Während der ersten dreißig Minuten des Tests wagte sich niemand in ihren Korridor.
Leo hockte nahe der Wand, seinen Dolch locker in der Hand, während seine scharfen Augen auf den schwach beleuchteten Gang vor ihm gerichtet blieben.
Er erwartete jeden Moment einen Hinterhalt, was seine Nerven anspannte, aber die Stille hier war tief – unnatürlich tief.
Gelegentlich drangen schwache Geräusche aus nahegelegenen Korridoren herein: hastige Schritte, gedämpfte Schreie, das Klirren von Metall auf Metall. Aber niemand kam diesen Weg entlang.
Felix' Wahl war gut gewesen – besser als Leo erwartet hatte. Dieser Korridor war offen, exponiert, und es war leicht, jemanden zu erkennen, der sich von beiden Enden näherte.
Es war kein Paradies für Hinterhältige, noch versprach es schnelle Kills.
'Felix ist ein Genie', dachte Leo.
Raubtiere bevorzugten Schatten und versteckte Ecken, was sie instinktiv diesen Ort meiden ließ, der wie ein Laufsteg war, mit Beleuchtung auf beiden Seiten.
In seiner Handfläche leuchtete der Testzähler schwach, und die angezeigten Zahlen zählten weiter herunter, während die Minuten verstrichen.
1250 → 1020 → 900 → 850
Achthundert Menschen – vierhundert Paare – wurden in nur dreißig Minuten eliminiert.
Es war ein Beweis dafür, wie brutal dieser Aufnahmetest wirklich war, da die wahnsinnigen Killer auf voller Jagd zu sein schienen.
*Seufz*
In der Stille sitzend, stieß Leo einen tiefen Seufzer aus, während er den Zähler noch einen langen Moment anstarrte, bevor er ihn schließlich zurück in seine Tasche steckte.
Neben ihm saß Felix im Schneidersitz auf dem staubigen Boden und klammerte sich an einen seiner übergroßen Alkoholschläuche wie an einen Rettungsanker. Seine runden Wangen glänzten mit frischen Tränenspuren, und seine Lippen zitterten, als er vor sich hin flüsterte.
"Auf Wiedersehen, Onkel Terrance... Auf Wiedersehen, Tante Magda... Auf Wiedersehen, Sir Swimsalot... du warst so ein mutiger Fisch..."
Leos Augenbraue zuckte leicht, aber er sagte nichts.
"Und auf Wiedersehen an Soße die Katze... obwohl du mich gehasst hast... ich habe dich trotzdem geliebt, Kumpel..." Felix schniefte und wischte sich die Nase mit seinem Ärmel ab.
Leo riskierte einen Blick zu ihm. Der Junge starrte ins Leere, seine Lippen zitterten, als ob er sein letztes Testament abgeben würde.
"...und ich konnte nicht einmal meine Käseplatte gestern Abend aufessen. Eine Tragödie. Wirklich."
Ein leises Kichern entwich Leo, bevor er sich fing und es schnell mit einem Husten überdeckte. Felix' Melodramatik war lächerlich – aber sie machte die schwere Stille etwas erträglicher.
'Er ist laut. Zu laut. Aber... harmlos.'
Leo richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf die Dolche in seinen Händen. Es waren Standardwaffen, ausgewogen und scharf, doch sie fühlten sich vertraut an – bequem, wie eine Verlängerung seines Arms.
Ohne nachzudenken passten seine Finger den Griff an, und sein Handgelenk ließ die Klinge leicht zucken. Die Bewegung war instinktiv – mühelos.
Es war nichts, worüber er nachdenken musste; es war etwas, das er wusste.
'Das... das fühlt sich richtig an.'
Leo wirbelte den Dolch einmal herum und beobachtete, wie die Klinge das blasse Flackern der Leuchtstoffröhren einfing.
"Ich weiß, wie man das hält. Ich weiß, wie man es benutzt. Aber... macht mich das zu einem Killer?" fragte sich Leo und runzelte leicht die Stirn bei dieser Frage.
Die Antwort hätte einfach sein sollen. Aber das war sie nicht.
Irgendwo tief in seinem Inneren spürte Leo es – eine Grenze, eine Linie, die er sich nicht vorstellen konnte zu überschreiten. Er hatte nicht denselben Hunger in seiner Brust wie die anderen, die er heute gesehen hatte.
Wenn er ein Killer war, dann keiner, der von Wahnsinn oder Blutdurst getrieben wurde.
Wenn er ein Killer war, dann verdammt nochmal keiner, der einfach nur aus Freude tötete.
Das wusste er, auch wenn er keine Erinnerungen hatte.
*Bumm* *Bumm*
Ein schwaches Geräusch unterbrach seinen Gedankengang.
Es war nicht viel – nur das leise Kratzen von Stiefeln auf dem Betonboden – aber es reichte aus. Leos Kopf schnellte hoch, seine scharfen Augen verengten sich, als seine Sinne sich auf die Richtung des Geräusches konzentrierten.
"Bleib ruhig," flüsterte er, kaum hörbar, während seine Hand herausschoss, um Felix mitten im Zusammenbruch zu stoppen.
Felix erstarrte, seine weit aufgerissenen Augen huschten nervös zum fernen Ende des Korridors.
Das schwache Geräusch wurde lauter, deutlicher, als zwei Schrittfolgen erkennbar wurden.
"Zwei Gegner" gestikulierte Leo in Richtung Felix, ohne einen Laut von sich zu geben, während Felix nervös nickte.
Bald flackerten Schatten an den Wänden, als die sich nähernden Gestalten ins Licht der Leuchtstoffröhren traten, ihre Stimmen leise, aber hörbar.
"Bist du sicher wegen diesem Gang?" murmelte einer von ihnen, sein Ton von Unbehagen durchzogen. Er war ein großer, drahtig aussehender Kerl mit einer üblen Säureverbrennung, die über seinen Kiefer lief. In seiner Hand hielt er eine lange, dünne Klinge, die unter den flackernden Lichtern glänzte.
Die zweite Gestalt, ein stämmiger Mann mit einem dicken Hals und einem Streitkolben über der Schulter, schnaubte abweisend über die Sorge seines Partners.
"Entspann dich. Das ist das perfekte Versteck, niemand kann uns hier überfallen, ohne uns zu alarmieren. Wir können hier mindestens eine Stunde ausruhen und uns erholen, bevor wir wieder losziehen."
Der vernarbte Mann zögerte, seine Augen scannten den Korridor. "Trotzdem... Es ist riskant. Was, wenn jemand anderes am Ende lauert und darauf wartet, dass wir in seine Falle tappen?"
Der stämmige Mann lachte, das Geräusch kratzte an der bedrückenden Stille. "Ich habe Wache gehalten und in den letzten 20 Minuten keine Menschenseele hier reinkommen sehen. Du bist paranoid."
Als sie näher kamen, drückte sich Leo flach gegen die Wand, sein Atem langsam und kontrolliert. Der Dolch in seiner Hand fühlte sich zappelig an, als er sich leicht vorbeugte, um um die Ecke zu spähen.
Die beiden Gestalten waren jetzt nicht mehr als zwanzig Fuß entfernt. Ihre Schritte hallten leise wider, begleitet vom gelegentlichen Knarren der verfallenden Gefängnisstruktur.
Leos Blick verfolgte ihre Bewegungen, analysierte ihre Waffen und Haltungen. Der drahtige Mann ging leicht, seine Klinge in einem Winkel gehalten, bereit für einen schnellen Stoß. Der Stämmige trug sich mit der lässigen Zuversicht von jemandem, der glaubte, nicht übertroffen werden zu können.
Sie waren Raubtiere, ohne Zweifel – aber das war Leo auch. Oder zumindest hoffte er das.
Als Leo sich auf den Angriff vorbereitete, entwich hinter ihm ein unerwarteter, leiser, hoher Schrei.
Es war Felix.
Das Geräusch war kaum lauter als ein Atemzug, aber es prallte wie ein Schuss von den Korridorwänden ab und zwang die beiden Gestalten, wie angewurzelt stehen zu bleiben.
Die Augen des vernarbten Mannes verengten sich, seine Klinge bewegte sich leicht. "Hast du das gehört?"
Der Griff des stämmigen Mannes um seinen Streitkolben verstärkte sich, als er einen vorsichtigen Schritt nach vorne machte. "Ja... ich habe es gehört."
Ihre Blicke schnellten zu der verdunkelten Ecke, in der Leo und Felix versteckt waren, ihr vorheriger lässiger Ansatz war verschwunden.
"Wer ist da?" fragte der stämmige Mann mit rauer Stimme, während Leo lautlos vor sich hin fluchte.
Ihre größte Stärke, das Überraschungsmoment, war nun vergeudet worden.