sein.

"Entschuldige, dass ich deine Augen beleidigen musste", sagte Atticus, während er ihr einen Kuss auf den Handrücken gab. "Ich werde künftig die Gästeliste sorgfältiger auswählen."

Die Gesichter der Frauen wurden noch düsterer, und sie zogen sich verärgert an den Rand des Ballsaals zurück. An ihrer Stelle nahmen einige andere Paare ihren Platz auf der Tanzfläche ein.

"Verziehen", entgegnete Daphne und ihre Lippen formten ein kleines Lächeln.

Das Orchester begann zu spielen.

"Sollen wir tanzen?" fragte König Atticus mit ausgestreckter Hand und einem Funkeln in den Augen.