Kapitel 20 – Die Jagd nach Wissen

Die stickige Luft im Keller lag schwer auf ihnen. Aemon, Mara und Reeve saßen auf dem kalten Boden, während Mara mit wachsamen Augen über das Buch der Opfer gebeugt war. Die schwache Lichtquelle – eine zerbrochene Taschenlampe – war kaum genug, um die vergilbten Seiten zu beleuchten, aber Mara ließ sich davon nicht abhalten.

„Hier ist es", murmelte sie und deutete auf einen bestimmten Eintrag.

Nummer 107 – Name: Geschwärzt

Ein gezeichnetes Bild zeigte eine Gruppe von vier Menschen mit leeren Gesichtern. Ihre Körper waren verdorrt, als wäre alles Leben aus ihnen gesogen worden.

Verhalten, Aussehen, Geisteszustand:

– Keine aggressiven Tendenzen ohne äußeren Reiz

– Bleiben in einer Art Standby-Modus

– Reagieren nur auf spezifische Frequenzen und elektrische Impulse

– Zucken unkontrolliert, wenn sie aktiviert werden

Mutation noch nicht abgeschlossen.

Mutationsstärke: 2

Aemon betrachtete die Skizze. Die Zeichnungen waren detailliert, fast zu genau. Die Adern der Kreaturen wirkten wie verdorrte Wurzeln, die sich unter der Haut entlangzogen.

„Also gut", sagte er und rieb sich nachdenklich die Schläfe. „Wir wissen jetzt, dass sie nicht direkt gefährlich sind. Zumindest nicht, solange sie keinen Reiz bekommen."

Reeve kniff die Augen zusammen. „Das bedeutet aber auch, dass wir nicht wissen, welcher Reiz sie genau auslöst. Wenn wir den falschen Knopf drücken, haben wir ein ernsthaftes Problem."

Mara blätterte durch die nächsten Seiten. „Hier steht, dass sie in einer Testumgebung verschiedenen Reizen ausgesetzt wurden – Geräusche, Lichtimpulse, Berührungen. Aber die Reaktionen waren nicht konsistent. Einige erwachten bei plötzlichem Lärm, andere erst nach mehreren Minuten konstanter Vibrationen."

Aemon seufzte. „Das heißt, wir brauchen einen lebenden Testgegenstand."

Mara nickte langsam. „Ja."

Reeve lachte trocken. „Ihr seid wahnsinnig. Ihr wollt ernsthaft einen von diesen Dingern fangen?"

„Wenn wir wissen, wie sie funktionieren, können wir sie umgehen oder sogar kontrollieren", erklärte Mara. „Ich bin nicht scharf darauf, mehr davon zu sehen, aber wenn wir verstehen, was sie auslöst, gewinnen wir einen entscheidenden Vorteil."

Aemon sah sie an. Ihr Gesicht war von Dreck verschmiert, ihre Augen von Müdigkeit umrahmt. Aber da war eine tiefe Entschlossenheit in ihrem Blick.

Er hatte keine andere Wahl, als ihr zu vertrauen.

Die Jagd begann in der Dämmerung.

Sie schlichen sich vorsichtig aus ihrem Versteck, zurück auf die zerstörten Straßen. Die Stadt lag in tiefem Schweigen. Nur das entfernte Kreischen der Jäger war hin und wieder zu hören.

„Da vorne", flüsterte Reeve und deutete auf eine offene Kreuzung.

Dort standen sie.

Vier Kreaturen, reglos in der Dunkelheit. Ihre Köpfe hingen schief, die Arme baumelten leblos an ihren Seiten. Ihre Augen waren offen, doch sie sahen nichts.

Mara zog das Buch hervor und verglich die Skizze mit der Szene vor ihnen. „Es passt … genau wie in den Aufzeichnungen."

Aemon schluckte. „Also gut. Wie fangen wir einen?"

Mara zog ein langes Drahtstück aus ihrer Tasche. „Elektrischer Impuls. Wenn sie auf Strom reagieren, könnte das reichen."

Aemon zog skeptisch eine Augenbraue hoch. „Und wenn es sie aufweckt?"

Mara sah ihn an. „Dann solltest du schneller sein als sie."

Er seufzte, nahm das Kabel und wickelte es vorsichtig um eine Metallstange. Dann näherte er sich der ersten Gestalt.

Jede Bewegung war angespannt, jeder Schritt ein Risiko. Die Kreaturen blieben leblos, keine Reaktion, keine Veränderung.

Aemon hockte sich nieder, schob das Kabel vorsichtig an die bloße Haut des Wesens.

Ein Funke sprang über.

Das Wesen zuckte.

Aemon wich zurück. Die Kreatur ruckte einmal, als würde ein Muskelkrampf durch ihren Körper fahren. Dann blieb sie still.

Mara beobachtete es genau. „Es … braucht mehr."

Aemon biss die Zähne zusammen, näherte sich erneut. Dieses Mal hielt er den Draht direkt gegen die nackte Haut und ließ den Stromfluss konstant laufen.

Die Kreatur schrie auf.

Ein markerschütternder Laut.

Die anderen Wesen ruckten. Ein schreckliches Zucken lief durch ihre Körper, und dann – sie bewegten sich.

Aemon stolperte nach hinten. „SCHEISSE!"

Reeve riss die Armbrust hoch, doch Mara schrie: „Nein! Wir brauchen es lebend!"

Das erste Wesen wankte, seine Hände zuckten in die Luft. Es reagierte, aber es war nicht aggressiv – noch nicht.

Mara blätterte fieberhaft im Buch. „Es ist genau wie beschrieben! Der Impuls hat es geweckt, aber es ist … unsicher!"

Aemon sprang auf, zog seine Waffe. „Sag mir, was ich tun soll, Mara, verdammt!"

Sie sah hoch. Ihr Blick war scharf. „Wir müssen es isolieren! Bringt es in den Keller!"

Reeve packte eine rostige Eisenkette vom Boden auf. „Du willst es ernsthaft einsperren?"

„Wenn wir es kontrollieren können, können wir die anderen kontrollieren!" Maras Stimme war voller Überzeugung.

Aemon zögerte nur eine Sekunde. Dann packte er das Wesen an den Schultern und stieß es nach hinten. Es taumelte, wehrte sich nicht, folgte einfach dem Druck.

Reeve zog die Kette um seine Arme, während Aemon es weiter vor sich her schob.

„Mach schnell! Die anderen wachen auf!"

Mara hastete voran, riss die Kellertür auf. Aemon und Reeve stießen das Wesen hinein und schmissen die Tür zu.

Stille.

Sie hielten den Atem an. Draußen bewegten sich die anderen noch langsam, ruckartig. Doch nach einigen Minuten … standen sie wieder still.

Mara sank auf die Knie. „Es hat funktioniert."

Reeve schüttelte den Kopf. „Wir sind bescheuert."

Aemon rieb sich die Stirn. „Jetzt sag mir bitte, dass du einen Plan hast, Mara."

Sie sah zur Kellertür. „Ich werde es untersuchen."

Reeve lachte bitter. „Und wenn es ausrastet?"

Mara sah ihn ruhig an. „Dann werde ich herausfinden, warum."

Aemon beobachtete sie einen Moment. In ihrem Gesicht lag keine Angst, nur Entschlossenheit.

Er wusste, dass das Buch ihr Schlüssel zum Überleben war.

Aber er wusste auch, dass Wissen eine gefährliche Waffe sein konnte.

Und manchmal war es tödlicher als jede Kreatur.