Gekreuzte Drähte

Bevor Elia am nächsten Morgen die Augen öffnete, kuschelte sie sich warm und bequem in die Felle und redete sich ein, dass alles nur ein Traum gewesen sei. Aber der wilde Geruch dieses Ortes konnte nicht ihrer Einbildung entsprungen sein.

Und leider, als sie sich in Reths Schlafzimmer aufrichtete, war er nirgends zu sehen. Ihre Schultern fielen enttäuscht herab.

Die vergangene Nacht war sie mit einem gebrochenen Herzen eingeschlafen. Er hatte gesagt, dass sie füreinander bestimmt seien. Und sie hatte es auch so gefühlt - was verrückt war! Aber sie hatte ihm jedes erdenkliche Signal gegeben – sie hatte ihn berührt, ihn gebeten zu bleiben, seinen Mund, seine Brust angestarrt und ihn gestreichelt... doch er stand nur da. Oder kniete eher vor ihr.

Da wurde ihr klar: Er muss sie wie ein Kind sehen. Sie war im Vergleich zu diesen Menschen so schwach, ihre Sinne stumpfer. So viel weniger... roh. Selbst als sie ihre Stimme gefunden und jene Frau herausgefordert hatte, hatte er sie aus der Menge tragen müssen, da sie erschöpft war.

Für ihn, für diese Leute, die Rituale praktizieren, bei denen sie einander töten und den Tod als Ehre ansehen, musste sie unglaublich naiv und schüchtern wirken. Wie ein Baby.

Als er sie so lange angeblickt und so sanft berührt hatte, hatte sie gedacht, er begehre sie. Doch dann... nichts. Kein Wunder, dass kein echter Mann mit einem Kind schlafen wollte.

Ihre Wangen glühten, als sie an die Berührung und das Anschmiegen an ihn im Rauch der Vorherigen Nacht dachte. Was hatte sie sich nur dabei gedacht!

Am liebsten hätte sie sich in den Fellen versteckt und nie wieder mit jemandem auf Anima gesprochen. Doch sie wusste, dass das keine Lösung war.

Nein. Wenn sie wollte, dass Reth sie als Frau sah, musste sie auch anfangen, sich entsprechend zu verhalten - auf die Weise, wie die Anima eine Frau definierten.

Der Gedanke daran war ihr unangenehm, aber anstatt sich auf mögliche unliebsame Konsequenzen zu konzentrieren oder zu überlegen, wen sie vielleicht töten müsste, bevor ihr Mann schlafen wollte, zog sie es vor, erst einmal aus dem Bett zu steigen.

Kurz darauf atmete sie erleichtert auf, als sie panisch im Zimmer nach etwas zum Anziehen suchte und einen Stapel Kleidung am Fußende ihres Bettes fand. Sie breitete sie aus und fand eine Lederrüstung, ein loses, helles Hemd und eine lange Weste – ähnlich der von Reth, aber ohne Pelzkragen – sowie Socken und ein Paar stabile Stiefel.

Wenige Minuten später hatte sie das Badezimmer der Felssuite gefunden und verließ den leeren Saal allein.

Da niemand da war, keine Uhren zu sehen waren und sie keine andere Wahl hatte, ging sie durch die Tür hinaus, um sich dem neuen Tag zu stellen - und um herauszufinden, wie sie diesem als Erwachsene begegnen könnte.

*****

Die Wachen draußen brachten sie zu dem, was sie Markt nannten - ein großer Außenbereich, in dem hunderte Menschen an Tischen saßen oder standen. Zwischen ihnen schlängelten sich Diener mit Tellern voller saftiger Früchte, dünner Fleischscheiben und offensichtlich frisch gebackenen Broten hindurch, und der Duft war himmlisch! Elias Magen knurrte.

Faryth, der Wächter, der gesagt hatte, er würde sie zu Reth bringen, lachte. "Vielleicht bist du ja doch eine Leonine!"

Sie versuchte zu lächeln, aber plötzlich fiel ihr auf, wie die Menschen sie anstarrten, mit ihren Freunden sprachen und ihrem Weg durch den Markt verfolgten. Sie wollte im Dreck unter ihren Füßen verschwinden. Ihre Haut fühlte sich zu eng an. Doch während ihres Weges konnte sie die erhöhte Essecke am anderen Ende des Marktes erkennen und Reth in der Mitte des Tisches darauf. Seine Augen folgten ihr gleichermaßen - jedoch ohne das Urteil oder die Missbilligung der anderen.

Sie hätte gewünscht, dass ihre erste Begegnung nach der letzten Nacht nicht öffentlich sein müsste. Doch bald saß sie neben ihm auf den Stufen.

Reth war im goldenen Morgenlicht beeindruckend - seine Haut schimmerte wie brünierter Bronze. Strähnen seines Haares lösten sich aus dem Leder im Nacken, während er sie durchdringend anschaute. Seine Augen waren so leuchtend, dass sie golden aussahen, als er ihre Hand nahm, sich darüber beugte und ihren Blick nicht losließ, was ihr Herz schneller schlagen ließ. Doch bevor sie mehr als nur "Guten Morgen" sagen konnte, drehte er sie zu der Frau auf ihrer anderen Seite. "Elia, das ist Candace, eine unserer besten Weberinnen."

Überrumpelt brauchte sie einen Moment, um zu realisieren, wer ihr gegenüberstand.

Es war die Frau, die ihr geholfen hatte, als sie nach dem Ritus erwacht war.