Verschlagenheit

„Lass mich... einfach leben", keuchte die Frau, ihre Stimme zitterte, während ihre Hände erhoben blieben in einer Geste der Kapitulation.

Sie blickte Leo flehend an, ihr tränenverschmiertes Gesicht blutig und bleich, ein wahres Bild der Verzweiflung.

Doch trotz ihrer überzeugenden Darbietung ließ sich Leo von ihrer Vorstellung nicht täuschen.

Er musterte sie abschätzend und blieb kampfbereit, während sein Kopf vor Misstrauen schwirrte.

Etwas an ihrem Flehen nagte an ihm und löste sämtliche Alarmglocken in seinem Kopf aus. Ihre Worte waren zu abgemessen, ihre Bewegungen zu kalkuliert.

Sie war eine Füchsin, eine hinterhältige Lügnerin, wenn Leo je eine gesehen hatte, und obwohl er sich nicht erinnern konnte, ob er jemals jemandem wie ihr begegnet war, versicherte ihm etwas in seinem Inneren, dass ihr nicht zu trauen war.

‚Sollte ich sie gehen lassen?', fragte er sich kurz, nur damit sich eine Stimme tief in ihm regte – ein kaltes, urtümliches Flüstern, das sagte:

Traue niemandem.

Es war nicht das erste Mal, dass diese Stimme während des Tests aufgetaucht war, und mit der Zeit hatte Leo eines über sie gelernt: Die Stimme lag nie falsch.

Er verstärkte seinen Griff um seinen Dolch, sein Körper wurde noch angespannter.

Wenn sie verzweifelt war, dann war sie gefährlich, denn Verzweiflung brachte Menschen oft dazu, ohne zu zögern zu lügen, zu betrügen und zu töten.

„Wenn du leben willst", sagte Leo schließlich mit gleichmäßiger und emotionsloser Stimme, „nimm langsam deinen Teleportationskristall heraus und zerdrücke ihn. Du wirst aus dem Wettbewerb teleportiert – lebend."

Die Frau blinzelte, ihr Atem stockte, als hätte sie diese Antwort nicht erwartet.

Es war ein kluges Angebot. Wenn sie wirklich nicht ihren Partner an ihrer Seite hatte und nur lebend die Gefängnisterrasse verlassen wollte, war das Zerdrücken des Teleportationskristalls der schnellste und einfachste Ausweg.

Allerdings gab ihr Widerwillen, dies zu tun, Leo die Gewissheit, die er brauchte, um zu bestätigen, dass das Verlassen des Tests nicht ihre wahre Absicht war.

Wahrscheinlich hoffte sie, nach ihrer Flucht ihren Partner zu finden, sich neu zu formieren und stärker zurückzukehren. Sie hatte nicht die Absicht, den Eingangstest jetzt schon aufzugeben.

Leo beobachtete ihre Körpersprache sorgfältig und bemerkte, wie ihre Schultern absackten und ihr Körper bei seinem Angebot zusammensank, als hätte das Gewicht seiner Forderung ihre verbliebene Kraft aufgezehrt.

Anstatt jedoch zu protestieren, stimmte sie schlau zu und tat so, als ob sein Vorschlag absolut sinnvoll wäre.

„Ich... okay", sagte sie leise und nickte, während sie ihre zitternde Hand in Richtung ihrer Tunikatasche bewegte.

Obwohl es schien, als wäre sie bereit zu gehorchen, entspannte sich Leo nicht.

Seine scharfen Augen blieben auf jede ihrer Bewegungen fixiert und beobachteten wie ein Habicht die bewusste Langsamkeit ihrer Hand.

In diesem Moment bemerkte er das schwache Flackern in ihren Augen – ein Flackern, das ihre wahren Absichten verriet.

Sie spielt auf Zeit.

Die Erkenntnis traf ihn wie ein Schraubstock. Seine Knöchel wurden weiß um den Griff seines Dolches, als seine Instinkte lauter schrien.

Ihr Zögern, ihre subtilen Blicke – das waren nicht die Handlungen einer Besiegten. Sie kalkulierte, suchte nach einer Öffnung.

Schließlich zog sie den Teleportationskristall heraus und hielt ihn hoch, als wäre sie bereit, seinen Anweisungen zu folgen. Aber gerade als ihre Finger sich um ihn zu schließen schienen, spielte ein sanftes Lächeln um ihre Lippen, und sie formte mit den Lippen die Worte „Dunkler Nebel".

Im nächsten Augenblick explodierte Dunkelheit um sie herum, ein wirbelnder Nebel, der die Terrasse binnen Sekunden verschlang.

Die Luft wurde dicht, dicke Schatten wanden sich um sie wie lebendige Ranken und löschten jede Sicht aus.

Leo taumelte zurück, seinen Dolch hoch erhoben und mit pochendem Herzen. „Felix!", bellte er, seine Stimme durchschnitt den unnatürlichen Dunst. „Bleib wachsam!"

„Was zum Teufel ist das?!", antwortete Felix, seine panische Stimme hallte aus der Ferne wider, sein Ton von Angst durchzogen.

Er stolperte rückwärts, der Nebel schloss sich um ihn, erstickte seine Sicht, während er dichter wurde.

Die Lippen der Frau kräuselten sich zu einem höhnischen Lächeln, als sie sich lautlos durch den Nebel bewegte. Ihr Puls donnerte in ihren Ohren, ihre Atemzüge waren flach und abgehackt. Sie hatte eine letzte Chance, einen verzweifelten Zug, um das Blatt zu ihren Gunsten zu wenden.

‚Ich habe nur genug Mana für eine Fähigkeit – diesen Dunklen Nebel. Ich muss ihn optimal nutzen', dachte sie, während sie ihren Griff um ihre Klinge verstärkte.

‚Der Dicke. Er ist das schwache Glied. Schalte ihn aus, und der andere bricht zusammen.'

Ihr Körper brannte vor Schmerz, ihre Wunde schrie bei jedem Schritt, den sie machte, aber sie trieb sich weiter voran, angetrieben von reiner Willenskraft.

Mit einem Ausbruch von Geschwindigkeit stürmte sie auf Felix zu, ihre Klinge bereit für einen letzten, verzweifelten Schlag.

Doch bevor sie ihn erreichen konnte, durchzuckte ein scharfer, brennender Schmerz ihren Rücken. Ihre Augen weiteten sich vor Schock, als ihr Körper erstarrte.

Bumm.

Sie brach zusammen, von der Taille abwärts gelähmt, als sie das scharfe Gefühl eines Dolches spürte, der fest in ihrem Rückgrat steckte.

‚Aber wie? Wie konnte er mich durch den Nebel treffen?', fragte sie sich, ihr Verstand leerte sich vor Schmerz, als ein Schrei ihren Lippen entwich.

Sie war sicher gewesen, dass ihre [Dunkler Nebel]-Fähigkeit Leos Sicht effektiv blockiert hatte, sodass es ihm unmöglich war, ihren Standort zu bestimmen.

Aber sie hatte ihn unterschätzt.

Von Anfang an misstrauisch ihr gegenüber, hatte Leo ihren Blick und ihre Körpersprache genau verfolgt und ihre Absichten vorausgeahnt, noch bevor sie ihren Angriff auf Felix startete.

Selbst durch den Nebel hatte Leo eine ungefähre Vorstellung davon, wo sie sein könnte, und schleuderte ein paar Dolche in diese Richtung, wobei der zweite sein Ziel in ihrem Rückgrat fand.

Wäre er an der Stelle der Frau gewesen, hätte auch er Felix ins Visier genommen, in der Hoffnung zu überleben, und genau diese Logik half ihm jetzt, sie auszuschalten.