Kapitel 4

Angelika verspürte einen seltsamen Zug, einen Zwang, die Wahrheit zu sprechen. "Ich bin eine Frau, Eure Majestät", antwortete sie.

Dann fühlte sie, als wären unsichtbare Ketten von ihr abgefallen. Der König lehnte sich mit einem Schmunzeln zurück. "Das sehe ich", sagte er. Das war das erste Mal, dass er sie so ansah, wie ein Mann eine Frau ansieht.

"Du verschwendest unsere Zeit." Der Mann mit der Narbe sprach zum ersten Mal, und noch bevor sie sich zu ihm umdrehen konnte, war er schon an ihrer Seite. Eine starke Hand ergriff ihren Arm und zog sie mit solcher Gewalt vom Sofa, dass sie fast mit ihm zusammenstiess, bevor sie sich abfangen konnte.

Ihr Herz setzte aus, als plötzlich ihr Gesicht nur wenige Zentimeter von seiner Brust entfernt war. Dann griff er nach ihrem Kiefer, richtete ihren Kopf auf und sie musste ihn ansehen. Diese Augen jagten ihr Schauer über den Rücken. Sie hatte noch nie zuvor so tiefschwarze Augen gesehen, in denen sie ihr eigenes Spiegelbild erkennen konnte.

Der feste Griff um ihren Kiefer lockerte sich, dennoch war sie zu geschockt, um sich zurückzuziehen. War es die magnetische Anziehungskraft seiner Augen, die sie festhielt?

"Nun sag mir, Engel. Was bist du?" Seine Stimme war tief und dunkel, wie seine Augen und etwas rau, als wäre er gerade aus dem Schlaf erwacht.

"Sag es mir", drängte er.

Sie fühlte sich wieder seltsam gefangen von seinem Blick. Sie konnte sich nicht befreien. "Ich bin ein Mensch", antwortete sie dieses Mal, als ob das die Frage gewesen wäre, die er gestellt hatte.

Er kniff ungläubig die Augen zusammen.

"Rayven, lass sie los", hörte sie eine ferne Stimme sagen, doch Lord Rayven ließ nicht los. Stattdessen zog er sie näher zu sich heran.

"Du wirst vergessen, dass wir je gesprochen haben. Setz dich wieder hin und fahre fort, mit dem König zu sprechen", sagte er.

Seine Hände ließen von ihr ab, und sie tat, wie befohlen.

„Angelika?"

„Ja, Eure Majestät." Sie zuckte zusammen, als wäre sie in Gedanken verloren oder aus einem Traum erwacht. Sie war verwirrt.

Der König lächelte sie an. Er hatte wohl etwas gesagt, das sie nicht mitbekommen hatte, und sie biss verlegen ihre Lippen zusammen.

"Sollen wir jetzt zu Abend essen?" fragte er.

Er stand auf und reichte ihr seine Hand. Angelika nahm seine Hand, und er führte sie aus dem Salon. Dieses Mal folgten die anderen zwei Männer ihnen nicht. Ihr Herz begann zu rasen. Würde jetzt alles Schreckliche passieren, was sie sich vorgestellt hatte?

Der König brachte sie in ein Speisezimmer. Angelika war erneut erleichtert, aber nur der Herr wusste, was danach passieren würde. Sie würde noch während des Abendessens dafür sorgen müssen, dass sein Interesse nachließ.

Das Speisezimmer war prachtvoll, und der hölzerne Esstisch erstreckte sich vom Eingang bis zum anderen Ende des Raums. Zwanzig oder dreißig Personen hätten hier speisen können. Mehrere Kerzenleuchter standen auf dem Tisch, und vor jedem Sitzplatz waren Teller, Gläser und Besteck arrangiert. Diener warteten bereits darauf, sie zu bedienen, als sie eintrafen.

Einer von ihnen zog einen Stuhl für sie zurück, und der König gab ihr ein Zeichen, sich zu setzen. Angelika nahm zögerlich vor dem König Platz. Normalerweise würde der König zuerst Platz nehmen, und dann alle anderen.Der König nahm Platz und das Abendessen wurde serviert. „Was isst Du am liebsten, Angelika?", fragte der König.

„Ich esse alles, was mir vorgesetzt wird, Eure Majestät", antwortete sie.

Sie wusste, dass er nach ihrem Lieblingsessen fragte, wollte jedoch höflich sein.

Doch dem König ging es nicht nur um ihr Lieblingessen. Er schien alles über sie erfahren zu wollen. Er fragte nach ihrer Kindheit, ihrer Mutter, ihrem Bruder, wie sie aufgewachsen war und was ihr Freude bereitete. Angelika antwortete auf jede seiner Fragen höflich.

Noch nie hatte sich ein Mann derart für sie interessiert. Es war schmeichelhaft, aber auch etwas beunruhigend. Keiner der Männer, die um sie geworben hatten, hatte sich bisher bemüht, viel über sie in Erfahrung zu bringen.

Nach der langen Unterhaltung beim Abendessen führte er sie auf eine Tour durch das Schloss. Jedes Mal, wenn sie an einer Tür vorbeigingen, setzte Angels Herz aus.

Angelika hegte keine Abneigung gegen den König. Er war zuvorkommend und charmant, jung und sogar gutaussehend, aber er war eben auch König. Sie schätzte ihre Freiheit zu sehr, um den Rest ihres Lebens in einem Schloss eingesperrt zu sein. Was, wenn dies ein Fehler war? Was, wenn dies ihre Chance war?

Der König schien einen fortschrittlichen Gedanken zu hegen, vielleicht würde er ihr ihre Freiheit belassen.

Als sie zu ihm hinüberblickte und sich vorstellte, ihr Leben mit ihm zu teilen, die Vorstellung, ihn zu mögen, schien es nicht so unmöglich. Er war sympathisch und sie musste ihn nicht lieben. In der Ehe ging es für eine Frau ums Überleben.

Beim Klang von Musik und Stimmengewirr wusste Angelika, dass sie sich dem Festsaal näherten.

Der König hielt inne und wandte sich ihr zu. „Ich entlasse Dich nun", sagte er. „Ich weiß, Du sehnst Dich danach, mir zu entkommen."

Angelika öffnete überrascht den Mund, wusste jedoch nicht, was sie sagen sollte. Sie konnte nicht einfach widersprechen, denn das hätte bedeutet, ihn der Lüge zu bezichtigen. „Ich habe Eure Gesellschaft geschätzt, Eure Majestät. Es war mir eine Ehre und ein Vergnügen, diesen Abend mit Ihnen zu verbringen."

Er lächelte über ihre begeisterte Antwort. „Das Vergnügen ist ganz auf meiner Seite", sagte er. „Gestattet mir, Euch zu begleiten."

Er reichte ihr die Hand und führte sie in den Saal. Angelika sah sich nach ihrem Vater und ihren Freunden um, sobald sie den Saal betrat. Alle ihre Freunde tanzten, und ihr Vater saß mit einigen Gästen zusammen. Der König überraschte sie, indem er sie bis zu dem Tisch begleitete, an dem ihr Vater saß. Alle erhoben sich überrascht von ihren Sitzen, als er sich näherte.

Angelika spürte die Blicke aller Anwesenden auf sich gerichtet. Der König hob ihre Hand, küsste ihre Fingerknöchel und ließ sie los. Angelika verneigte sich leicht und sah, wie Hilde sie beim Tanzen anblickte. Das würde zweifellos für Unstimmigkeiten zwischen ihnen sorgen.

"Your Majesty, ich hoffe, sie hat keine Unannehmlichkeiten bereitet", sagte ihr Vater und brachte Angelika erneut in Verlegenheit.

"Nein, sie war entzückend", erwiderte der König.

Alles, was er sagte, klang charmant und jeder am Tisch war bereits von ihm verzaubert.

Ihr Vater lächelte stolz, weil er wusste, dass die Menschen am Tisch den König gehört hatten. Nun würde er mit ihr angeben, was er tat, sobald der König wieder auf seinem Thron Platz genommen hatte. Angelika warf ihm ab und zu Blicke zu, während ihr Vater weiter prahlte. Sie versuchte sich erneut vorzustellen, mit ihm zusammen zu sein, sich zu überzeugen, dass es gar nicht so schlecht wäre an seiner Seite zu sein.

Als sie ihn anstarrte, schaute er plötzlich in ihre Richtung und ihre Blicke trafen sich. Er lächelte sie sanft an, ein Lächeln, das ihn harmlos erscheinen ließ. Angelika dachte, dass es vielleicht doch nicht so schlecht wäre, mit ihm zusammen zu sein.