Alter Mann 2

"Warum hast du das getan?"

Die Frage des alten Mannes überraschte mich. Ich hielt mitten im Bissen inne, mein Verstand raste, um seine Bedeutung zu verstehen. Als er meine Verwirrung bemerkte, präzisierte er seine Frage, seine Stimme sanft, doch forschend.

"Warum hast du mir dort geholfen, junger Mann?"

Ich schluckte schwer, plötzlich bewusst, wie intensiv sein Blick auf mir ruhte. Die Frage schien einfach, doch sie verlangte mehr als eine einfache Antwort. Ich blickte auf mein Essen hinab, meine Gedanken schweiften zurück zu der Szene von vorhin, zu den Gesichtern der Schläger und der Wut, die in mir aufgestiegen war.

Warum hatte ich ihm geholfen?

"Ich weiß nicht..." begann ich, meine Stimme unsicher. "Ich denke, ich konnte es einfach nicht ertragen, wie sie dich so schikaniert haben."

Der alte Mann betrachtete mich weiterhin, seine Augen voller Dankbarkeit und Neugier. "Aber warum? Du hättest dich nicht einmischen müssen. Du hättest wie so viele andere einfach weitergehen können."

Seine Worte hallten in meinem Kopf wider und weckten Erinnerungen an meine eigenen Kämpfe, an Strouds Spott und die unzähligen Male, in denen ich mich machtlos gefühlt hatte. Ich holte tief Luft und versuchte, meine Gefühle zu ordnen.

"Vielleicht... weil ich weiß, wie sich das anfühlt," gab ich zu, meine Stimme kaum mehr als ein Flüstern. "Ich weiß, wie es ist, wenn man gehänselt wird, wenn man als schwach und hilflos angesehen wird. Und ich habe es in dem Moment einfach gehasst."

Der alte Mann nickte langsam, sein Gesichtsausdruck wurde weicher. "Du hast also aus Empathie gehandelt?"

Ich dachte einen Moment darüber nach. Empathie... war es das? Vielleicht war es ein Teil davon, aber da war mehr. Ich spürte eine tief sitzende Wut, den Wunsch, gegen die Ungerechtigkeit anzukämpfen.

"Ich glaube, es war mehr als nur Empathie," sagte ich, meine Stimme wurde stärker. "Es war auch Wut. Wut darüber, jemanden so leiden zu sehen, wie ich es getan habe. Wut auf diejenigen, die glauben, sie könnten sich einfach nehmen, was sie wollen, weil sie stärker sind."

Der Blick des alten Mannes wurde nachdenklich. "Du erinnerst mich an jemanden, den ich einmal kannte," sagte er leise. "Jemanden, der auch keine Ungerechtigkeit ertragen konnte."

Ich sah ihn neugierig an. "Wer war das?"

"Vor langer Zeit hatte ich einen Freund. Er war wie du – mutig, leidenschaftlich und nicht bereit, angesichts von Ungerechtigkeit zurückzuweichen. Er setzte sich für die Schwachen ein und kämpfte gegen diejenigen, die ihre Macht missbrauchten." Die Augen des alten Mannes wurden distanziert, verloren in Erinnerungen. "Aber die Welt war nicht freundlich zu ihm. Er stand vor vielen Schwierigkeiten, und sein Weg war kein leichter."

Ich hörte aufmerksam zu und fühlte eine seltsame Verbindung zu der Geschichte. "Was ist mit ihm passiert?"

"Er wurde ein großer Krieger, respektiert und gefürchtet von vielen. Aber am Ende kostete ihn sein Wunsch, andere zu beschützen, teuer. Er machte sich viele Feinde und verlor viel auf seinem Weg. Selbst die Menschen, von denen er dachte, sie stünden ihm nahe, erwiesen sich als Fremde."

Die Stimme des alten Mannes wurde leiser, gefärbt von einer Traurigkeit, die das Gewicht seiner Worte widerspiegelte. "Er tat alles für jeden, ohne zwischen Familie oder Freunden zu unterscheiden. Er behandelte alle Menschen gleich und beurteilte sie nach denselben Maßstäben. Aber vielleicht hat er sich gerade deshalb von denen entfernt, die ihm am nächsten standen."

Ich konnte den Schmerz in den Augen des alten Mannes sehen, die Reue, die aus jedem Wort zu sickern schien. Er fuhr fort: "Er glaubte an Fairness und Gerechtigkeit, aber dabei übersah er die einzigartigen Bindungen und Verantwortlichkeiten, die mit engen Beziehungen einhergehen. Seine Unparteilichkeit, so edel sie auch war, ließ ihn kalt und distanziert erscheinen für diejenigen, die sich um ihn sorgten. Sie fühlten, als würde er die Bedürfnisse von Fremden über ihre eigenen stellen."

Ich spürte einen Stich des Mitgefühls und einen Hauch von Angst. "Was ist am Ende mit ihm passiert?"

Der alte Mann seufzte tief, sein Blick in die Ferne gerichtet. "Schließlich wurde er von denen verstoßen, die er zu schützen versucht hatte. Sie konnten seine Entscheidungen nicht verstehen, und in ihren Augen war er zu einem Fremden geworden. Die Menschen, die er zu beschützen glaubte, begannen, ihn als Außenseiter zu sehen, als jemanden, der nicht dazugehörte."

Ich runzelte die Stirn, die Geschichte des alten Mannes weckte eine Mischung aus Emotionen in mir. Sie fühlte sich unangenehm vertraut an, ein Echo der Situation, in der ich mich jetzt befand – verstoßen von meiner Familie, ohne jemanden, der an mich glaubte. Das Gewicht ihres Urteils lastete noch immer schwer auf meinen Schultern.

Der alte Mann betrachtete mich nachdenklich, seine Augen verengten sich leicht. "Du siehst jung aus," sagte er, seine Stimme sanft, aber forschend. "Wie alt bist du?"

"Vierzehn," antwortete ich leise, das Wort fühlte sich schwer auf meiner Zunge an.

Die Augen des alten Mannes weiteten sich überrascht. "Vierzehn? Und was machst du hier, an diesem Ort?"

Ich zögerte, die Frage brachte die Erinnerungen an meine jüngste Prüfung zurück. Die Anklage, der Prozess, die Strafe – all das fühlte sich wie ein Albtraum an, aus dem ich nicht erwachen konnte. Ich rang nach Worten, um es zu erklären.

"Wenn du nicht antworten willst, ist das in Ordnung." Der alte Mann erwiderte, den Kopf schüttelnd. Aber er ging nicht weg.

"..."

Als ob er wüsste, dass ich schließlich sprechen würde. Langsam begann ich, die Worte in meinem Kopf zu formen.

"Ich wurde... eines Verbrechens beschuldigt, das ich nicht begangen habe," sagte ich langsam, meine Stimme kaum mehr als ein Flüstern. "Meine Familie hat mir nicht geglaubt. Sie haben mich zur Strafe hierher geschickt, um an der Front zu kämpfen."

Der Gesichtsausdruck des alten Mannes wurde weicher, voller Verständnis und Mitgefühl. "Das ist eine schwere Last für jemanden so Jungen," sagte er leise. "Von der eigenen Familie verstoßen zu werden, in eine Welt der Gewalt und des Todes gestoßen zu werden... das ist ein hartes Schicksal."

Ich nickte, das Gewicht seiner Worte lastete auf mir. "Ich weiß nicht, warum das passiert ist," gab ich zu. "Ich habe versucht, ein guter Sohn zu sein, den Erwartungen meiner Familie gerecht zu werden, aber es war nie genug. Und jetzt bin ich hier, allein und kämpfe um mein Leben."

"Das ist ein trauriges Schicksal," erwiderte der alte Mann und blickte zum Himmel. Es war dunkel, voller Sterne. Die kalte Brise raschelte durch die Bäume und verstärkte die Kälte der Nacht.

Wir saßen schweigend da, die kalte Luft umhüllte uns wie ein Leichentuch. Der alte Mann versuchte nicht, mich zu beruhigen oder falschen Trost zu spenden. Stattdessen sprach er schlicht, seine Stimme trug das Gewicht jahrelanger Erfahrung.

"Die Welt ist oft ungerecht," sagte er. "Es gibt Zeiten, in denen es scheint, als wäre alles gegen dich, wenn du dich fragst, warum die Dinge so geschehen, wie sie es tun. Aber so ist es nun mal. Die Welt ist nicht immer gerecht, und sie ergibt nicht immer Sinn."

Ich schaffte ein kleines Lächeln und schätzte seine Ehrlichkeit. "Ja, das stimmt," sagte ich. "Es ergibt keinen Sinn, aber wir müssen trotzdem weitermachen."

Der alte Mann nickte, seine Augen spiegelten ein gemeinsames Verständnis wider. "Genau. Wir müssen weitergehen, egal wie schwierig es wird."

Ein Moment der Stille verging, bevor ich mich mit einer Frage an ihn wandte, die mir im Kopf herumging. "Wie bist du hierher gekommen?"

Der Blick des alten Mannes veränderte sich, ein ferner Ausdruck in seinen Augen. "Ich war nur ein Bettler auf der Straße, der versuchte zu überleben," begann er. "Ich hatte nicht viel, nur die Kleidung auf meinem Rücken und die Hoffnung, jeden Tag etwas zu essen zu finden. Eines Tages war ich so hungrig, dass ich etwas Essen stahl. Aber leider war das Brot, das ich gestohlen hatte, für den Sohn des Barons bestimmt. Ich wusste es nicht; wenn ich es gewusst hätte, hätte ich so etwas nie getan. Schließlich wurde ich gefasst, und sie schickten mich zur Strafe hierher, da diese Brote nun in meinem Magen waren."

Seine Geschichte war einfach im Vergleich zu der über seinen Freund. Es war seltsam und merkwürdig, aber irgendwie konnte ich nicht herausfinden, was es genau war.

Aber trotzdem, nur wegen etwas Brot war er an diesen Ort geschickt worden.

'Das Leben außerhalb des Herrenhauses ist definitiv anders.'

Zum ersten Mal in meinem Leben hatte ich Kontakt mit jemandem, der nicht mit meiner Familie verbunden und ein einfacher Bürger war.

"Das ist hart," sagte ich leise. "Nur weil du versucht hast zu überleben."

Ich blickte zu den anderen Rekruten hinüber, von denen viele mich noch immer mit Argwohn und Verachtung ansahen. Zum ersten Mal begann ich, ihren Hass zu verstehen. Wenn ich an ihrer Stelle wäre, unter den Launen der Mächtigen leidend, würde ich wahrscheinlich genauso fühlen.

"Kein Wunder, dass sie mich hassen," murmelte ich, mehr zu mir selbst als zu dem alten Mann.

Der alte Mann zuckte mit den Schultern, ein resignierter Ausdruck auf seinem Gesicht. "Das Leben ist manchmal hart. Aber du tust, was du tun musst, um weiterzumachen."

Ich nickte und fühlte eine Art Solidarität mit ihm. Trotz unserer unterschiedlichen Hintergründe waren wir beide hier, standen vor den gleichen Herausforderungen und kämpften um unser Leben.

"Danke, junger Mann," sagte der alte Mann mit einem gelassenen Lächeln.

"Lucavion," antwortete ich und entschied, dass es besser wäre, sich gegenseitig beim Namen zu nennen.

Der alte Mann nickte nachdenklich. "Ah, Lucavion. Ein feiner Name."

"Und wie soll ich dich nennen?" fragte ich, wirklich neugierig.

"Nun," sagte er mit einem Funkeln in den Augen, "du brauchst mich nicht besonders zu nennen. Nenn mich einfach 'alter Mann'."

Aber es schien, dass dieser alte Mann eine seltsame Eigenart hatte.

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