Kapitel 18 – Blut und Schatten

Der Schütze hatte gesprochen.

Aemon und Mara tauschten einen schnellen Blick. Die Nacht war nicht ihr Verbündeter. Sie mussten eine Entscheidung treffen – kämpfen oder vertrauen.

„Ich traue dem nicht", flüsterte Mara und zog ihr Messer fester. Ihr Griff war angespannt, die Knöchel weiß.

Aemon betrachtete den reglosen Körper des Mutanten. Der Pfeil ragte tief aus dessen Brust, dunkles Blut sickerte auf den Asphalt. Ein sauberer Treffer – das Werk eines Profis.

Er warf einen Blick über den Dachrand. Im fahlen Mondlicht erkannte er die Silhouette eines Mannes. Hochgewachsen, mit einer zusammengerollten Kapuze über dem Gesicht. Ein zweiter Pfeil lag bereits auf der Sehne seiner Armbrust.

„Noch zehn Sekunden", rief die Stimme von unten. Ruhig. Gelassen.

Aemon wusste, dass er keine Wahl hatte.

„Wir gehen runter", sagte er knapp.

Mara zögerte, doch dann nickte sie. „Aber wenn er uns töten will, reiße ich ihm vorher die Kehle auf."

Aemon unterdrückte ein Lächeln. Sie war so entschlossen. So lebendig.

Sie kletterten über die rostige Feuerleiter hinab. Jeder Schritt knarrte, der Wind peitschte gegen die kalten Metallstangen. Als sie den Boden erreichten, hob Aemon langsam die Hände.

„Wir sind nicht deine Feinde", sagte er ruhig.

Der Fremde trat aus dem Schatten. Sein Gesicht war von einem Tuch verdeckt, nur seine dunklen Augen sichtbar. Eine seltsame Kälte lag darin.

„Vielleicht nicht", sagte er. „Aber ich kenne euresgleichen."

Aemon spürte, wie sich etwas in ihm regte. Die Worte des Mannes … sie waren zu gezielt.

„Und was genau soll das heißen?" fragte Mara scharf.

Der Fremde trat näher. Seine Statur war kräftig, sein Mantel abgenutzt. Doch was Aemon wirklich ins Auge fiel, war das Tattoo auf seinem Arm. Eine Nummer.

Eine verdammte Nummer.

„Du warst auch einer von ihnen", sagte Aemon leise.

Der Mann erstarrte. Dann nickte er langsam.

„Wir alle waren das", sagte er.

Stille.

Der Wind zerrte an den Ruinen, irgendwo in der Ferne erklang das leise Kreischen einer Kreatur. Doch für diesen Moment standen sie nur da – drei Überlebende, verbunden durch denselben Albtraum.

„Wer bist du?" fragte Mara schließlich.

Der Fremde lockerte die Schultern. „Ihr könnt mich Reeve nennen."

Aemon musterte ihn weiterhin misstrauisch. „Und warum hast du uns geholfen?"

Reeve zuckte mit den Schultern. „Weil ich noch einen Funken Menschlichkeit in mir habe. Und weil ich weiß, was ihr seid."

Sein Blick blieb an Aemon hängen.

„Was du bist."

Ein unangenehmes Schweigen folgte. Mara wich ein Stück zurück, ihr Messer noch immer griffbereit.

„Du bist noch nicht fertig, oder?" fragte Reeve.

Aemon erstarrte. „Was?"

Reeve trat einen Schritt näher. „Ich sehe es in deinen Augen. Du bist noch nicht … vollständig."

Mara runzelte die Stirn. „Was zur Hölle meinst du damit?"

Reeve musterte Aemon von oben bis unten. Dann, ohne Vorwarnung, schoss seine Hand nach vorne.

Aemon reagierte sofort, wich aus, griff nach Reeves Handgelenk. Ein Ruck, ein gedrehter Arm – und plötzlich standen sie Brust an Brust, zwei Kämpfer, jeder bereit zu töten.

Doch Reeve lächelte.

„Genau das meine ich."

Er ließ los. Aemon tat es ihm gleich.

„Du kämpfst zu präzise", sagte Reeve ruhig. „Zu instinktiv. Zu … perfekt."

Aemon schluckte. „Was willst du damit sagen?"

Reeve sah ihn mit unergründlichen Augen an. „Ich sage, dass du anders bist als sie. Als wir. Und dass das ein Problem sein könnte."

Mara trat zwischen sie. „Hör auf mit den Rätseln. Was ist mit ihm?"

Reeve schwieg einen Moment. Dann nahm er langsam sein Tuch vom Gesicht. Darunter kamen Narben zum Vorschein – tiefe, vernarbte Linien, die sich über seine Wange zogen.

„Sie haben mich fast gebrochen", sagte er leise. „Aber ich bin entkommen. Ich habe gesehen, was sie getan haben. Und ich weiß … dass nicht alle gleich waren."

Sein Blick fiel wieder auf Aemon.

„Manche waren wichtiger."

Aemons Hände ballten sich zu Fäusten.

Er erinnerte sich an nichts aus der Zeit vor seiner Flucht. Nur Bruchstücke. Schmerz. Dunkelheit. Das Gefühl, eine Marionette zu sein.

War er wirklich nur einer von vielen? Oder hatte er eine andere Rolle gespielt?

„Warum sollten wir dir trauen?" fragte Mara.

Reeve steckte seine Armbrust weg. „Ihr habt keine Wahl."

Er deutete auf die Ruinen hinter ihnen. „Wir sind hier nicht allein."

Aemon spähte durch die Dunkelheit. Und dann sah er es.

Bewegung.

Schatten huschten zwischen den Gebäuden.

„Jäger?" flüsterte Mara.

Reeve schüttelte den Kopf. „Schlimmer."

Aemon konnte die Umrisse jetzt deutlicher erkennen. Menschen. Aber keine normalen. Ihre Körper zuckten unnatürlich, manche liefen auf allen Vieren, andere schwankten wie zerbrochene Marionetten.

Ihre Gesichter waren leer. Tot. Doch sie waren lebendig.

„Verdammt", flüsterte Mara.

Reeve zog seinen Bogen. „Wir müssen verschwinden. Jetzt."

Aemon nickte. Seine Gedanken rasten, doch er wusste, dass das hier nicht der Moment für Antworten war.

Sie hatten keine Wahl.

Sie rannten.