Leo bewegte sich mit der langsamen, schlurfenden Reihe von Teilnehmern vorwärts, seine Stiefel glitten lautlos über den rissigen Beton, während er sich bewegte, ohne ein einziges Geräusch zu machen.
Es war nichts, was Leo bewusst tat, sondern vielmehr eine reflexartige Anmut, die aus Instinkt und jahrelangem Training geboren wurde, nicht aus Überlegung.
Die verlassene Gefängnisanlage erstreckte sich vor ihm, weitläufig und bedrückend in ihrer verfallenden Größe.
Wenn Leo anfangs irgendwelche Zweifel hatte, in einer gefängnisähnlichen Anlage zu sein, verschwanden sie in dem Moment, als er einen klareren Blick auf das Testgelände bekam – da die hohen Zäune, der verrostete Stacheldraht und die imposanten Wachtürme keinen Raum für Unsicherheit ließen.
Der Hof, in dem er stand, war weitläufig und rechteckig, umgeben von hohen Betonmauern auf allen Seiten. Rostflecken liefen wie altes Blut die Risse in den Wänden hinunter, und schwache Brandspuren deuteten auf längst erloschene Feuer hin.
Darüber ragten in regelmäßigen Abständen Wachtürme auf, ihre Stahlgerüste skelettartig und verwittert. Dunkle Gestalten bewegten sich hinter getönten Glasfenstern, ihre Silhouetten kaum sichtbar. Scharfschützenläufe fingen gelegentlich das Licht ein, eine erschreckende Erinnerung an unsichtbare Augen, die jede ihrer Bewegungen beobachteten.
Der Ort fühlte sich an wie ein Friedhof der Autorität, des Lebens beraubt, aber schwer mit Echos seiner brutalen Vergangenheit.
Leos scharfe Augen huschten über jedes Detail, kartierten das Gelände, die Engpässe, die Ausgänge. Der Instinkt trieb ihn dazu, nach erhöhten Positionen, toten Winkeln und Orten zu suchen, an denen jemand einen Hinterhalt legen könnte.
Aber bevor er seine Gedanken sammeln konnte, zerriss das scharfe Dröhnen eines Horns die Stille.
DRÖHN!
Dem Geräusch folgend drehte sich jeder Kopf in Richtung der großen erhöhten Plattform, die die Mitte des Hofes dominierte.
Darüber hing eine massive digitale Countdown-Uhr, aufgehängt an dicken Stahlkabeln, ihre leuchtend roten Zahlen bei 20:00 eingefroren, wie eine stumme Warnung glühend.
Kurz nachdem das Horn ertönte, trat ein großer Mann in einem knackigen Militärmantel auf die Plattform vor. Seine dunkle Uniform trug silberne Insignien, und über seine Brust war in präzisen Buchstaben sein Titel gestickt:
Kommandant Rourke – Leitender Ausbilder für verdeckte Taktiken und Tarnoperationen.
Seine grauen Augen musterten die Menge unter ihm mit einer kalten, berechnenden Schärfe, und als er sprach, trug seine Stimme über den Hof, stetig und befehlend.
"Elite-Attentäter-Sämlinge. Das seid ihr jetzt – nicht mehr und nicht weniger."
Die Menge stand wie erstarrt, den Atem anhaltend, während Rourkes durchdringender Blick über sie hinwegfegte.
"Ihr steht heute hier am Rande von etwas, das weit größer ist als ihr selbst. Jenseits dieses Eingangstests liegt die Möglichkeit, in die Rodova Militärakademie einzutreten – ein Ort, der nur den besten Kriegern des Universums vorbehalten ist. Diejenigen von euch, die diesen Test heute überleben, werden sich in die Reihen der besten Attentäter der Geschichte einreihen, während der Rest... vergessen sein wird."
Rourke hielt inne und ließ das Gewicht seiner Worte wirken.
"Die anderen Abteilungen wie Schwertkampf und Bogenschießen haben ihre eigenen Prüfungen – Prüfungen, bei denen keine Leben verloren gehen. Aber ihr – Assassinen – habt diesen Luxus nicht. Denn so ist das Leben eines Attentäters. Jeder Schritt, den ihr macht, jeder Atemzug, den ihr nehmt, jeder Schatten, in den ihr tretet, könnte euer letzter sein. Ihr hängt immer an einem seidenen Faden, und daher ist auch euer Eingangstest entsprechend gestaltet."
Eine Welle ging durch die Menge – einige Teilnehmer versteiften sich, während andere vorsichtige Blicke austauschten.
"Es gibt 2.500 von euch, die ausgewählt wurden, heute hier zu sein, gerade genug, um 1.250 Paare zu bilden.
Am Ende dieses Tests werden jedoch nur 125 Paare das Recht erhalten, durch die Tore der Akademie zu treten, wobei eure Auswahl genauso von der Leistung eures Partners abhängt wie von eurer eigenen.
Der Tod eures Partners bedeutet eure Disqualifikation. Verwechselt das nicht mit Loyalität oder Freundschaft – es ist Überleben. Wenn euer Partner stirbt oder den Test abbricht, scheitert ihr. Einfach."
Nach dieser düsteren Botschaft hob Rourke eine behandschuhte Hand, und zwei Assistenten in passenden Uniformen betraten die Plattform und trugen kleine schwarze Kisten.
"Jeder von euch wird zwei Geräte erhalten, die euch bei diesem Test helfen werden."
Die Assistenten bewegten sich durch die Menge und verteilten die Gegenstände. Leo kam an die Reihe, nahm die beiden Objekte an und inspizierte sie:
Das erste Gerät, bezeichnet als 'Zähler', fühlte sich glatt an mit einem leuchtenden digitalen Display, das die Zahl 1250 anzeigte.
Das zweite Gerät, eine kleine, glasartige Kugel, war als 'Teleportationskugel' gekennzeichnet und fühlte sich kalt und zerbrechlich in seiner Handfläche an.
Gerade als Leo begann, das Interesse an den Objekten in seiner Hand zu verlieren, erhob sich Rourkes Stimme erneut.
"Der Zähler wird euch darüber informieren, wie viele Paare noch übrig sind. Die Teleportationskugel ist euer Ausweg – zerdrückt sie, und ihr werdet sofort aus dem Testgelände teleportiert. Aber wisst dies: Sie zu benutzen bedeutet Disqualifikation, sowohl für euch als auch für euren Partner."
Rourkes scharfer Blick verweilte auf der Menge.
"Ihr habt jetzt 20 Minuten, um einen Partner zu finden. Danach beginnt der Test. Wenn ihr es nicht schafft, euch zu paaren, werdet ihr Konsequenzen tragen, bevor die erste Phase überhaupt beginnt."
Mit einer scharfen Bewegung trat Rourke zurück.
Über ihm flackerte die Countdown-Uhr, die über der Bühne hing, zum Leben.
20:00
19:59
19:58
Und als Ergebnis brach der gesamte Hof in Bewegung aus.
*********
Die Teilnehmer zerstreuten sich wie Insekten, stürzten aufeinander zu, riefen, verhandelten und drohten.
Einige schnappten sich die nächstbeste Person, die sie finden konnten. Andere durchstreiften die Menge, ihre Augen scannten nach jemandem, der stark, fähig oder – zumindest – nützlich aussah.
An isolierten Stellen brachen Kämpfe aus, als Teilnehmer andere von potenziellen Partnern wegstießen.
Leo blieb still, seine scharfen Augen huschten über die Menge, während seine Instinkte ihn anschrien, weise zu wählen.
Einige Sekunden nach Beginn der Auswahl bahnte sich ein bulliger Schläger seinen Weg durch kleinere Teilnehmer und grinste ihn mit blutunterlaufenen Augen an, doch Leo ignorierte ihn völlig.
Sein Blick war stattdessen auf ein schlankes Mädchen mit Messern über der Brust gerichtet, aber als sie Blickkontakt mit Leo aufnahm, wich sie sofort zurück und lehnte ihn stillschweigend ab.
Leos Gedanken rasten. Wem konnte er vertrauen? Wer würde sich nicht gegen ihn wenden, sobald es bequem wurde?
Seine Hand umklammerte den Zähler in einer Handfläche und die Teleportationskugel in der anderen.
19:05
19:04
19:03
Die Sekunden verrannen, und jedes Ticken der Uhr fühlte sich an wie ein Hammer, der gegen seinen Schädel schlug.
Leo knirschte mit den Zähnen und trat einen Schritt vor.
Er hatte 20 Minuten, um eine Entscheidung zu treffen, die Leben oder Tod bedeuten könnte.
Aber als er gerade anfangen wollte zu wählen, regte sich tief in seiner Brust derselbe Instinkt wieder – scharf, kalt und vertraut.
Überleben. Vertraue niemandem.