Kapitel 9-Zuflucht

Die Sonne war endlich wieder zu sehen, doch sie schien nur ein schwacher Trost in dieser düsteren Welt. Die Farben des Himmels waren verwässert, als hätten sie ihre Lebendigkeit verloren. Aber es war genug. Genug, um den Wahnsinn der Dunkelheit hinter sich zu lassen, um für einen Moment Luft zu holen, die atembar war, auch wenn der Geschmack der Luft noch immer faul und ätzend auf seiner Zunge lag.

„Wo sind wir?" fragte die Frau neben ihm, ihre Stimme war brüchig, fast wie ein Hauch des Winds. Ihre Augen suchten nach einem sicheren Ort, nach einem Ausweg aus diesem Albtraum, doch sie wusste genauso gut wie er, dass der wahre Kampf erst begonnen hatte.

„Ich weiß es nicht", antwortete 277, der sich immer noch unsicher war, ob sie wirklich aus dem Gebäude entkommen waren oder nur einen weiteren Abschnitt eines endlosen Labyrinths betreten hatten. „Aber wir müssen weiter. Wir dürfen nicht aufhören."

Er blickte zu der Frau, deren Haut so blass war, dass sie fast mit der grauen Landschaft verschmolz. Ihre Augen, erschöpft und voller Angst, begegneten seinem Blick. „Du… du hast es wirklich geschafft, zu kämpfen", sagte sie, ihre Stimme zitterte. „Du bist ein Kämpfer. Warum hast du mich nicht einfach zurückgelassen?"

Er zuckte mit den Schultern. „Weil du nicht der Feind bist. Wir sind alle hier, um zu überleben."

Der Dämon in ihm schlich in den dunklen Ecken seines Bewusstseins, eine flüsternde Präsenz, die nie wirklich verschwand. Es war, als ob seine Worte sich in 277s Gedanken sanken, als würde der Dämon die Dunkelheit zwischen den beiden füllen.

„Warum kümmerst du dich um sie?", zischte die dunkle Stimme in seinem Kopf. „Du weißt, wie das Spiel läuft. Die Schwachen überleben nicht."

277 hielt inne, als die Worte des Dämonen wie kaltes Eisen in seinem Kopf steckten. Er wusste, dass der Dämon recht hatte – der einzige Weg, wirklich zu überleben, war es, keinen Schwachen zu verschonen. Doch er konnte nicht – er wollte nicht.

„Halt den Mund", brüllte er innerlich, während er sich zurück auf den Weg konzentrierte. „Ich lasse mich nicht von dir kontrollieren."

Der Dämon lachte nur. „Noch nicht. Aber du wirst es."

Sie fanden ein kleines Versteck am Rande des verlassenen Gebäudes, das ihnen zumindest einen kurzen Moment der Ruhe verschaffte. Es war kaum mehr als ein überdachter Abstellraum, aber es war besser als nichts. Es gab keine Garantie, dass sie sicher waren, doch in diesem Moment war es alles, was sie hatten.

„Wie heißt du?", fragte 277 die Frau schließlich. Ihre Augen waren rot und leer, doch sie war eine der wenigen, die noch menschlich wirkte. Die anderen hatten sich längst verwandelt, von den Experimenten, die der Wahnsinnige in Gang gesetzt hatte.

„Mara", flüsterte sie.

„Mara", wiederholte er leise und nickte, als wollte er sich diesen Namen einprägen. Der Dämon lachte erneut, ein raues, keuchendes Geräusch.

„Mara… Wie hübsch", spottete der Dämon in ihm. „Aber was ist der Wert eines Namens in dieser Welt, wenn keiner mehr lebt, um ihn zu hören?"

„Du hast recht, Dämon", murmelte 277, während er sich vom Dämon nicht beirren ließ. „Aber das hier ist das, was uns noch Mensch macht. Das, was wir noch haben."

Er zwang sich, den Gedanken zu verdrängen und sich auf das zu konzentrieren, was jetzt zählte – die Frage, wie sie überleben konnten.

„Du solltest schlafen", sagte er zu Mara, obwohl es auch für ihn selbst keine Option war. Schlaf war Luxus in einer Welt, die in Flammen brannte. Doch Mara war erschöpft, ihre Augen fielen fast von selbst zu. Sie schlich sich in eine Ecke und zog sich in sich selbst zurück, um zu ruhen.

Doch auch 277 fand keine Ruhe. Die Gedanken des Dämonen hielten ihn wach.

„Was wird es dich kosten, dich von ihr abzulenken?", flüsterte die dunkle Stimme in seinem Kopf. „Du weißt, dass sie nur eine Last ist. Ein weiteres Hindernis."

Die Worte des Dämonen waren wie Gift in seinen Ohren, und 277 ballte die Fäuste. Aber er gab nicht nach. Nicht jetzt. Nicht in diesem Moment.

„Du wirst sie irgendwann opfern, um zu überleben", zischte der Dämon. „Es wird keine andere Wahl geben."

In der Dunkelheit, umgeben von den brüchigen Mauern des Verstecks, spürte 277, wie die Dunkelheit selbst sich mit ihm verband, wie der Dämon in ihm lauerte und auf den richtigen Moment wartete, um seinen Einfluss auszuweiten.

„Komm nicht zu nahe", murmelte er. „Ich weiß, wie du spielst."

Der Dämon lachte leise. „Du bist noch nicht bereit. Aber du wirst es irgendwann sein."

Es war der Anfang von etwas, das 277 tief im Inneren wusste, dass er niemals ganz entkommen konnte. Der Dämon war ein Teil von ihm – ein finsterer, unaufhaltsamer Teil, der immer auf der Lauer lag.

Und doch – er konnte kämpfen.

Er musste.

Das Überleben war das Einzige, was zählte.