Sorayah schluckte schwer, weigerte sich jedoch, sich zu bewegen.
Dimitris Hand blieb in ihrem Haar verflochten, sein Griff fest, aber nicht schmerzhaft, hielt sie an Ort und Stelle und stellte sicher, dass sie genau wusste, wer die Kontrolle hatte.
Sich loszureißen war keine Option.
Sie schätzte ihr Leben.
Egal wie sehr sie sich danach sehnte, einen Dolch in sein Herz zu stoßen, wusste sie, dass sie auf den perfekten Moment warten musste.
Einen Mann wie ihn zu töten, erforderte mehr als nur Wut.
Es erforderte Präzision.
Geduld.
Eine plötzliche Stimme durchbrach die dicke Stille.
"Beta Lord Dimitri."
Ein Soldat. Sein Ton respektvoll, doch dringend.
"Wir haben eine Nachricht erhalten. Die Krönung Seiner Königlichen Hoheit, des Alpha Kaisers, ist für morgen früh angesetzt, gefolgt von seiner Hochzeit. Es gibt einen Befehl, dass wir vor Tagesanbruch mit den Sklaven im Palast sein sollen. Sie sind Teil der Hochzeitsgeschenke."
Bei diesen Worten glitten Dimitris Finger aus ihrem Haar und ließen sie los.
Seine Aufmerksamkeit verlagerte sich, sein Blick wanderte zum Eingang des Zeltes, kalt und berechnend.
"Verstanden." Sein Ton war scharf, unnachgiebig. "Wir brechen jetzt auf. Mach alle bereit. Wenn jemand die Reise verlangsamt... töte ihn."
Ohne einen weiteren Blick auf Sorayah zu werfen, schritt er aus dem Zelt und ließ sie allein zurück.
Ihr Körper blieb starr, aber es war nicht aus Angst. Es war etwas viel Tödlicheres.
Die Erwähnung des Alpha Kaisers entfachte ein weiteres Feuer in ihr.
Er war derjenige, den sie wirklich töten wollte.
Mehr als Dimitri.
Mehr als jeden anderen.
Der Mann, der ihr Herz gestohlen hatte.
Der Mann, der sie verraten hatte.
Ein grober Stoß eines Soldaten riss sie zurück in die Realität.
Sorayah schreckte aus ihren Gedanken auf, als sie aus dem Zelt gedrängt wurde, ihr Blick schweifte über ihre Umgebung, bis sie sie bemerkte.
Eine Reihe großer Holztruhen.
Die Werwolf-Armee hatte gerade ein weiteres Menschenreich erobert und nicht nur Sklaven, sondern auch Reichtum, Vorräte und wertvolle Ressourcen erbeutet. Gold, Artefakte, feine Seide – alles von Wert.
Aber unter ihrer Beute war noch etwas anderes.
Medizin.
Es war üblich, dass hochrangige Offiziere die feinsten Güter für sich behielten, bevor sie die wahren Schätze der königlichen Familie präsentierten.
Und wenn sie Recht hatte...
Dann war das, was sie brauchte, in einer dieser Truhen.
Da alle mit den Vorbereitungen beschäftigt waren, war dies ihre Chance.
Ihre einzige Chance.
Mit hämmerndem Herzen stürzte sie zu den Kisten, ihre Finger fummelten an den schweren Deckeln. Die ersten waren mit Reichtümern gefüllt, Juwelen, schimmernden Stoffen, Stapeln von Goldmünzen, die im schwachen Kerzenlicht glänzten.
Sie schenkte ihnen kaum einen Blick.
Nicht das, was sie brauchte.
Sie ging zur nächsten.
Dann zu einer weiteren.
Ihre Hände zitterten, als sie eine letzte Truhe öffnete, bis ihr der Atem stockte.
Darin, zwischen verschiedenen Vorräten versteckt, war genau das, wonach sie gesucht hatte.
Heilkräuter.
Ihre Finger strichen über die getrockneten Blätter, jedes einzelne erkennend. Ihre Wirksamkeit. Ihren Wert.
Und dann fiel ihr Blick auf etwas Seltenes.
Eine einzelne Pflanze.
Leuchtend grün, ihre Blütenblätter glänzten wie Morgentau.
Die Grüne Lebenspflanze.
Sorayah atmete scharf ein.
Das ist es.
Ihre Hände umschlossen sanft den zarten Stängel.
Dies wird Lily retten.
Sie verlor keine Zeit, wickelte das Kraut sicher in die Falten ihrer Kleidung. Sie stellte sicher, dass es gut versteckt war, bevor sie aus dem Zelt schlüpfte und sich leise wieder den anderen anschloss.
"Zeit zu gehen!" bellte ein Wächter, seine Stimme durchschnitt die schwere Stille.
Sofort begannen die Gefangenen sich zu bewegen, ihre müden Körper schleppten sich in unsicheren Schritten vorwärts.
Sorayah fiel zurück in Position, ihre Hände umklammerten die rauen Holzgriffe der Schubkarre, in der Lily regungslos lag. Schweiß perlte auf ihrer Stirn, als sie einen schnellen Blick umherwarf.
Niemand beobachtete sie.
Ihre Chance nutzend, zog sie diskret das Kraut hervor, führte es an ihre Lippen, bevor sie es in ihren Mund gleiten ließ.
Der Geschmack traf sie sofort.
Bitter. Überwältigend.
Es war abstoßend, wie das Schlucken von roher Erde und Metall. Aber es gab keine Wahl.
Sie konnte es sich nicht leisten, zu warten, bis sie im Palast ankamen, um die Medizin ordnungsgemäß zuzubereiten. Es gab keine Zeit, die Blätter zu zerdrücken, keine Werkzeuge, um sie zu einer Paste zu mahlen.
Dies war der einzige Weg.
Sie kaute schnell, ihr Kiefer spannte sich gegen den Geschmack an, bis die Blätter zu einem dicken Brei wurden. Dann, mit geübter Leichtigkeit, griff sie nach unten und drückte die Mischung vorsichtig gegen Lilys Wunden.
Sie betete nur, dass es rechtzeitig wirken würde.
∆∆∆
Die Reise zum Palast war qualvoll.
Während die Werwolf-Soldaten auf Pferden ritten, wurden die menschlichen Gefangenen gezwungen, zu Fuß zu marschieren. Diejenigen, die zu schwach waren, um mitzuhalten, wurden entweder ausgepeitscht, bis sie bluteten, oder an Ort und Stelle getötet.
Sorayah bewegte sich weiter.
Atmete weiter.
Aber ihr Herz schmerzte mit einem Schmerz so tief, dass es sich anfühlte, als könnte er sie von innen heraus zerreißen.
Sie weinte nicht.
Sie weigerte sich, eine einzige Träne zu vergießen.
Ihr Königreich war in nur einem Tag gefallen.
Sie ballte ihre Fäuste, Nägel gruben sich in ihre Handflächen, als sie still schwor:
Eines Tages werden sie vor mir fallen. Eines Tages werde ich auf ihrem Blut wandeln.
"Wir sind angekommen!" verkündete ein Wächter triumphierend, seine Stimme hallte laut über die schlurfende Menge.
Der Anblick vor ihnen raubte Sorayah den wenigen Atem, der noch in ihren Lungen verblieben war.
Hohe Gebäude aus weißem Marmor und Gold erstreckten sich hoch in den Himmel, ihre komplizierten Schnitzereien glitzerten unter der Morgensonne. Die Stadt pulsierte vor Leben, Werwölfe in ihrer menschlichen Form schlenderten durch die Straßen, lachten, handelten, gingen ihrem Tag nach, als ob nichts sich verändert hätte.
Als ob sie nicht ein ganzes Königreich abgeschlachtet hätten.
Die Gefangenen wurden tiefer in die Stadt geführt, vorbei an großen Bauwerken und geschäftigen Märkten, bis der massive Palast vor ihnen aufragte wie ein unbewegliches Biest. Aber anstatt durch die vergoldeten Vordertore geführt zu werden, wurden sie wie Vieh zum Hintereingang getrieben.
Ein Ort für Sklaven.
Der Unterschied war stark.
Im Gegensatz zur atemberaubenden Pracht der Hauptstadt war diese Seite des Palastes stumpf, kahl, von Schönheit und Wärme entblößt. Die Steinmauern waren schlicht, der Boden trocken und rissig.
Es musste niemandem gesagt werden, was dieser Ort war.
Es war offensichtlich.
Menschen, die hier eintraten, waren nichts als Eigentum.
In dem Moment, als sie die Schwelle überquerten, wurden die Männer von den Frauen und Kindern weggerissen, zu einem unbekannten Schicksal geschleppt.
Schreie brachen um sie herum aus.
Einige Frauen brachen zusammen, klammerten sich an ihre Ehemänner, ihre Söhne, bettelten, schluchzten. Ihre Stimmen zerbrachen vor Kummer. Aber ihr Schmerz bedeutete den Werwölfen nichts.
Einige wagten es, sich zu wehren, ihre Wut brannte hell in ihren Schreien.
Es war das letzte Geräusch, das sie je machten.
Eine scharfe Klinge.
Ein sauberer Schnitt.
Und ihre Köpfe rollten zu Boden.
Die übrigen Frauen schluckten ihre Tränen hinunter und zwangen sich zum Schweigen.
Sie wussten es besser, als das gleiche Schicksal zu erleiden.
Der Marsch ging weiter, führte sie in die Tiefen des Palastes. Die Luft wurde mit jedem Schritt schwerer, dick mit unausgesprochener Angst.
Schließlich, nach einer gefühlten Ewigkeit, kamen sie an einem bescheiden eingerichteten Gebäude an und wurden hineingeführt.
In dem Moment, als Sorayah durch die Tür trat, veränderte sich etwas.
Nicht nur in ihr, sondern in der Luft selbst.
Ein dicker Blumenduft umhüllte sie, süßlich, fast erstickend. Er füllte ihre Lungen, ließ ihren Kopf für einen Moment kreisen, bevor sie sich anpasste.
Sie blinzelte, ihr Blick schweifte durch den Raum.
Ein Badehaus.
Große Becken mit dampfendem Wasser erstreckten sich über die Kammer, ihre Oberflächen schimmerten mit schwimmenden Blütenblättern. Die Wände waren gesäumt von verschleierten Frauen, gekleidet in passenden blauen Röcken und Oberteilen, ihre Gesichter teilweise verdeckt, was ihre Ausdrücke unleserlich machte.
Ihr dunkles Haar war mit zarten Ornamenten geschmückt, die im sanften Kerzenlicht glitzerten. Sie standen neben den Bädern, ihre Haltung aufrecht, ihre Blicke in stiller Gehorsamkeit gesenkt.
Sorayah schenkte ihnen kaum einen Blick.
Denn etwas anderes... jemand anderes hatte ihre Aufmerksamkeit gefangen.
Am anderen Ende des Badehauses, in einen schwarzen Pelzmantel gehüllt, saß eine Gestalt, die sie kannte.
Die obere Hälfte seines Gesichts war maskiert, aber sie musste es nicht sehen, um es zu wissen.
Ihre Hände ballten sich an ihren Seiten.
Ihr Herz hämmerte gegen ihre Rippen.
Dimitri.