Die Nacht war gnadenlos.
Aemon, Mara und Reeve hasteten durch die dunklen Gassen, während die verzerrten Gestalten in der Ferne auftauchten. Diese Dinge – was auch immer sie waren – bewegten sich nicht wie Mutanten, nicht wie Jäger. Sie waren anders. Geistlos, aber zielgerichtet.
„Wir brauchen einen Plan!", rief Mara.
Aemon biss die Zähne zusammen. Pläne waren schwierig, wenn alles um einen herum in den Wahnsinn abrutschte. Aber sie hatte recht – sinnlos rennen würde sie nicht retten.
„Dort vorne!", Reeve deutete auf ein halb eingestürztes Gebäude mit einem intakten Kellerabgang.
Ohne zu zögern sprinteten sie darauf zu. Die Kreaturen folgten.
Sie stürzten durch die Tür und schlugen sie hinter sich zu. Reeve warf sich gegen das Holz, während Aemon hastig eine kaputte Kommode dagegen schob.
Draußen erklangen Schritte. Zucken. Scharren.
Doch nach einigen Minuten – Stille.
„Sie sind … nicht aggressiv?", keuchte Mara.
Aemon zog die Waffe hoch. „Noch nicht."
Reeve presste sein Ohr an die Tür, lauschte. „Sie bewegen sich nicht weiter. Sie … warten?"
Mara öffnete ihren Rucksack, zog das Buch der Opfer heraus und blätterte fieberhaft.
„Es muss hier irgendwo stehen …", murmelte sie.
Aemon beobachtete sie. Ihre Finger glitten über die Seiten mit einer Selbstverständlichkeit, als wäre das Buch eine Landkarte, die nur sie lesen konnte.
„Hier!" Sie drehte das Buch zu ihnen.
Nummer 107 – Die Regungslosen.
Das Bild zeigte eine Gruppe von Menschen, deren Gesichter leer und ausdruckslos waren.
„Diese Versuchsobjekte zeigten kein bewusstes Denken. Ihre Körper blieben ohne erkennbaren Lebenswillen, bis sie einen bestimmten Reiz erhielten. Dieser Reiz kann akustischer Natur sein oder durch eine spezifische chemische Verbindung ausgelöst werden. Außerhalb dieser Impulse verharren sie in einem Ruhezustand."
Aemon runzelte die Stirn. „Also … eine Art Schläfer?"
Mara nickte. „Genau. Solange wir keinen Lärm machen oder … irgendwas, das sie triggert, bleiben sie passiv."
Reeve fluchte leise. „Und wenn wir aus Versehen den falschen Auslöser erwischen?"
Mara blätterte weiter. „Hier steht … dass die meisten dieser Mutationen in einem Stadium stecken geblieben sind. Sie sind nicht vollständig umgewandelt worden. Das könnte bedeuten, dass sie nicht so stark sind wie die anderen."
Aemon legte eine Hand auf ihre Schulter. „Das heißt, wir können sie umgehen."
Mara nickte. „Wenn wir wissen, was sie aktiviert."
Reeve seufzte. „Wir haben aber keine Ahnung, was das ist."
Mara zog ein Notizbuch aus ihrer Tasche und begann, sich etwas aufzuschreiben. Aemon erkannte den Ausdruck in ihrem Gesicht – ihr Verstand arbeitete auf Hochtouren.
„Ich werde es herausfinden."
Aemon starrte sie an. „Du willst sie untersuchen."
„Ja", sagte sie schlicht. „Wenn wir verstehen, wie sie funktionieren, können wir gegen sie kämpfen."
Reeve musterte sie mit neuer Anerkennung. „Du bist also nicht nur irgendeine Überlebende."
Mara sah ihn kühl an. „Ich bin Biologin. Und Wissen ist unsere einzige Waffe gegen das, was hier vor sich geht."
Aemon spürte einen Anflug von Respekt – und Sorge. Sie war klug, furchtlos. Aber dieses Wissen könnte sie auch in den Abgrund ziehen.
Wenn du zu tief in die Dunkelheit blickst, wird sie dich verschlingen.
Sein Dämon lachte in seinem Kopf.
„Lass sie spielen. Lass sie nach Antworten suchen. Du wirst sehen, was es bringt …"
Aemon ignorierte ihn.
„Also gut", sagte er schließlich. „Aber wir gehen es vorsichtig an."
Reeve trat vom Fenster zurück. „Wir müssen einen dieser Dinger erwischen. Einen, der … noch nicht aktiv ist."
Mara blätterte weiter. „Hier steht, dass sie auf Berührung reagieren, wenn es mit einem bestimmten elektrischen Impuls verbunden ist. Das könnte erklären, warum sie nur in bestimmten Momenten erwachen."
Aemon zog seine Fingerknöchel durch. „Das heißt, wir müssen es irgendwie schocken?"
„Im Grunde … ja."
Reeve schnaubte. „Das wird ein Spaß."
Aemon nickte langsam. Sie waren keine Jäger. Keine Wissenschaftler. Aber wenn das Buch ihnen wirklich half, dann war es mehr als nur eine Liste von Opfern – es war eine Anleitung zum Überleben.
Und in dieser Hölle war Wissen mächtiger als jede Waffe.
„Dann lasst uns eines dieser Dinger fangen."