Kapitel 2 Der Ruf der Schatten

1. Wunden und Zweifel

Der Wind peitschte über die zerklüfteten Felsen des Bergplateaus, während Raito mit pochendem Kopf und schmerzenden Gliedern erwachte. Der Kampf gegen Kuro hatte ihn ausgelaugt. Seine Muskeln zitterten, sein Atem ging schwer. Blut klebte an seiner Stirn, getrocknet und kalt.

Sein Blick schweifte über den Himmel. Die Sterne waren verblasst, und die ersten Strahlen der Morgensonne tauchten das Tal von Kaizen in ein blasses Orange.

„Ich habe überlebt…"

Aber war es ein Sieg?

Kuro hätte ihn töten können – doch er hatte es nicht getan. Warum?

Noch bevor Raito eine Antwort finden konnte, erklangen schwere Schritte. Meister Genji trat aus dem Schatten, sein Blick streng wie immer.

„Du hast dich überschätzt", sagte der alte Krieger mit rauer Stimme.

Raito knirschte mit den Zähnen und stützte sich auf seine Hände. „Ich dachte, ich wäre bereit…"

„Denken reicht nicht. Du hast rohe Kraft, doch ohne Kontrolle bist du nichts weiter als ein wilder Sturm, der sich selbst zerstört."

Die Worte trafen ihn härter als Kuros Klinge.

„Und wie soll ich sie kontrollieren?" Raito ballte die Fäuste. „Kuro hat meine Schwäche gesehen. Ich muss stärker werden."

Genji musterte ihn lange. Dann wandte er sich ab. „Wenn du Antworten willst, dann geh und finde sie. Dein Weg beginnt jetzt."

2. Die Reise ins Ungewisse

Raito verließ das Dorf mit einer Mischung aus Wut und Entschlossenheit. Die Dorfbewohner beachteten ihn kaum – oder sie wollten ihn nicht beachten. Für sie war er immer noch der Junge mit der unkontrollierbaren Chakrai.

Seine Reise führte ihn in die Tiefen des Waldes von Shinsou, ein Ort, der für seine geheimnisvollen Kreaturen und verborgenen Schreine bekannt war. Die dichten Bäume warfen lange Schatten, und die Luft war erfüllt von den Lauten unbekannter Wesen.

Nach Stunden des Wanderns spürte er eine seltsame Präsenz.

Er blieb stehen.

„Du wirst beobachtet", flüsterte eine Stimme in seinem Kopf.

Sein Herz schlug schneller.

Ein Rascheln erklang in den Büschen. Dann, ohne Vorwarnung, sprang eine Gestalt aus den Schatten – blitzschnell, lautlos, tödlich.

3. Die Begegnung mit dem Silbernen Wanderer

Raito sprang zurück und riss instinktiv seine Chakrai hoch. Blaue Funken tanzten um seine Fingerspitzen, bereit, jeden Angriff zu kontern.

Doch die Gestalt hielt inne.

Ein Mann mit silbernen Augen und einer langen, zerschlissenen Robe stand vor ihm. Sein Haar war grau, aber sein Körper war kräftig, seine Haltung aufrecht. Er hatte etwas Unheimliches an sich, doch seine Augen wirkten… wissend.

„Interessant", murmelte er. „Du hast also wirklich überlebt."

Raito runzelte die Stirn. „Wer bist du?"

Der Fremde lächelte leicht. „Ein Suchender. So wie du."

Sein Name war Shiro. Er war kein gewöhnlicher Mann – er war ein ehemaliger Chakrai-Meister, einst ein Krieger des Kaiserreichs. Doch nun lebte er im Exil, versteckt in den Wäldern.

„Warum lebst du hier?" fragte Raito misstrauisch.

Shiro schwieg einen Moment, dann antwortete er ruhig: „Weil ich einen Fehler gemacht habe. Einen, den ich nie wiederholen werde."

Er bot Raito an, ihm beizubringen, was Genji nicht konnte – absolute Kontrolle über seine Chakrai.

Zögernd nahm Raito das Angebot an.

4. Das Training beginnt – und ein dunkles Geheimnis

Die nächsten Tage waren eine Tortur. Shiro war gnadenlos in seinem Training.

„Dein Problem ist nicht deine Kraft, sondern dein Geist", erklärte er. „Wenn du deine Chakrai nicht kontrollierst, wird sie dich kontrollieren."

Er ließ Raito stundenlang unter einem Wasserfall sitzen, meditieren, atmen. Jede Bewegung musste bewusst sein, jeder Gedanke fokussiert.

Raito hasste es.

Er wollte kämpfen, seine Macht entfesseln – nicht still herumsitzen.

„Geduld, Junge", sagte Shiro. „Wenn du deine Chakrai zu früh entfesselst, wirst du nie überleben."

Doch eines Nachts, als Raito in der Hütte meditierte, spürte er eine bekannte Präsenz.

Sein Herz raste.

Er trat nach draußen.

Dort, in der Dunkelheit, stand Kuro.

5. Die Rückkehr des Schattenkriegers

„Du hast also einen neuen Meister gefunden", sagte Kuro ruhig.

Seine schwarze Klinge hing an seiner Seite, aber er zog sie nicht.

„Was willst du?" fragte Raito misstrauisch.

Kuro musterte ihn lange. Dann sagte er etwas, das Raito eiskalt erwischte:

„Shiro lügt dich an."

Ein Schauder lief Raito über den Rücken.

„Er hat dir nicht erzählt, was er wirklich ist, oder?" Kuro trat näher. „Er war nicht nur ein Krieger des Kaiserreichs. Er war ihr Henker. Er hat unzählige Menschen abgeschlachtet, die sich gegen die Herrscher auflehnten."

Raitos Hände zitterten.

War das wahr?

Shiro trat aus der Hütte. Seine Augen waren ruhig – zu ruhig.

„Kuro, du solltest nicht hier sein."

„Ich sage nur die Wahrheit", erwiderte Kuro. Dann wandte er sich an Raito. „Du hast eine Wahl. Folge ihm – oder finde deinen eigenen Weg."

Dann verschwand er in der Nacht.

Raito stand zwischen den beiden Männern.

Zwei Wege. Zwei Wahrheiten.

Welche war real?

6. Der Test der Wahrheit

Am nächsten Morgen stellte Raito Shiro zur Rede.

„Ist es wahr?" fragte er scharf. „Warst du wirklich ein Henker?"

Shiro sah ihm direkt in die Augen. „Ja."

Raito stockte.

Shiro fuhr fort: „Ich tat, was ich tun musste. Doch ich bereue es."

„Warum hast du mir das nicht gesagt?"

„Weil die Wahrheit nicht immer hilft. Manchmal zerstört sie."

Ein Teil von Raito wollte ihm glauben – doch Zweifel nagten an ihm.

Er wusste nur eines:

Er konnte niemandem mehr blind vertrauen.

Nicht Genji. Nicht Kuro. Nicht Shiro.

Nur sich selbst.

7. Der eigene Weg

In dieser Nacht verließ Raito die Hütte.

Er wusste nicht genau, wohin er gehen würde.

Aber er wusste eins:

Seine Reise hatte gerade erst begonnen.

Und wenn er wirklich stark werden wollte, musste er seine eigenen Antworten finden – mit seinen eigenen Händen.

Doch in den Schatten beobachtete ihn jemand.

Jemand, der sein Schicksal bereits kannte.

Und sein nächster Kampf würde nicht so einfach sein…