Kapitel 3 Der silberne Wanderer

3. Der Silberne Wanderer

Die Schatten des Waldes von Shinsou bewegten sich lautlos, als der Wind durch die uralten Bäume strich. Die Sonne war bereits untergegangen, doch der Himmel glühte noch in dunklem Rot. Der Boden war feucht, der Geruch von Moos und Erde lag in der Luft.

Raito stand regungslos da, seine Muskeln angespannt, sein Blick fixierte den Fremden mit den silbernen Augen.

„Interessant…" Die Stimme des Mannes war ruhig, fast amüsiert. „Du hast überlebt."

Raito spürte, wie seine Chakrai unkontrolliert um seine Fingerspitzen flackerte. Sein Herz raste. Der Mann wirkte nicht feindselig, doch seine Aura war erdrückend – wie eine verborgene Klinge, die jederzeit zuschlagen konnte.

„Wer bist du?" fragte Raito scharf.

Der Mann trat langsam einen Schritt aus den Schatten. Seine Robe war zerschlissen, aber sein Gang war aufrecht, voller Ruhe und Selbstvertrauen. „Ein Suchender. Genau wie du."

Raito ließ sich nicht täuschen. Dieser Mann war kein gewöhnlicher Wanderer. Seine Haltung, seine Augen – sie sprachen von jahrelanger Erfahrung. Von Kämpfen, die andere längst gebrochen hätten.

„Mein Name ist Shiro."

Das Wort hallte in Raitos Kopf nach. Der Name kam ihm bekannt vor. Eine Legende aus der Vergangenheit? Ein gefallener Krieger?

„Warum lebst du hier?" fragte Raito misstrauisch.

Shiro blieb für einen Moment still. Dann, mit einer Stimme, die schwer von Erinnerungen war, sagte er: „Weil ich einen Fehler gemacht habe. Einen, den ich nie wiederholen werde."

Etwas an seinen Worten ließ Raito frösteln.

Doch bevor er weiterfragen konnte, fuhr Shiro fort: „Ich habe deine Chakrai gespürt. Roh, ungeformt, wie ein wütendes Feuer, das alles um sich herum verschlingt."

Raito ballte die Fäuste. „Ich brauche keine Belehrung."

Shiro schüttelte leicht den Kopf. „Du hast Kraft. Aber keine Kontrolle. Ohne sie wirst du enden wie viele vor dir – oder schlimmer."

Raito biss die Zähne zusammen. Die Erinnerungen an Kuro brannten in ihm. Die Niederlage. Die Ohnmacht.

Er durfte nie wieder so schwach sein.

„Gut", sagte er schließlich. „Zeig mir, was du kannst."

Ein leises Lächeln huschte über Shiros Gesicht. „Dann fangen wir an."

Das erste Training – Die Last der Stille

Shiro führte Raito tief in den Wald, zu einem verborgenen Ort. Eine Lichtung mit einem kleinen Wasserfall, das Wasser schimmerte kristallklar. Der Boden war weich, mit Moos bedeckt, und das einzige Geräusch war das Rauschen des Wassers.

„Setz dich", befahl Shiro.

Raito runzelte die Stirn. „Ich will kämpfen, nicht meditieren."

„Dann bist du noch nicht bereit zu kämpfen."

Raito knirschte mit den Zähnen, setzte sich aber widerwillig hin.

„Dein Problem ist nicht deine Kraft, sondern dein Geist", erklärte Shiro. „Wenn du deine Chakrai nicht kontrollierst, wird sie dich kontrollieren."

Raito schwieg.

„Du wirst hier sitzen, atmen und fühlen. Stundenlang."

„Das ist lächerlich."

Shiro verschränkte die Arme. „Dann geh. Bleib schwach."

Raito ballte die Fäuste. Sein Stolz ließ es nicht zu, einfach aufzugeben. Also blieb er sitzen.

Die ersten Minuten waren leicht. Die ersten Stunden nicht mehr. Sein Körper wurde taub, seine Gedanken wirbelten durcheinander. Doch Shiro ließ ihn nicht abbrechen.

Als die Nacht hereinbrach, war Raito völlig erschöpft. Seine Chakrai war ruhiger, aber sein Kopf pochte vor Anstrengung.

Shiro betrachtete ihn zufrieden. „Das war nur der Anfang."

Die Prüfung der Schatten

In den nächsten Tagen quälte Shiro ihn mit immer härteren Übungen. Raito musste unter dem Wasserfall meditieren, bis seine Chakrai aufhörte, sich unkontrolliert zu entladen. Er musste mit verbundenen Augen kämpfen, um sich auf seine Instinkte zu verlassen. Jede Nacht fiel er erschöpft in einen traumlosen Schlaf.

Doch dann, in der fünften Nacht, änderte sich alles.

Er spürte es zuerst in seinen Knochen – eine Präsenz. Nicht Shiro. Nicht eine der Kreaturen des Waldes. Etwas anderes.

Ein Schatten bewegte sich am Rand der Lichtung.

Raito stand sofort auf, seine Chakrai zuckte um seine Hände. „Wer ist da?"

Dann trat jemand aus der Dunkelheit.

Kuro.

Seine schwarze Klinge spiegelte das Mondlicht wider, seine Augen waren ruhig, aber wachsam.

„Du hast also einen neuen Meister gefunden."

Raito spannte sich an. „Was willst du?"

Kuro musterte ihn lange, dann sagte er mit unerschütterlicher Stimme:

„Shiro lügt dich an."

Die Wahrheit, die alles verändert

Raitos Herz setzte einen Schlag aus. „Was redest du da?"

„Er hat dir nicht erzählt, wer er wirklich ist, oder?" Kuro trat näher. „Er war nicht nur ein Krieger des Kaiserreichs. Er war ihr Henker."

Raitos Hände zitterten.

„Er hat unzählige Menschen abgeschlachtet, die sich gegen das Kaiserreich stellten."

Shiro trat aus der Hütte, seine Augen waren ruhig – zu ruhig.

„Kuro, du solltest nicht hier sein."

„Ich sage nur die Wahrheit."

Raito wandte sich an Shiro. „Ist das wahr?"

Ein Moment des Schweigens. Dann nickte Shiro langsam. „Ja."

Raito spürte, wie sich seine Brust zusammenzog.

„Warum hast du es mir nicht gesagt?"

Shiros Blick war unergründlich. „Weil die Wahrheit nicht immer hilft. Manchmal zerstört sie."

„Und was, wenn ich dir nicht mehr vertraue?" Raitos Stimme war kalt.

Shiro schwieg einen Moment. Dann sagte er ruhig:

„Dann musst du deine eigene Wahrheit finden."

Kuro schüttelte den Kopf. „Komm mit mir, Raito. Ich kann dir zeigen, was er dir verheimlicht."

Raito stand zwischen den beiden Männern.

Zwei Wege. Zwei Wahrheiten.

Welche war real?

Dann, aus dem Schatten, blitzte etwas auf.

Eine dritte Präsenz war da.

Und dieses Mal kam sie nicht, um zu reden.

Ein Dolch schoss lautlos durch die Luft.

Direkt auf Raitos Herz.

Fortsetzung folgt…